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Peter Geist

Vom Rand her

Aspekte der Huchel-Rezeption in den achtziger und neunziger Jahren: Reden zu Huchel

 

„Peter Huchel natürlich! Da habe ich es her, Menschen in der Landschaft zu sehen“ – so antwortete Johannes Bobrowskis auf eine Frage nach seinen dichterischen Vorbildern. Bobrowski hatte Gedichte von Huchel in der Gefangenschaft kennengelernt; besonders beeindruckt zeigte er sich von „Havelnacht“, das 1947 innerhalb eines Aufsatzes über Huchel in der Täglichen Rundschau erschienen war. Peter Huchel wiederum war es, der fünf Gedichte des gänzlich Unbekannten  1955 in Sinn und Form abdruckte und sofort das außergewöhnliche Talent Bobrowskis erkannte: „Endlich hatte er einen wirklichen Dichter gefunden! Noch in der Rückerinnerung wiederholte er, was er damals dachte: Ecce poeta! Ein einziger Blick auf die Gedichte habe genügt“, erinnerte 1967 Eberhard Haufe eine diesbezügliche Gesprächsäußerung Huchels. Die sich aus diesem Beginn entwickelnde Arbeitsfreundschaft zwischen zwei der bedeutendsten deutschen Lyriker dieses Jahrhunderts ist indes als literaturgeschichtlich bedeutsamer Glücksfall nur das herausragende Beispiel dafür, wie Werk und Wirken des märkischen Dichters auszustrahlen vermochten. Schon ins Legendenhafte tendieren die Überlieferungen über Fahrten nach Wilhelmshorst: Schriftstellerkollegen wie Wolf Biermann, Heinz Czechowski, Karl Mickel, Uwe Grüning, Erich Arendt, Günter Kunert, Ludvík Kundera, Heinrich Böll, das Gespräch und Zuspruch suchende DDR-Intellektuelle  besuchten den Observierten und tauchten ein in eine Atmosphäre schöner Geselligkeit und unzensierten Austauschs von Gedanken und Gedichten. Henryk Bereska erinnert sich: „Unbeeinflußt von Parteitagen, Plenen, Beschlüssen. Fernab von Aufmärschen, Staatsfeiertagen, Parteilehrjahren. Es wurde viel gelacht bei Wein und gutem Essen. Monica Huchel war eine großartige Köchin. Und hier war die Weltliteratur zu Hause. Ohne Tabus. All die Dichter, die es in der DDR nicht gab und die in Sinn und Form nicht hatten erscheinen können.“ Es nimmt nicht wunder, daß in den sechziger und siebziger Jahren zahlreiche Gedichte  auf diese „Gegengesellschaft“ (Bereska) Bezug nahmen, und dies war immer auch eine Bekenntnisgeste unter einander Vertrauten. Ob Günter Kunert, Heinz Czechowski, Uwe Grüning oder Richard Pietraß – kaum ein DDR-Lyriker von Rang ließ es sich nehmen, widmungsdirekt oder indirekt zitierend Referenz zu erweisen und die lebendige Gegenwärtigkeit des offziell unerwünschten  Dichters zu bezeugen. Daß die Anspielungen oftmals sarkastisch ausfielen, lag in der Unnatur der Sache, wie die Eingangsverse von Richard Pietraß` „Woche des Buches. für Peter Huchel“ (1981) beispielhaft zeigen: „Seit mir ein Stammler/ den Mund verbot/ studier ich/ die Sprache der Tiere./ Mit einfachen Zeichen/ sagen sie/ sich das Nötige.“ Unter den Gedichten, die Huchel direkt zugeeignet wurden, zählen sicher Wolf Biermanns „Ermutigung“ und Reiner Kunzes „Zuflucht noch hinter der Zuflucht“ zu den bekanntesten. Biermanns Lied wurde in den siebziger Jahren an ungezählten Lagerfeuern und auf „Feten“ zum verbindenden Erkennungszeichen: „Du laß Dich nicht verhärten/ in dieser harten Zeit...“.   Vielleicht ein Erklärungsansatz (unter anderen), daß die Tradition des Widmungsgedichtes für Peter Huchel bzw. der lyrischen Kontaktsuche zu Huchel-Zeilen auch nach seinem Tod nicht abriß und bis auf den heutigen Tag fortgesetzt worden ist: so etwa in Gedichten der späten neunziger Jahre von André Schinkel, Annett Gröschner oder, wie im 1997 geschriebenen „ratten“, von Lutz Seiler: „er hatte ein feuer, draussen/ im garten.// schloß er das buch/ mit den augen/ drehte die kälte// in den ketten der hunde./ die ratten kamen/ am anderen morgen, der sand/ war noch warm/ unter der asche./ er hatte ihre bahn berechnet// ihr schnelles, leichtes schreiten/ ihren flug// um den erdkern in der nacht;/ er hob die schwere seines hauses auf/ ging fort;“.

