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„Einmal noch den trüben Spiegel plündern ohne Selbst und ohne Sendung“

Zu Wolfgang Hilbigs Gedichtband „Bilder vom Erzählen“

 

Seit damals vor über zwanzig Jahren,  als ich den Leipziger Luxemburg-Turm bestieg, um mir bei Lutz Nitzsche seine „abwesenheit“ für ein paar Tage anzueignen, bin ich süchtig nach Gedichten von Wolfgang Hilbig. In seinen Versen funkelten „hauchdünne worte einer halbbewußten/ trostlosen sprache“, die Poesie der Wartesäle, absurdes Auflachen im Abwinken: „wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken/ gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas/ trinken bis der teufel kommt sprechen/ zu keinem und alternd noch immer“. Die Faszination erwuchs nicht zuletzt aus der Fallhöhe zwischen gnadenlos-genauer Zeichnung all der zerbröckelnden, vermodernden Örtlichkeiten und dem infernalischen Phosphorlicht der Bilder, die Hilbig ihnen entgrenzte. Die allerdings brannten sich ins Gehirn und hatten die Eigenschaft, in bestimmten Wahrnehmungssituationen Kurzschlüsse auszulösen, die mit dem Schlag, den sie erteilten, auch eine leichte Trance ermöglichten. Zu diesen merkwürdigerweise sehr haltbaren Ritzungen in meinem Gedächtnis gehört eine mit quitschendem Geräusch vom Wind hin und her geschaukelte Lampe über dem provisorischen Appellplatz eines winterlichen  Armeefeldlagers, gehört die in den Novembersmog geschluckte Riebeckstraße im Leipzig der achtziger Jahre, gehört das schmutzige Fahllicht zwischen sächsischen Braunkohledörfern, das morgens um vier aus dem Zubringerbus zum Tagebau, wohin man mich als Hilfskipper von der Universität abkommandiert, zu sehen war: Jähe Memento mori, fröstelnde Winke der Verkommenheit, der Vergeblichkeit, und doch immer auch bestimmt durch ein so grelles Aufleuchten geschundener Schönheit, dass es schmerzte. Diese engrammatischen Eindrücke verdanke ich vermutlich nicht unwesentlich den Texten Wolfgang Hilbigs, die fortan durch die Jahre begleiteten.

Und jetzt also ist ihr Verfasser Jubilar, und zum 60. liegt ein fein gemachter Band mit neuen Gedichten und filigranen Radierungen des genialen Horst Hussel unter dem scheinparadoxen Titel „Bilder vom Erzählen“ vor, und sofort ist es wieder da, dieses Gleißen. Wenn es Hilbig in der Prosa stets schon weniger um das Erzählen einer Geschichte denn um das genaue Heraufholen von Atmosphären angelegen war, dann flutet er in den Gedichten den Raum des Eingedenkens  mit Bildern. Dass die sich verwirbelnden, strömenden Bilderfluten ihrerseits Raum brauchen, mag dazu bewogen haben, das Fließende als Akt des Erzählens anzuempfehlen. Das nun wäre tiefgestapelt, bezöge es sich auf die moderne Gattung Prosa. Vielmehr ist es ein Erzählen der Bilder, das durchlässig ist für ältere Arten des Erzählens, das antike Epos etwa, und orientiert an den Grenzentwürfen der lyrischen Gattung im 20. Jahrhundert, den Cantos Ezra Pounds oder T.S. Eliots „The Waste Land“. Und der Titel eines so bewegenden Gedichts „Nach der Prosa“ führt sowieso in die Irre, denn es zieht in einem der schrecklichsten Momente im Leben eines Dichters, wenn eine lange, quälende Prosaarbeit („Das Provisorium“) abgeschlossen ist, Bilanz.

...

ich hörte mich singen schluchzend zwischen den Lichtern

der Sterne: die mir zu Füßen lagen wüst verstreut

wie Trinkgeld in der Spelunke des Dunkels...

 

Nun ging ich aufrecht: eine Nachtviole war mein Ziel

und wankte doch – ein einzig falscher Schritt wars bloß –

dir wollt ich eine Blume pflücken und ich fiel

der Erde in den Schoß.

