Peter Geist Too much Lyrische
Großversuche: Durs Grünbein, Vom Schnee, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2003;
Hans Magnus Enzensberger, Die Geschichte der Wolken, 99 Meditationen, Suhrkamp
Verlag Frankfurt a.M. 2003. Aus der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Menscheitsgeschichte heute die Zahl der Lebenden die Zahl der Toten übersteige, leitete Heiner Müller Mitte der neunziger Jahre die rasante Entwertung geschichtlichen Herleitungsbedürfnisses zugunsten eines Bricolagebewußtseins her, das Geschichte zunehmend als Spielbaukasten beliebiger Verfügbarkeit betrachtet. Bestätigt und verstärkt wird dieser Effekt durch die fernsehgerechte Zerlegung geschichtlicher Zusammenhänge in halb private Sagas, wie sie exemplarisch Geschichtentalker Guido Knopp vorführt. Insofern steht die dichterische Anmutung Durs Grünbeins quer zum „Zeitgeist“, dichterische Tiefensonden ausgerechnet in die römische Kaiserzeit, die griechische Hochantike oder, wie in seinem neuen Verepos „Vom Schnee“, in die Vor-Schwellenzeit der Moderne zu schicken, um in prismatischen Brechungen der eigenen Existenz auf die Spur zu kommen. Sein alter ego ist diesmal René Descartes, jener Philosoph, von dem der Rationalismus des modernen europäischen Denkens seinen Ausgang nahm. Grünbein umreisst in seinen 42 streng in jeweils 7 Strophen á 10 Versen komponierten Gesängen zwei grandiose Situationstableaus, die im Hauptteil (31 Cantos) den 23-Jährigen in einem Dorf bei Ulm im Winter 1619/20 und dann den sterbenden Philosophen am Schwedischen Hof 1650/51 zeigen. Grünbein schöpft das reiche Assoziationsangebot des Wortes „Schnee“ aus, um an diesem Leitwort entlang umfängliche Wahrnehmungs- und Entdeckungsgänge zu unternehmen. Schnee als weiße Fläche der tabula rasa, die weiße Kälte als Metonym für rationales, affektfreies Forschen, der Schneekristall als Beispiel für ästhetische Perfektion, Schnee als Korrespondenz zum Weißen im Auge, der Schnee als „abstraktes Weiß“: „Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht/ Für die Vernunft.“ Im
Großen und Ganzen entfaltet sich das Poem an drei intentionalen Grundsträngen: Ein
erster ist anthropologisch zentriert: Auf Descartes lässt sich mit guten Gründen
jene Ganzheitlichkeit menschlicher Vermögen projizieren, die dem heillos
zerrissenen Zeitgenossen nur mehr als Traum, Sehnsucht oder Utopierest zu Gebote
steht. Deshalb fasziniert Descartes` Versuch, Körper, Geist, Philosophie und
Natur auf einen unbezweifelbaren Grund zurückzuführen. Grünbein zu den Gründen,
den Denker des 17. Jahrhunderts als alter ego zu wählen: „Mich interessiert
dieses Dreieck aus Philosophie, naturwissenschaftlichem Denken und
Literaturpoesie. Und dafür ist Descartes sozusagen der geeignete Protagonist,
um das alles wieder in einer Person zu bündeln.“ Eine
zweite Intentionslinie ist ästhetisch-poetologisch grundiert, vom Schneeweißen
des Papiers vor dem kreativen Schöpfungsakt her. In seinem erwähnten Essay
nimmt Grünbein die üblichen Plapperfragen nach Lesungen („Warum schreiben
Sie?“, „Kann man davon leben?“ etc.) zum Anlaß, um die inhärenten Kränkungen
hochgemut mit einer erneuten Nobilitierung der Poesie zu beantworten. Seine
konjunktivische Ausgangsbefürchtung ist dabei eher eine herabgedimmte
Zustandsbeschreibung: „Nur eine Gesellschaft, die selbst an ihrer Bestimmung
irre wird, die in allem, was jenseits bloßer ökonomischer Reproduktion liegt,
appetitlos geworden wäre, könnte sich so sehr gehen lassen, die sogenannte
schwierige Dichtung in Frage zu stellen.“ Dichtung befähige nicht nur, dem
Terror der Gegenwart zu entkommen, sie allein sei in der Lage, das Gehirn als
„unendlichen Zufluchtsraum“ mit seinen „vielen Geheimhöhlen und Kavernen“
auszuleuchten.