Zwischen lyrischen Korrespondenzen einerseits und literaturwissenschaftlicher Erschließung des Werkes andererseits ist eine kontinuierlich anwachsende Essayistik zu konstatieren. Eine Kontinuität, die Gründe hat, unter anderem diesen: Seit 1984 gibt es dank einer glücklichen Initiative des Südwestfunks und des Landes Baden-Württemberg eine gleichsam institutionalisierte Handhabe, das Leben und Werk Peter Huchels lebendig zu halten: die alljährliche Verleihung des Peter-Huchel-Preises. Von Anfang an einer der angesehensten deutschen Literaturpreise, wird er alljährlich nach gründlicher Juryarbeit an einen deutschsprachigen Lyriker oder an eine Lyrikerin vergeben, deren im Vorjahr erschienener Gedichtband am meisten zu überzeugen wußte. Dabei spielt die Nähe zur Gedichtsprache und Poetik Huchels - wenn überhaupt – eine eher untergeordnete Rolle. Aber natürlich ist das Werk Peter Huchels Herausforderung für jeden Preisträger, sich zu ihm zu verhalten, sich einer Beziehung zu versichern oder sie redend herzustellen. Die zur Verleihung des Huchel-Preises gehaltenen Reden sind stets zweierlei: Selbstvergewisserungen des eigenen Weges und Schrägschnitte zu Leben und Oeuvre des Namensgebers. Huchels lyrischem Werk eignet fordernde Enigmatik; dies setzt die Preisredner in die Verfassung, konzentriert zu sprechen. Huchels lyrisches Werk hält ein Gesprächsangebot bereit; dies erlaubt die eingestreute Miszelle, die essayistische Abschweifung, aber nie ins Ungefähre. Huchels Biographie schließlich ist exemplarisch für Verstrickungen in die Geschichte, die den einzelnen nötigen kann, seine Lebensentwürfe unter Aufbietung aller Kräfte verteidigen zu müssen. 

Einige Huchel-Preis-Reden aus den achtziger und neunziger Jahren sind einer genaueren Betrachtung deshalb wert, weil sie aufschlußreich sind für die Rezeption einer Poetik und das Fortwirken eines Anregungsgeschehens, das Indiz für Zeitdurchleuchtendes sein kann. Gewiß, die Person Peter Huchels geriet nach 1989, als endlich die genauen Umstände der staatssicherheitlichen Zermürbungsversuche recherchiert werden konnten, noch einmal ins Rampenlicht der medialen Aufmerksamkeit. Abseits einer rapide schwindenden bildungsbürgerlich geprägten Intellektuellenschicht wurde der Fall Huchel eher als weiteres Indiz aufgenommen für die historische Verwerfungen des zweiten deutschen Staates, dessen geheimes Innenleben nun deutsch-gründlich und ein wenig gleichgültig inspiziert wurde. Anders die Lyriker, deren Interesse an doppelt entfremdender Aktensprachwelt naturgemäß begrenzt ist. Ihnen ist es vielmehr am Bleibenden gelegen: an den weitergereichten, weit reichenden  Impulsen, die aus der versschlagenden Rede erwachsen können. Durchaus ist „Vorsicht geboten, wenn ein Dichter auf einen anderen Dichter zu sprechen kommt. Alle verrannt in die eigene Wortwelt, sind sie im öffentlichen Raum stolpernde Abgesandte einer Irrealität, die jeder anders behauptet.“ (Durs Grünbein) Es sei deshalb anhand einiger ausgewählter Reden von Huchel-Preisträgern nach den immer ganz singulären Bewegungsrichtungen des Interesses gefragt, ehe mit gebotener Behutsamkeit auffällige Koinzidenzen in den Begegnungen mit Huchel vermutet werden dürfen. Die Wahl fiel auf fünf der Preisträger, deren Poetologien zum Teil wenig miteinander zu tun haben und die doch in gewisser Weise das Spektrum gegenwärtiger Dichtungsreflexion andeuten.  Wenn verallgemeinernde Schlußfolgerungen gezogen werden, so geschieht dies ausdrücklich mit Blick auf entwickelte Gedankengänge in den Reden jener Preisträger, die an dieser Stelle nicht gesondert betrachtet werden können. 