 

Es ist eine Selbstkasteiung, die an Grausamkeit noch gewinnt, weil die Rede an ein Du gerichtet ist. Aber was für Bilder unerhörter Schönheit findet Hilbig dafür: „Sterne: die mir zu Füßen lagen wüst verstreut/ wie Trinkgeld in der Spelunke des Dunkels...“ Es sind  Epiphanien der Heillosigkeit, Labyrinthe der Zermarterung, „Saturnische Ellipsen“, die mit schier alttestamentarischer Wucht Wort werden. Dieser hohe, pathosbestimmte Ton gehörte immer schon zu den Erkennungszeichen Hilbigscher Poesie – man denke nur an Großgedichte wie „Das meer in sachsen“ -, und er hat an Eindringlichkeit eher gewonnen. Dieser Eindruck rührt von einem komplexen Geschehen auf unterschiedlichen Sprachebenen her. Gestisch  ist Wolfgang Hilbig meines Wissens der einzige deutschsprachige Lyriker der ersten Reihe, der Interjektionen wie „O“ und „Ach“, also Ausrufezeichen höchster Not, höherer Klage, hohen Erstaunens ohne Ironie in seine Gedichte stellen kann. Das ist in der nachexpressionistischen Dichtung ein Vabanque-Spiel geworden, zu leicht kippt Pathos in die Groteske. Mehr noch, es werden Gebetsformen wieder aufgenommen, gleichsam als „Palimpseste auf  dem Licht von gestern“ (S.27): „O Herr was suchten mich die alten Götter heim? / Die lange schon entmachteten Gestalten: was sahn sie vor für mich / in jenen Zeiten vor der Zeit und was an Jahren / war für mich errechnet?“. Auf lexikalischer Ebene fällt auch im neuen Gedichtband die Konzentration auf Topoi der erhabenen Naturerscheinungen und der Urelemente auf – das Meer, das Gewitter, die Wüste, der gestirnte Himmel, Wasser, Licht, Dunkel, Schatten, Feuer – aber: der ist Mond nackt, die Sterne frostig, der Regen betäubend, das Licht bitter oder „wie von Aschen“. Wahrlich, die Befunde fallen nackt, frostig, bitter auf den Sprecher zurück. Und das Ich, in den Stimmen des Odysseus, Hiobs, Ahasvers, das ist vor allem „Bruder der Nacht, der in schattenloser Finsternis das Unsichtbare suchte“. Auf der Schwelle zum Unsagbaren, Unsäglichen auch, erzählen die Gedichte von einem Kämpfen gegen den Sog der Vergeblichkeit, gegen das Verdämmern der Worte und das Sich-Entfernen der Kindheit: „O Kindheit ... ein Alluminiumteller wars im Küchenlicht / daran er mich erinnerte der Mond“, aber „jener Mond mit seinem Grabgeruch in seiner welken Blöße / mit mir gealtert und vergangen...“ Syntaktisch schließlich fallen besonders die  anaphorischen Reihungen, das geradezu hämmernde Insistieren ins Gewicht: „Ich schlief mit dem Regen bis tief in den Abend / ich schlief und schlief: niemand der schlief.../ ich schrieb im Schlaf und ich schlief im Traum: / und bis zum schwefelgelben Saum / am Horizont der Kindheit träumte ich den Traum.“ („Increatum“, S. 16).

