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Peter Geist

Überschüsse. Symptome. Mythen

Zu Kurt Drawert, Frühjahrskollektion. Gedichte, Frankfurt a.M. 2002; Durs Grünbein, Erklärte Nacht. Gedichte, Frankfurt a.M 2002.

Die Genieästhetiken des Sturm und Drang und der Frühromantik konnten den Jugendwahn  so nachhaltig in die literarischen Debatten zumal in Deutschland implantieren, dass über Reife und Gewicht eines lyrischen Werkes gemeinhin und günstigenfalls erst dann gesprochen wird, wenn die Zeit der Altersehrungen und Reprisen gekommen scheint. Nachdem die Hölderlinie der Lebenshälfte überschritten ist, sind wohl für den Dichter, die Dichterin Zwischenbilanzen zu ziehen und Feinjustierungen vorzunehmen, den sekundärmythengestützten Hunger auf jeweils neue poetische Medienlieblinge können sie kaum mehr erfüllen. Manchmal allerdings gibt die Literaturgeschichte dann doch dem Stimmendruck nach, und so läßt sich mit einiger Gewißheit sagen, dass seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre insbesondere Autorinnen und Autoren, die heute zwischen fünfunddreißig und fünfzig sind, das Gewicht der deutschsprachigen Gegenwartslyrik entschieden mitbestimmt haben. Und dabei sind die beiden neuen Gedichtbände von Kurt Drawert und Durs Grünbein schwerlich zu unterschlagen.

Sie laden zur parallelen Lektüre ein. Die bietet sich nicht zuletzt deshalb an, weil beide Autoren in Dresden aufwuchsen, bis 1989 in der DDR- Grünbein in Ostberlin, Drawert in Leipzig – verblieben, dann aber über Wohnortwechsel und Reisen sahen, dass sie Land, sprich: neues poetisches Terrain gewinnen konnten. Wiewohl sie poetologische Grundaufmerksamkeiten, Sehweisen und Stil in den achtziger Jahren entwickelten, haben sie sich in den neunzigern auf eine Weise in die literarische Öffentlichkeit eingeschrieben, die Respekt abverlangt, nicht zuletzt wegen des in ihren Essays zutage tretenden ästhetisch-philosophischen und politischen Reflexionsvermögens. Die tiefenscharf verarbeiteten Erfahrungen des Systemwechsels boten den Vorteil eines stereoskopischen Blicks auf die westlichen Gesellschaften, der das Erbe der europäischen Aufklärung noch einmal bündelt zu einem bedrängenden Fragen nach Möglichkeiten humanen Verhaltens in einer von Entwürfen leergeräumten Welt. Und beide beharren auf einem Trotzdem des Gedichts: Das titelgebende Schlußgedicht „Erklärte Nacht“ hebt bei Grünbein mit dem understatement an: „Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle. / Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil. /  Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen. / Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.“ Kurt Drawert hat das Gedicht in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat  zugleich beschrieben, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich „durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“