„Aus Huchels Gedichten springt mich die eigene Kindheit an“, bekennt Wulf Kirsten in seiner Huchel-Preis-Rede „Der große Hof des Gedächtnisses“ (1987). Diese Grundierung einer intensiven Beziehung meint nicht symbolische Übertragung, sondern ein poetisches Initiationsgeschehen, den eigenen „Hof des Gedächtnisses“ aufzusuchen: Wortfelder, die eine Herkunftslandschaft imaginieren lassen,  wie sie nur noch in der Erinnerung existiert. Es ist dies die „erde bei meißen“ (so der Titel des 1983 bei Reclam erschienenen Querschnitts durch das lyrische Werk Kirstens) - „Eine Welt voll weitergetragener Namen und Begriffe, aufgeschnappt von den Kutschern und Hofeweibern oder von deren Kindern.“ Die thematische Beschränkung „auf ein überschaubares Stück Welt, in dem ich mich genau auskannte, für das ich glaubwürdig einstehen konnte“, das habe er, bekennt Kirsten, bei Peter Huchel, Erich Jansen und Johannes Bobrowski gelernt. Aber noch in zweierlei Hinsicht ist Wulf Kirsten bei Huchel in die Lehre gegangen: Zum einen ist die Hinwendung zur dörflichen Thematik nicht zuletzt von dem märkischen Dichter vom Ruch ideologisch instrumentalisierbarer Idyllik befreit worden, die Topoi des Ländlichen und Landschaftlichen sind sozial wie geschichtlich verortet. Wie Huchel die märkischen, so konserviert Kirsten in seinen Gedichten die früh ins Gedächtnis gelagerten Idiome seiner meißnischen Herkunftslandschaft, Idiome, die mit dem Verschwinden der mit ihnen bezeichneten Gewerke, Gegenstände oder Tätigkeiten vollends aus dem kommunikativen Gebrauch getreten sind und nun ein eigentümliches Eigenleben in der Sprache der Poesie begonnen haben. Es sind Memorabilien geworden, wie Kirsten eines der programmatischen Gedichte aus seinem Band wettersturz (1998) benennt. Der Dichter ist zum Hüter eines Schatzes bestellt, der aus Worten besteht.. Martin Walser über Kirstens Wortschatz: „Die Kirsten-Sprache ist schwer von Vergangenheit. Eine Sprache, in der man sich verproviantieren kann gegen Geschwindigkeit, Anpassung, Verlust. Jedem westlichen Leser muß bei jedem Kirsten-Gedicht kraß klar werden: das ist nicht bei uns geschrieben worden. (...) Der weiß nichts, was er nicht erfahren hat. Das hat zur Folge: die Sprache urteilt nicht. Sie schleppt Sachen heran. Gegen das Vergessen. Unsere westlichen Dichtersprachen sind, verglichen mit Kirsten, urteilssüchtig, aussagesüchtig.“ Seit den siebziger Jahren ist diese bewahrende Haltung verschwistert mit der immanenten Beunruhigung über die ökologische und ökonomische Barbarei der industriegesellschaftlichen Zerstörungstechniken, wobei letztlich marginal wird, ob diese nun plan- oder marktwirtschaftlichem Kalkül entsprungen waren. Anders als die flotte „Öko-Lyrik“ dieser Zeit benötigt Kirsten nie aufdringliche rhetorische Warngesten, sondern setzt besonnen auf die genaue Benennung durch den Chronisten. In seinen Texten der neunziger Jahre beginnt er allerdings diesem Vertrauen in das Wort zunehmend selbst ins Wort zu fallen: „quendelpolster am/ feldrain voller erinnerungsduft, lerchenlust/ abgesungen, selbst die wörter sang- und/ klanglos ausgewandert aus den dingen,/ die sie von alters zu benennen gewußt.“ Und hier scheint um so deutlicher ein zweites Moment auf, das Kirsten von Huchel „ererbt“ hat: Noch im Verschatten gesellschaftlicher Bedeutungsvereinbarungen nicht der Verführung zu erliegen, von der selbstauferlegten Strenge gegenüber der sprachlichen Adäquanz des zu Sagenden abzuweichen: Huchel habe, betont Kirsten in der Preis-Rede,  mit „frappierender Sehschärfe und Bildauffassung vorgeführt, was es mit der Genauigkeit als einer entscheidenden Kategorie der Lyrik, wohl der Literatur generell, auf sich hat und welche Überzeugungskraft vom Detail ausgeht.(...) Wie Kunstsprache aus der Volkssprache zwingend hervorgehen kann, läßt sich bei ihm lernen. Von einer poetischen Genauigkeit ist die Rede, die sinnlich konkret bleibt und sich nichts von der erlebten Wahrheit abhandeln läßt.“

Schließlich weist Kirsten auf eine erstaunliche und in der Dichtungsgeschichte seltene Tatsache hin: Peter Huchel hat jüngere Dichter mehrerer Generationen in seinem „Worternst“ (Hans Mayer) geprägt und beeinflußt: Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Richard Pietraß, Jürgen Rennert, Harald Gerlach sind hier unbedingt zu nennen. Schulbildend allerdings war er nicht. Der durchstrukturierte Kosmos von Binnenverweisen, von Bildvariationen, Metaphern, die auf anderen Metaphern erst aufbauen, von personalen Chiffren ist wenig offen für sprachliche Anlehnungsbegehren, ist aber fruchtbar in der Herausforderung, im Anspruch an Genauigkeit - dies ein verbindendes Grundwort moralisch-ästhetischer Provenienz, auf das die Poetiken der in den sechziger Jahren zum Schreiben gelangten Lyriker allemal verpflichtet waren. Denn es bündelte nicht nur den Ehrgeiz im Handwerklichen, sondern auch das damals einigende Mißtrauen in die Sprache der Ideologien und der leicht-fertigen Abstraktion.