Gestus, Lexik, Syntax – nun gut, das sind so Beschreibungsmomente ; doch wie erklärt sich, warum dieses Pathos der Verzweiflung, auch des Scheiterns gänzlich unpeinlich ist, ja Bewunderung bei Dichterkollegen, Freunden und Kritikern erheischt? Natürlich ist es die Kunstfertigkeit, mit der Hilbig aus diesen Momenten jenen Sog zu erzeugen vermag, den Adolf Endler treffend mit dem Poeschen Maelstrom verglichen hat. Beispielweise, wie er, ohne die Grundgebärde zu verändern, surreale Bildkorrelate in das Sprechen einschließt und ihnen damit den Schein größter Selbstverständlichkeit verleiht. Franz Fühmann hatte in seiner Rede auf Hilbig „Praxis und Dialektik der Abwesenheit“ anhand des berühmten Gedichts „episode“ aus dem Jahre 1977 auf diese Eigenart aufmerksam gemacht. Auch im neuen Band stehe ich staunend vor Gedichten, in denen Imagination als Wahrnehmung an die Sprache übereignet wird. So beginnt Aqua alba mit den Versen: „Ach der ganze Garten überschwemmt vom Mond - / und Schwärme von Fischen am Weg / wie Federn leicht wie zuckende Klingen aus Licht.“ Wenn Hilbig 1981 vor DDR-Hintergrund in die realismusgeschädigte Runde fragte war das gedicht der rabe von e.a.poe not / wendig, so schildert er nun im Titeltext des neuen Bandes die mystagogische Begegnung mit Poes „Nevermore“ in Gestalt eines „riesigen amerikanischen Raben.“ In mehreren Kritiken las ich, Hilbig knüpfe wieder an etwas an, „was lange Zeit liegengeblieben war, durch Prosa verdeckt“ (H. Böttiger). Ich denke eher, dass Wolfgang nicht an etwas anknüpfen musste, weil nie etwas aufgehört hatte zu arbeiten: Poesie ist für ihn immer grundsätzlich Daseinsform gewesen, mit all den Qualen und Ängsten, die solche Unbedingtheit einschließt. Es haben sich aber die Ahnungen von Endgültigkeiten schärfer in den Vers gebracht, härter der Aufeinanderprall von Begierden nach Schönheit, sinnnlicher Erfüllung und den unaufhörlichen Zerreisskräften , denen das Ich ausgesetzt ist, nicht selten in knappe Fügungen gegossen wie „traumgefesselt und verrückt“ oder „Steine und Schreie wuchsen in mich ein.“ Die Bedrohung durch Selbstverlust, die Kehrseite von Rauschverlangen, wird mehr denn je durch Objekt-Subjekt-Umkehrungen transparent, wenn das Ich als von den Dingen gepeinigt, bedrängt, beherrscht erklärt wird: „Das Eisen selbst sucht sich den Mann“ (S. 7); „Die Linden kamen auf mich zu wie torkelnde Skelette/ schlugen nach mir mit Qualm und aufgespießtem Unrat“ (21); „o dieser Augenblick im Gleichgewicht der den Atem anhält / bevor das Bild kentert“ (32) „dort wo gewirkt aus bleichem Staub ein Wehen nach dir faßt“ (S. 40) Dieses Vortasten in die Grenzbereiche des Erfahrungs-Möglichen, den „Welten Rand“ war von Anbeginn das bestimmende Movens in Hilbigs Schaffen – man lese übrigens unter diesem Aspekt noch einmal die Eingangsszene seines letzten Romans – und dieses  Ungesuchte beschwor er bereits in dem 1978 geschriebenen Gedicht „der poet und die wüste“. Wenn die neuen Gedichte Kunde von Reisen geben, so sind es bezeichnenderweise jene Orte der amorphen Magie, die zum Gedicht drängen: Meer und Wüste, Passagen: „O lasset mich des Lebens Ordnung tief verletzen - / selbst über Wüsten türmen Sterne ihren stumpfen Kreis / und stürmen kalt in ihren Grenzen und Gesetzen.“ Genau hier bäumt sich ozeanisches Gefühl: „das Ungeformte kehrt zurück das Unterlassne/ entsteigt dem grünen Überfluß der Stille - / und am Abend die Hügel hinter uns / bewachen im Schatten ihr Licht.“

Und doch greift jede vorwiegend psychologisierende Betrachtungsweise wiederum zu kurz, denn sie fasst nicht die Intention, im weiten Rückgriff zu den Anfängen der „Zivilisation“ – ein gerade viel mißbrauchtes Wort – das Fehlgehende in dieser späten Zeit zu benennen. Denn Hilbig buchstabiert nichts weniger als die Träume, Entwürfe, Utopien der Moderne noch einmal durch, die, bevor sie sich einschwärzten, in den Romantikern und in Hölderlin den Menschentraum von Emanzipation und befreitem Leben wenigstens auf das Subjekt zurückbiegen konnten. „Einmal ihr Musen noch blättern / im Traumbuch der Moderne“ überschreibt Hilbig den Anfang von Hölderlins „An die Parzen“ . Diese Ungeheuerlichkeit des Traums aber ist es, die Hilbigs einsames Gehen ins Unbegangne so beunruhigend leuchtend Gestalt werden läßt. Und wie die Kohlestifte in jenen alten Lampen finden die energische Beleidigung des Lebens und die Energetik der Bilder zueinander in einem unsteten Bogen gehärteten Lichts.