Das Besondere an den Gedichten von Kurt Drawert war es stets schon, dass er diesen Überschuss einem Material abgewinnt, das oft aus vorgestanzten Bildschablonen, von inflationärem Gebrauch verschlissenen Wortmünzen, aus defekten Satzfertigteilen besteht.  Wenn schon der der Modebranche entlehnte Bandtitel „Frühjahrskollektion“ stutzen lassen sollte, so liefert eine Gedichtüberschrift wie „“Der Wald“. Katalogtext und Ausstellungshinweis“ in der – merkwürdig genug – Abteilung „Ich liebe Industriegebiete“ Fingerzeige, bereits der klassischen lyrischen Sprecherinstanz des „ich“ nicht allzu sehr über den Weg zu trauen. Damit ist das Distinktionsvermögen des Lesers angesprochen, den Text hinter dem Text  erschließen zu können, was zum Beispiel heißt, die Oberflächen scheinrationaler Argumentation mit den Rückseiten immanenter Wahnhaftigkeit kurzzuschließen. Es entstehen semantische Wirbel, Irrläufer oder Ausschließungskonstellationen. Die Bewegung der Verse wird durch Enjambments aufgehalten, durch Wiederholungsfiguren in die Schleife gezwungen, durch Metaphern geteilt, durch sarkastische Pointen synkopiert, durch Imaginationen vervielfacht. Das ist raffiniert gemacht und gleicht nicht selten einer Wildwasserfahrt mit Stromschnellen und Untiefen. Eine Kostprobe aus dem Gedicht „Keine Zeit“: „Mit dem Land / ginge es abwärts, heißt es. / Kein Fußball, kein Tennis, das durchzieht, es ist die reine / Aussicht auf gar nichts. / Jemand kratzt an der Haustür / und will, daß ich öffne. / Es kann nur der Tod sein / im Anzug eines Handelsvertreters / mit Rabattangeboten. Er stielt / Augenblicke und verkauft sie / als Uhren.“ Besonders in den längeren poetischen Landnahmen (keine Reisegedichte, auch wenn Ortsangaben auf Krakau, Bordeaux, Arcachon verweisen) beweist sich seine Fähigkeit,  das geschichtlich Bedrängende in der Textur des scheinbar diaristisch Flüchtigen zu verdichten, so man zu lesen versteht. Drawerts tiefschwarzer Humor ist von einer  ansteckenden, aberwitzigen Fröhlichkeit, die nach innen blutet. Das Eingeklemmtsein in industriell gefertigte Bilder und Töne, die Einspeisung fast aller Gebrauchs-Gegenstände einschließlich der Restnatur in pure Warenkreisläufe - „Der Wald, im schweren Grün / seiner Innenausstattung“ - wird in den verheerenden Konsequenzen um so deutlicher, wenn Mythen- und Utopiesplitter zitiert werden, wie im Aufrufen der „Engel“: Nur, dass diese „entlassen und nun selbständig sind, / ihr Geschäft nicht mehr im Himmel, / sondern im Erdreich betreiben / und hauptsächlich, hauptsächlich / Honorare einklagen. Neu auch ihr Parfum mit dem Duft / nach Schwefel und Pech“. In einem anderen Gedicht erscheinen sie als „Engel der Landstraße“, „die Frauen auf der E 55, / der Hauptstadt Europas / und des Erbarmens“. Doch vernehme ich in berührenden Porträtgedichten für Alfred Gruber und Zbigniew Herbert oder in romantiknahen Stillleben im letzten Drittel des Bandes auch andere Töne einer seltenen Ruhe im Unbehausten.

Kurt Drawert muß im neuen Band die DDR-geprägte Herkunftsfremdheit eines Angehörigen der „Kaspar-Hauser-Legion“ nicht mehr so explizit thematisieren wie in früheren Bänden, um neue Heimatlosigkeit zu begründen. Als einen Deserteur bezeichnete Walter Hinck ihn in einem Rundfunkgespräch, der sich von keiner der reichlich zuhandenen Vereinnahmungstechniken affizieren und sich den Blick auf die vor aller Augen sich vollziehenden Auflösungsprozesse von Gesellschaft nicht verkleistern lasse. Der große alte Matador der Germanistik verstand dies als Auszeichnung.