Elke Erbs Rede im darauffolgenden Jahr (1988) trägt die Spannung von psychologischer Erklärung jener Reife eines Werkes und dem Tasten nach poetologischen Berührungsflächen. Peter Huchels Gedichtwerk gebe „ergreifendes Zeugnis“ davon, daß es in diesem „von Vernichtung geprägten und mit Vernichtung drohenden europäischen Jahrhundert“ (S. 168) dennoch gelingen kann, im Sinne von Mündigkeit zu reifen. Sie spürt, um sich die Koinzidenz innerer Entwicklung und Öffnung zur und in der Welt zu erklären, den „Zeichen der mütterlichen Präzision“ nach, in denen sie die lebenslange Bindungskraft zwischen Innen und Außen vermutet. „Mit dem Gedicht ´Im glücklichen Garten´[sic! – das Gedicht heißt „Der glückliche Garten“, P.G.] bezeugte Peter Huchel den Gründungsbrief seiner Dichterwerkstatt, jener Stätte, für die das Gesetz einer zweigesichtigen Reife galt.“(S. 171) Eines dieser Wahr-Zeichen, das sich in Huchels Gedichten zum Emblem verdichtet, ist der Mond, jeher Symbol matriarchaler Präsenz. Den Mond-Spuren in Gedichten Huchels nachgehend, gelingt es ihr, einen Schlüssel zu Huchels Gedichten vorzuzeigen, der aufschließen kann, ohne das Fremde auszuschließen. In diesem Begegnungsraum vermag sie die frühen Verse „schlägt laut mein Herz und ist bewohnt/ ganz von der Magd im vollen Mond“ und die berühmte Bilanzgrelle „Unter der blanken Hacke des Mondes/ werde ich sterben,/ ohne das Alphabet der Blitze/ gelernt zu haben“ ineinanderzusehen. Und mehr noch: Gleichsam in einem methodischen Fingerzeig führt die Preisträgerin vor, wie von dieser jähen Erkenntnis aus – „habe ich nun auch alle Monde Peter Huchels lesen können“ – sich Zugänge eröffnen zu weiteren Inventarwörtern eines Sprachgehäuses mit großen Bedeutungshöfen, etwa zum Wort „Stein“, dessen semantischen Wandlungen sie skizziert (von „Die Pappeln“ bis „Odysseus und die Circe“). So reife die Seele in die Fremde, sprachlich beschlossen in Verständigungszeichen, die zugleich bezeugen wie befremden. „Gehen wir zurück auf den Urgrund der Dichtung Huchels, sehen wir ihre Meinung und die in ihr geborgene und bis zum Ende ihres Lebens in allen Lüften bewahrte Stimme gegründet auf den Mut eines vierjährigen Kindes!“, teilt sie ihre Entdeckung „in den Wochen der bewegenden Wiederbegegnung mit Peter Huchel“ mit, und bezeichnet dies: ein „unerwartetes Glück“.