„Sobald es um die inneren, traumhaften Zusammenhänge geht, sind alle anderen
Kunstformen angewiesen auf eine Synthese durchs Wort. Der
Traum, und das stellt sich erst schreibend heraus, ist das Wirkliche am Ich.“ Der
Rückgriff auf ältere Dichtungstraditionen, etwa die des Barock, ist nicht nur
bei Grünbein mit einer dezidierten Aufwertung des hohen Tons verbunden. Mit dem
weiteren Rückgang an öffentlicher Beachtung tritt seit Mitte der neunziger
Jahre ein bedeutender Teil der Gegenwartslyrik gleichsam die Flucht nach vorn
an. Man denke etwa an Thomas Klings Definition des Verses als
„Pathosbeschleuniger“ oder an
Raoul Schrotts Rehabilitation des „Erhabenen“ als ästhetischer Kategorie. Die
dritte Leitlinie im Großgedicht ist der Spannungsbogen zwischen Zeitgeschichte
- Descartes Wirkungszeit fällt in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges - und
seiner Entschlossenheit, in größter Wirrnis ringsum einen Neubeginn der
Philosophie zu wagen. Dieses Moment der Selbst-Setzung unter heillosen
Umgebungsbedingungen ist es, der Grünbein fasziniert und in dem er nicht ohne
Grund Parallelen zur heutigen Situation des Künstlers, des Intellektuellen, des
Philosophen erblickt. Dass
Grünbein so vehement auf die Urgründe
modernen Philosophierens insistiert, hat allerdings seine Bewandtnis auch darin,
dass er sich, einer Traditionslinie von Berkeley bis zum radikalen
Konstruktivismus folgend, immer schon schwer getan hat, Gesellschaft strukturell
und historisch zu fassen; sein Denkfixpunkt seit den Essays im Umkreis von
„Schädelbasislektion“ war immer die von der Einzelmonade aus gedachte
Vorstellung von Gesellschaft als des Zusammentreffens (und mehr noch
Aneinandervorbeiexistierens) von Einzelkosmen. Das Ausmalen aller Nuancen der
Wahrnehmung von Schnee und die abstrahierende Projektion als des verschlingenden
Nichts im neuen Epos illustriert die Auffassung von Wirklichkeit als einer
sprachlich vorstrukturierten Konstruktion des Bewußtseins. Was für die
Behauptung des - zumal dichterischen - Einzelwillens einleuchtend erscheint,
erweist sich in Hinsicht auf das reflektierende Erspüren von komplexen
Gesellschaftszusammenhängen als zu kurz gegriffen: Grünbeins Muster in Gedicht
und Essay verbindet Phänomenologie mit Erkenntnissen der Hirnforschung und
anthropologisch interessanten Studien des Gruppenverhaltens höherer
Wirbeltiere. Was als Basis für Gruppenverhalten noch Erklärungsimpulse
liefert, muss zu vieles außer acht lassen, wenn Schichteninteressen, konkrete
Machtverhältnisse und Handlungsgeschehen ins Blickfeld geraten. Zugunsten
scheinbar anthropologischer Gegebenheiten und in der Tat immer wiederkehrender
Muster von menschlichem Verhalten verdampfen geschichtliche Differenzen ins
Akzidentielle. Grünbeins Reflexionsmuster scheinen durch zwei Großideologeme
immerfort bestätigt zu werden: Die Erinnerung an die Verachtung gegenüber dem
Einzelleben und an die teleologisch fundierte Fortschrittsideologie im Osten
sowie die marktterroristische Fetischisierung von technologischem Fortschritt
und Gegenwartsmoment im Westen, die das Einzelleben ausschließlich
Verwertungsinteressen unterwirft. Auf geniale Weise fangen Grünbeins Großgedichte
das umfassende „Unbehagen in der Kultur“ (Freud) von Unbehaglern aller
Coleur auf - ohne allerdings wirklich schmerzhaft zu sein. Denn besänftigt wird
die durch verstörende Einzelbilder möglicherweise aufgewühlte Seele durch
eine stoische Verve zur Form, die wie in jeder Klassik auch Redundanz und
Langeweile zeitigt, wenn die commune Geste aus Zählungsgründen theatralisch in
Kothurnklicken entschärft wird. Wenn ich dennoch ob der Einzelschönheit vieler
Bildfindungen für universale Kälte die Lektüre respektvoll und durchaus erwärmt
beendet habe, so vielleicht auch mit der Hoffnung, dem Ausnahmedichter Grünbein
mögen nach dieser Kraftanstrengung der Kristallisation wieder die
Dschungelpfade zur Brennerei leichtfüßig zuhanden sein. Sind doch Gedichte,
wie Grünbein in seinem Vortrag „Warum schriftlos leben?“ definiert, nicht
zuletzt „für den, der das Hochprozentige schätzt, destilliertes Erleben,
Abbreviaturen der Existenz, Erschütterungen und Verlautbarungen in
Tropfenform.“ Um
die Flüchtigkeit der Naturerscheinungen und ihrer Wahrnehmung im Verhältnis zu
den „ewigen“ Fragen der Existenz kreisen auch Hans Magnus Enzensbergers neue
Gedichte, die wie immer im „Fliegenden Robert“-Sound der ironischen
Uneigentlichkeit auf den Leser kommen. Ihre oft didaktisch forcierte Botschaft
insistiert auf Entschleunigung, Kontemplation, Aufmerksamkeit für das
Akzidentielle, das das Wesentliche entbirgt. Eine gefällige Methode, dies zu
bewerkstelligen, ist die Konfrontation von technischen Termini mit subtilen
Wahrnehmungszeichen der Intimität: „Die Vorzüge meiner Frau sind zu
zahlreich / für ein Blatt Din A 4. / Sie ist ein Vielzeller mit knisternden
Haaren, / die nachts, wenn sie schläft, vorzüglich gedeihen.“ Wer wollte da
widersprechen. Und doch, wie einfach
sind dergleichen Effekte zu haben. Vor
über 25 Jahren hatte Enzensberger mit dem Poem „Der Untergang der Titanic“
ein Großgedicht vorgelegt, das Eis, Ich und Es in großen Bögen zusammensah.