Während Kurt Drawert konsequent den gegenwärtigen Augenblick der scheinbaren Selbstverständlichkeit entreißt und in wenigen Strichen, oft nur andeutungsweise, auch als geschichtlichen Moment sichtbar macht, braucht geschichtliche Vergewisserung bei Grünbein die Plastizität angenommener Rekonstruktion von Geschehnissen, von Atmosphären, Aromen. Dass die Stimmen in den Gedichten Grünbeins als Plural-Konstrukte am Schnittpunkt von disparater Wahrnehmung, unterschiedlichster Kulturräume und Zeiten konstituiert werden, erleichtert das abrupte Hin- und Herschalten zwischen Nahaufnahme und Totale, Gegenwart und Geschichte. “Woran will man sich halten, wenn selbst Landschaften wandern? / In den Fingern nichts als die taube Nuß, den Pokal des Vereins / Ödipaler Verlierer“. Wie schon in den vorausgegangenen Gedichtbänden wird die immense Stofffülle durch elegante Versgestaltung gebändigt und durch einen sarkastischen Tonfall als versucht widerständige Haltung gegenüber einer als heillos diagnostizierten Katastrophenmoderne grundiert. Die freilich kein Entrinnen kennt, schon gar nicht im Bedenken der als desaströs empfundenen Bedingungen des Aufwachsens im verrottenden Staat DDR („Abschied vom fünften Zeitalter“). Selbst wenn Grünbein „In einer anderen Tonart“ frühe Kindheitserinnerungen in geschmeidig gereimte Zweizeiler heraufführt, wird die zunehmende Objekteinklammerung über veränderte Benennung des grammatischen Subjekts evident: Im ersten und zweiten Teil spricht ein Ich, dann wird „das Kind“ rückprojiziert er, um schließlich zum „man“ fortzuschreiten. Nun ist der Dichter vierzig geworden, und in dem in 22 Stücken ausgreifenden „Traktat vom Zeitverbleib“ lese ich: „Ein Mann sitzt da und wird vierzig / Was heißt das schon – weit gebracht? / man kommt zur Welt, man verirrt sich. / Und eines Tags wird es Nacht.“ Das „bennt“ nicht nur gewaltig, sondern der sentenzengesättigte Grünbein-Sound zeitigt auch deutliche Deja-vù-Effekte. Wenn in vielen Gedichten wieder und wieder die Verlorenheit des vereinzelten Einzelnen vor dem Fatum Geschichte und dem Fatum Biologie beschworen wird, misstraue ich denn doch der Behauptung universeller Geltung einheimisch reüssierender Monadenlehren: „unterwegs auf geheimen Pfaden / leben sie – jeder in seiner Welt. / Sechs Milliarden Monaden, / Die ein Ich bei Bewußtsein hält. // In Urwäldern, Wüsten und Städten, / Sie sammeln sich überall, / Unter Steinen wie Asseln, in Betten. / Was sie antreibt? Èlan vital.“

Das Einschreiben gewesener und erwarteter Natur- und Geschichts-Gräuel in gegenwärtige Alltagserkundigungen (S. 118: „Wie ein Sandkorn zermahlen von Hammurabis steinernen Tafeln.“) beleuchtet die wenigen Wappnungen um so schärfer, deren sich das Ich versichern kann, wie etwa in den nach dem 11. September geschriebenen „September-Elegien“: „Auch die Wolke mit Trauerrand hat sich mittags verpißt. / Wie viele in Hinterzimmern, haust jeder in Hintergedanken. / Mit dem Kontostand hadernd, dem Wetterwechsel, dem Schnupfen. / Wie gut, daß es Mythen gibt, Lexikonworte wie Moira, Ananke. / Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen.“ Das ist nicht nur das kunstvoll gewirkte schützende Kettenhemd, sondern auch – und hier gibt es Akzentverschiebungen zu den vorausgegangenen Gedichtbänden – die „Kette aus Glücksmomenten bis hin zu den Mädchenbädern am Nil“, die vielleicht neue Offenheiten ankündigt. Grünbein beruft sich in einem bemerkenswerten Gespräch mit Helmut Böttiger auf Ossip Mandelstam, wenn er das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes“ gegen die monologisch-kristalline Kälte Benns aufwertet. „Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.“

Ich habe nicht oft in den letzten Jahren so weltöffnende Gedichtbände lesen können wie die von Drawert und Grünbein. Aus der Flut neubiedermeierlicher Harmlosigkeiten ragen sie sowieso hervor.