Machen wir einen Sprung, einen über die Turbulenzen des Epochenbruchs 1989/90: Den Huchel-Preis 1995 erhielt für seinen Gedichtband „Falten und Fallen“ Durs Grünbein, der seine Dankesrede unter die Überschrift „Der verschwundene Dichter“ stellte: Ein Befund, den Grünbein in seinen Ursachen und Konsequenzen zu erhärten versucht. In seinem archäologisch verfahrenden Redegang versucht er freizulegen, unter welchen Ablagerungen, Schichtungen öffentlichen Bewußtseins das Werk Huchels  zu verschwinden droht. Er erinnert eingangs daran, daß schon zu DDR-Zeiten sich gerade den Jüngeren, denen die Person Huchels bestenfalls noch eine ferne Gestalt in Stauffen sein konnte, „das vergeßliche Gerücht vom großen Verweigerer“ vor die Texte selbst lagerte. Er hält aber gleich darauf die Faszination entgegen, die von der Begegnung mit Huchels Gedichten ausging, „dank ihrer japanischen Ökonomie“: Für Grünbein war Huchel „der mikrokosmische Betrachter, ein Fährtensucher im Kleinen“, seine singuläre Bedeutung für die deutschsprachige Lyrik schien in der Fähigkeit auf, „Geschichte, gesammelt in einem Regentropfen“, in den Vers zu gebieten; Unheilsgeschichte allemal. Insofern ist Huchels Verzweiflungsprophetie intentional eher der Lyrik eines Günter Eichs benachbart als der der Fluchtstilisten der naturmagischen Schule, schlägt sein „Psalm“ den Bogen zu bösen Termitenträumen, nicht unähnlich dem 5.Traum von Günter Eichs Hörspiel Träume von 1950, in dem Termiten die gesamte menschliche Lebenswelt so von innen zerfressen haben, daß nur noch die äußere Hülle übrig geblieben ist: „Die Öde wird Geschichte./ Termiten schreiben sie/ Mit ihren Zangen/ In den Sand.“ (Huchel, Psalm). Grünbein spielt indirekt auf eine Kontroverse mit Wilhelm Lehmann in den fünziger Jahren an: Der damals  Hochgefeierte monierte in seiner Kritik der Gedichte Peter Huchels, daß Huchel „jene zarte Empirie fehle, die sich mit dem Gegenstand innigst identifiziert“ (S.34). Sein Plädoyer für das Gedicht, das in Anlehnung an Hegels Lyrik-Begriff in der „Ästhetik“ nichts Störendes in der spachlichen Verschmelzung von anschauendem Subjekt und Natur-Gegenstand zulassen dürfe, gipfelt in der rhetorischen Frage: „Wozu Verwirrung unter Wesen und Dingen stiften, ihren Frieden zerbrechen, mit Unklarheit stören, wo es um jenes Glück des anschauend Fühlens geht?“ In einem Brief an Hans Bender grenzt sich Lehmann unmißverständlich von Celan, Huchel oder Eich ab: „ist´s wirklich ein Fortschritt, wenn man das Naturgedicht pathetisch erweitert mit Stalingrad  und dem Schweigen der Toten?“ Im gleichen Brief wiederholt er die schwammige Phrase vom „anschauend fühlendem Glück“ und unterstreicht pathetisch, Dichter wie Leser dürften vom Kunstwerk das Höchste verlangen. Dieses „Höchste“ bedinge vor allem die Besinnung auf „tellurische“ (erdhafte) Kräfte. Die strikte Trennung von Poesie und Geschichte, die Wilhelm Lehmann vornimmt, ist in der Tat Grünbeins Sache nicht. Grünbein spielt denn auch auf Lehmann an, wenn er bei Huchel heraushebt, daß seine „Unheilfühligkeit ... ein Reflex vor aller gängigen Magie (war), mit der die Neoromantik das Schwindelgefühl in der Vernichtungswelt lyrisch auffangen wollte.“ Mag die damalige Kontroverse vor allem lyrikgeschichtlich von Interesse sein – immerhin haben Lyriker wie Wulf Kirsten, Jürgen Becker, Heinz Czechowski das Ihre seit den sechziger Jahren beigetragen, das deutsche Naturgedicht zu erneuern -, sie in Erinnerung zu rufen folgt ganz heutigen Absichten: Je mehr Natur verschwindet in Zerstörung, Zersiedelung, biologischer Manipulation oder instrumenteller Vernutzung, desto mehr wächst offenbar das Bedürfnis nach mythischer Verklärung der Restbestände bzw. der Erinnerung. Huchel in dieser Hinsicht zu erinnern heißt dann auch die historischen Gravierungen von Bildern menschlicher Anwesenheit in der Natur in Gestalt der Zerstörung menschlicher und außermenschlicher Natur ernst zu nehmen und zugleich das unschön Poetische anzuerkennen, das diesen Bildern eignen kann. Erinnert sei an sein Gedicht DER RÜCKZUG: „Ich sah des Krieges Ruhm./ Als wärs des Todes Säbelkorb,/ durchklirrt von Schnee, am Straßenrand/ lag eines Pferds Gerippe./ Nur eine Krähe scharrte dort im Schnee nach Aas,/ wo Wind die Knochen nagte, Rost das Eisen fraß.“ Grünbeins Zyklus „In der Provinz“ aus dem Band „Nach den Satiren“ könnte von diesem Blickwinkel angeregt worden sein; in allen fünf Gedichten sind es Tierkadaver, die dem Sprecher Anlaß sind für Sprachgänge zu Augenblicken existentiellen Innehaltens. In den detaillierten Beschreibungen eines Hundekadavers am Bahndamm, eines toten Maulwurfs am Rand eines Weizenfeldes oder eines plattgewalzten Frosches auf dem heißen Asphalt der Landstraße bündeln sich die Schrecken erster und zweiter Natur: die des biologischen Endes und Verfalls und die der Verheerungen durch geschichtlich bedingte Gewalt, wobei Grünbein beide Momente so aufeinander bezieht und ineinander verschränkt, daß sie wohl nicht als gleichartige, aber als aufeinander aufbauende erscheinen. Bei Peter Huchel konnten Naturchiffren immer noch auf freundliche Erinnerungen kindheitsfernen Einklangs mit der Natur verweisen, während Grünbein, der immer wieder Metaphern wie „künstliche Wildnis“ für den gegenwärtigen Zivilisationszustand bemüht, von einer Naturvorstellung ausgeht, in der Schrecken und Schönheit von vornherein nicht zu trennen sind. In dieser Engführung sind denn auch die aufklärerischen Träume eines humanen Ordnens gesellschaftlicher Verhältnisse am Ende des Jahrhunderts ausgeträumt. Peter Huchel erscheint hier als Gewährsmann eines tiefsitzenden Mißtrauens in gesamtgesellschaftliche Heilserwartungen. Was diesem Resultat eines schmerzhaften Erfahrungsprozesses war, ist dem Nachgeborenen bereits in die Voraussetzungen des Schreibens eingegangen. Auch Grünbein sieht sich als „verlorener Europäer“, als idiotes im antiken Sinne und homme de lettres auf dem imaginären Rettungspfad des – mit Nietzsche gesprochen – „Artistenevangeliums“. Nur daß, im Unterschied zu Nietzsche oder Benn, selbst diese singuläre Rettungsoption in die Kunst an Überzeugungskraft erheblich eingebüßt hat: „Der Rest ist Lyrik, wie? Aber wenn alles zuwächst,/ Der Traum undurchdringlich wird in der Menge,/ Ist es der Vers, der ins Freie zeigt. Der geblendete Stieglitz/ Singt schöner, heißt es, zu keinem Flug mehr verführt.“ Die Isolation Huchels erscheint dem Nachgeborenen dialektisch-paradox als zweifache Chance für das Gedicht: Erstens in der gelassenen Gesprächsaufnahme mit den großen Stoikern und Philosophen der Substantialität wie Theophrast, Augustinus, Polybios, die fruchtbarer erscheint als Eingelassenheit mit Unzeitgenossen. Zweitens im Zuwachs an Intimität für das Rollengedicht, ein Zuwachs, der der konzentrierten Einsamkeit erwachsen sei.