Nun sind es die kleinen Bögen zwischen Himmel und Erde, schwarz und schneeweiß,
an denen sich das Aufmerken entzündet, und das liest sich dann, wie im Gedicht
„Schwäne“, so: „Daß sie weiß sind, das weiß doch jeder. / Schneeweiß
wie die Flügelhauben der Nonnen, / das Ei, der Eisberg, schneeweiß, / mit
einem Wort, wie der Schnee. / Bisher ist es noch jedesmal gut gegangen / mit den
vier Jahreszeiten. Immer dasselbe: / Es schneit. Schlimmstenfalls eine Lawine.
[...]“ Die Pointe des Gedichtes, man ahnt es schon, besteht darin, dass das
sprechende Ich entgegen bisheriger Erfahrung Hunderte von Schwänen vorbeiziehen
sieht, und: „Jeder von ihnen war schwarz.“ Immer
wieder dienen technisch-naturwissenschaftliche Symbolworte instrumenteller
Vernunft, enervierende Alltagsverrichtungen und noch die in Kriegen „verwüsteten
Dörfer“ als Folien transzendenter Aufschwünge in kleine Mysterien, poetische
Leuchtpunkte. So weit, so vertraut seit Baudelaire. Erschütternd ist vielmehr
die Durchsichtigkeit, mit der Enzensberger diese simple Konstruktion zum
Verfahren zu kultivieren versucht, erschütternd ist die Gleich-Gültigkeit, mit
der die Prosa aufgenommener Welt differenzarm zum Poetisierungs-Material
degradiert wird - und zwar durchgehend. Vieles
von dem, was er hellsichtig 1989 in seinen „Meldungen vom lyrischen Betrieb“
der deutschen Gegenwartslyrik ins Stammbuch schrieb, kehrt sich nun gegen ihn:
die Geschwätzigkeit, die Beliebigkeit, das näselnde Parlando. Von
Konzentration – eine der Grundbedingungen von Dichtung -,
Durchdringungsanspruch oder Versraffinesse übrig geblieben ist – matschiges Räsonieren:
„(...) die waren doch auch einmal entflammt, / früher, irgendwann,
selbstvergessen, / außer sich, strahlend / vor Übermut, oder nicht? / Wie kam
es? Seit wann? Und warum? / Draußen der Schnee ist auch schon wieder // zu
Matsch geworden.“ Verräterisch ist eine Akkumulationsmanie, die in jedem
zweiten Gedicht Raum greift und nur einen Effekt zeitigt: den der
Austauschbarkeit. Ebenso die Pose, den Gedichtgang mit der Sprachgeste
pointieren zu wollen, das Gegenteil des Erwägten als ebenso stringent anzusehen
: „Das Energiefeld der Toten // [...] hilft, vielleicht bis ans Ende der Welt,
/ vielleicht auch nicht“; „Wenn ihr könnt, verzeiht mir. // Oder laßt es
bleiben.“ usw. usf. . Und auch die Verächtlichkeit, mit der Enzensberger alle
„Zu-kurz-Gekommenen“ bedenkt ( „Unterlassen habe ich es, / dem Penner die
Bruderhand zu küssen, / und beizeiten zu gießen / die fleißigen Lieschen des
Nachbarn“), wird durch keinerlei ästhetische Verrücktheit aufgewogen, wie
man es aus der Geschichte der modernen Kunst kennt. Die Überschaubarkeit der
handwerklichen Mittel ließ mich denn auch bei der Lektüre eher die
Bräsigkeiten oder Victory-Gesten unserer politsch-wirtschaftlichen
Elite-Lichtgestalten assoziieren. Insofern ist der Gedichtband als
Beruhigungsdroge für gestresste Manager durchaus zu empfehlen. Natürlich
ist Enzensbergers „Die Geschichte der Wolken“ in den großen Feuilletons, in
den Kultursendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausnahmslos
wohlwollend bis euphorisch besprochen worden. Mit Bordieu ließe sich auf das
beachtliche symbolische Kapital der Marke HME hinweisen und die damit
verbundenen bedingten Reflexe der Kritiker oder schlicht auf den
Goutierungs-Filz im Kulturbetrieb. Wem Enzensberger verlässlicher
Reflexionsbegleiter durch die Lebensgeschichte in der zweiten Hälfte des 20.
jahrhunderts war, den müsste die seit einigen Gedichtbänden bereits
angedeutete Selbstdemontage dieses Lyrikers mit Gram erfüllen. |