Grünbeins tiefe Achtungsbezeugung gipfelt in den Sätzen: „Was immer dereinst noch zum Lob jener schmächtigen Republik (der DDR, P.G.) vorgebracht wird, es ist wertlos, hält man den Fall Huchel dagegen.“ Das sind selten emphatische Töne, und abwägend wird man sie kaum nennen können. Sie meinen, und dies mit Nachdruck, das Verschwundene als blinden Fleck um so sichtbarer ins Gedächtnis zurückzuholen.

Mit dem in Utrecht lebenden und lehrenden Dichter und Literaturwissenschaftler Gregor Laschen, dem Huchel-Preisträger 1996, meldete sich jemand zu Wort, „dessen Sprechen auf der Suche ist nach dem Anderen, dem Fremden – im eigenen Ton; nicht zuletzt als einer, der gelernt hat, das eigne Land auch mit den Augen der Nachbarn zu sehen.“ Gregor Laschen, der seit vielen Jahren die Horen-Reihe „Poesie der Nachbarn“ betreut, argumentiert zunächst vorwiegend lyriktheoretisch: Das Gedicht erscheine als Möglichkeit, „in eine Solidarität mit anderen zurückzugelangen, die in den vorhandenen Sprechsituationen, in denen wir immer wieder festliegen, wenn überhaupt dann nur als Erinnerung noch da ist.“ Diesem hochgemuten Anspruch, den Laschen 1978 für den „Lyrikkatalog Bundesrepublik“ (eine lyrische und poetologische Bestandaufnahme der siebziger Jahre) formulierte,  verbündet sich Huchels Augustinus-Motto, das dieser seinem Band „Chausseen Chausseen“ voranstellte (und das in die Rede einzubeziehen kaum ein Laudator verabsäumte): „... im großen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig...“ Gregor Laschen akzentuiert am Ende dieses Jahrhunderts den zwanzig Jahre zuvor formulierten allgemeinen Anspruch insofern, als er eine perspektivische Beschränkung gewinnt, die einerseits die Potenzen der Dichtung in den Diskursnetzen der Gesellschaft realistisch abzuschätzen weiß, andererseits die unhintergehbaren, weil unersetzlichen Chancen der Poesie hervorhebt: Das Gedicht, so Laschen, spreche aus den „Randzonen und Provinzen, gesellschaftlich, geographisch, politisch, (...) – aus den farbigen Rändern aber, dem einen Rand überhaupt kommen die Gedichte: von dort aus sprechen sie Ich und Welt aus.“ Es ist dies immer schon ein Ort jenseits der Mitte, des Zentrums, der Macht, des „eintönigen Glänzens von oben“.

Noch vor dem Mauerfall, im März 1989 hatte Durs Grünbein eines seiner bekanntesten Gedichte, „O Heimat, zynischer Euphon“ dem Kölner Lyriker Thomas Kling zugeeignet. Dieser erhielt 1998 den Huchel-Preis für seinen Gedichtband „morsch“ zugesprochen und revanchierte sich mit einer durchaus respektvollen „Dankabstattung“ unter dem Titel „Die Wespen singen drüber wild“. Auf den ersten Blick liegen poetologische Anknüpfungspunkte zwischen Kling und Huchel nicht gerade auf der Hand. Die heftigen Lautverschiebungen des Kölners, mit der ermüdete Sprachwohnlichkeiten in der lyrikbetrieblichen Restambiente von redlich engagiert über konkret abgewohnt bis narzißtisch verwöhnt graffitisiert werden, sind in ihrer Verve strukturell eher den Aufmischungen und Zersetzungen offizialsprachlicher Regelungen aus Ost-Berlin verwandt. Klings Lyrik speist sich zudem  aus einer Haltung fast wissenschaftlicher Neugier, im Bezeichneten selbst wieder neue Zeichenhaftigkeit zu entdecken, ein Verweisungs- und Verwandlungsspiel zu beginnen. Die poetische Energie erschafft so „silbngezappel zappelndes silber im/ bodenlosen“(S. 79). Sie arbeitet als „pathosbeschleuniger“, oder, wie es in „Manhattan Manhattan“  heißt, als „poly-/linguales geschau. Granitplatte der zungngrund; ferngezündetes gehör, wo, im ohrenzwischn-/raum granitplattn mahlen, gegeneinandermahlen: verschiedenes verschiebt sich, gegneinander. so.“ In seinem fulminanten poetologisch-archäologischen Rundumschlag „Itenarar“ (1998) beruft sich Kling in diesem Sinne mit Paul Celan auf die „unabdingbare Vielstelligkeit des Ausdrucks“ Und hier ist ein Verknüpfungspunkt gegeben, der den Kölner mit dem „preußischen Scherbenmann“ über die gemeinsam bemerkte Trakl-Beschäftigung hinaus verbindet: die „Schreibhaltung der Wortkargheit bei Vieldeutigkeit, die des Risses, der Vermorschung, kurz: der Scherbe.“ Sprachscherben mit scharfen Rändern, die „ausgefeilte Gegenschnittechniken“ im Gedicht ermöglichen. Mehr noch: Kling bekennt, daß um 1980, neben den Nachkriegsösterreichern Bayer und Mayröcker, Paul Celan und Peter Huchel die „großen Lektüre-Herausforderungen“ darstellten, und zwar der „späte Huchel des sublim eingesetzten Reims, (...) der Huchel des genauen Wortlautes. Und: der (zeit)geschichtsschreibende, gedächtnisraumerfassende Dichter“. Thomas Kling gehört zu den wenigen gleichaltrigen Lyrikern, die dem postmodernen Geschichtsrelativismus der Gleich-Gültigkeit und der Selbstbedienungsmentalität im Ramschladen Tradition eine luzide Genauigkeit geschichtlicher Selbst-Vergewisserung entgegensetzen können. Die Unheilsgeschichte militaristischer, faschistischer, rassistischer Gewalt im blutigen 20. Jahrhundert wird in  fortzeugenden Sprachspuren ins Gedicht zitiert, wobei Kling die Verzerrungsfilter heutiger elektronisch-medialer Wahrnehmung bereits eingebaut hat.  Beim märkischen Dichter Beistand holen heißt hier, der „Transformation von genauen Geschichtskenntnissen und genau gekanntem und übersetzten Landschaftspräparat ins Gedicht“ nachzuspüren. Und dies bis in die Wortpartikel, das Vokabular seiner unmittelbaren Umgebung. Was Wunder, daß Kling bei Huchel auf zahlreiche Ableitungen des Wortes „morsch“ trifft, das seinem Band den Titel gab – zum letzten Mal in „Die Gaukler sind fort“, in dem es heißt: „...Eiche mächtig gegabelt,/ die den Donner barg -/ in morscher Kammer des Baums/ schlafen Fledermäuse,/ drachenhäutig.“

In einem Selbstporträt aus dem Jahre 1931 schrieb Huchel: „... das europäische Gesicht hat überall die eine Müdigkeit für den, der zwischenzeitig geboren ist und im Jahre neunzehnhunderttraurig. Er ist schon zu spät auf die Welt gekommen: er wird nie zur Zeit kommen.“ Die hier skizzierten je eigenen Näherungen gelten einem Dichter, dessen schwieriges Leben  und dessen Arbeit sich nicht, wie Michael Krüger in seiner Preisrede hervorhob, „nach dem Kompaß der Meinungen, nach herrschender Zeit und herrschender Zeitung“  richteten, gerade deshalb aber offenbar auf so verschiedene Weisen den Heutigen anempfohlen werden kann.

Überblickt man die Reden der Preisträger, sind es dabei folgende Momente, die immer wieder hervorgehoben werden:

Erstens: der Respekt gegenüber einer Lebensgradheit und Würde der Eigensinnigkeit, unter widrigsten Umständen zu sich zu stehen. „Es überwog, daß es ihn gab. Und daß es ihn gab, schwieg – für mich. Er war so etwas wie ein Unterpfand. Eine unfreiwillig heimliche Gewähr für den Grund des Schreibens.“, hebt Elke Erb hervor. Kaum eines der an Huchel gerichteten Widmungsgedichte gerade von Lyrikern und Lyrikerinnen aus der DDR, das nicht vom Untertext einer solchen Achtung getragen würde. Bei Huchel fasziniert eine seltene Koinzidenz von Leben und Werk, ein hochgemutes, gänzlich uneitles Ausharren an den „Rändern der täglichen Kommunikationswege“, wie es Jürgen Becker in seiner Rede benannte, „diese den laufenden Verständigungsstrom umgebenden Sprachränder, die vom öffentlichen Leben oft unbemerkt und in langen Fristen sich ausdehnen zu riesigen Gefilden, nach allen Richtungen hin. Man kann sie, den Hauptweg verlassend, betreten, und man nähert sich langsam einer Landschaft, in der die Phantasie blüht und die Imaginationen leuchten.“

Zweitens: Huchels Lebensleistung tritt um so deutlicher vor Augen, je mehr sich die Lyrik der Moderne am Ende dieses Jahrhunderts in ihren eigenen Aporien zu verfangen droht. In einer Phase zunehmender Erschöpfung einst fetischisierter Leitbegriffe wie „Innovation“ und notwendiger Besinnung auf die ureigenen Wirkungskräfte des Poetischen in einer durchbilderten Medienwelt bietet die Dichtung Peter Huchels  einen Raum zur Einkehr abseits trotziger Regression auf schalen Romantizismus oder dezisionistischer Isololationsgebärde an. Gerade Widmungsgedichte junger Lyriker wie Lutz Sailer oder André Schinkel, beide um die dreißig, zeigen an, daß hier Kontakt gesucht wird zu einer Dichtung, die von den lyrischen Bewegungen der Moderne in diesem Jahrhunderts berührt wurde, ohne ihrem jeweils modischem Charme zu erliegen; das war immerhin schon programmatisch im „Kolonne“-Konzept vorgebildet. Huchel-Preisträger Manfred Peter Hein beschreibt das scheinbare Paradox, daß Huchel nun schon mehrere Generationen deutschsprachiger Lyriker und Lyrikerinnen beeinflußt, aber nicht geprägt hat: „Und er hat keine Jünger um sich geschart, hat auch sonst nicht Schule gemacht. Wo andere verführten, wies er ab: Jeder, der schreibt, weiß, daß die Dichtung ihre eigenen Dimensionen hat. Aber jeder, der schreibt, weiß auch, wie schwer es ist, dem Schweigen ein Wort abzuringen.“ Michael Krüger zitiert in seiner Dankesrede den Gesprächssatz „Sie werden bemerkt haben, (...) daß die Bibel zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Außerdem verehre ich die Mystiker, vor allem Jakob Böhme.“, um anzuschließen: „ Die heutigen Literaturpolizisten, die mit gezücktem Messer die Poesie nach Stellen absuchen, mögen schaudern, wenn sie bei ihrer Gepäckuntersuchung auf das Wort Mystik treffen, aber offenbar gehört es zum Paradox des modernen Dichters, zugleich in dieser gegenwärtigen und in einer anderen Welt zu leben, offenbar ist diese für viele Zeitgenossen verwerfliche Lebensform Bedingung dafür, Aussagen jenseits der modernen Gewinn- und Verlust-Ethik zu formulieren.“

Drittens: In allen Reden – und einzubegreifen sind neben den etwas ausführlicher betrachteten jene etwa von Manfred Peter Hein, Michael Krüger, Jürgen Becker, Günter Herburger, Brigitte Oleschinski – wird der geheimnishaften Spannung Aufmerken geschenkt zwischen Gedächtnisarbeit im Gedicht und den besonderen poetischen Impulsen, die von Gedichten Peter Huchels ausgehen. So rekurrieren besonders Elke Erb, Wulf Kirsten und Michael Krüger auf die Sprachbeschlossenheit der Kindheitswelt, und sie verweisen auf diesen Gedächtnisort, „wo Erinnerung Bescheid weiß“ (Uwe Johnson). Im Wieder-Holen etwa der Lebenswelt der Häusler und dörflichen Handwerker gründet sich symbolisch eine Sprachnahme „für die, die ohne Stimme sind“, wie es Wulf Kirsten mit Theodor  Kramer formulierte. In den kriegerischen Zeiten am Ausgang des Jahrtausends liegt darin auch eine Maßgabe der Menschlichkeit. Oder, wie Claus Peymann in einer Diskussion zum Jugoslawien Krieg verzweiflungsnah zu bedenken gab: „Das ist ja vielleicht der einzige Ausweg, den wir noch haben: uns auf archaische oder poetische oder träumerische Positionen zurückzuziehen.“ (Berliner Zeitung, 3. Mai 1999)

 

Richard Pietraß

Woche des Buches

 

für Peter Huchel

 

Seit mir ein Stammler

den Mund verbot

studier ich

die Sprache der Tiere.

Mit einfachen Zeichen

sagen sie

sich das Nötige.

 

Mit dem Steiß markiert

der Dachs sein Revier.

Der Biber schlägt

mit dem Fettschwanz das Wasser

und der Otter

schnorrt in der Nacht.

 

Der Winter, hier

geht er zuende

mit schwimmenden Fellen.

Hoch über

der Hütte der Freunde

treiben die Gänse

ihren nordhin gerichteten Keil.

 

Vor seinem Rätsel

dämmert

der Angler. Arno, ein Fluß

in Italien. Herrlich

währt noch lange.