Peter Geistdie ganz großen themen fühlen sich gut an“ – die Wiederkehr des Politischen in der jüngeren LyrikJunge Dichter, alte Verhältnisse – Lyrik in den Zeiten des TurbokapitalismusIn einem Nachwort zu einer Lyrikanthologie der neunziger Jahre vertritt Theo Elm die an Arnold Gehlens Erstarrungsmetapher der ‘Kristallisation’ angelehnte Grundthese, die Lyrik der neunziger Jahre sei im wesentlichen exzentrisch und auskunftslos, zwischen Sinnverlust und Freiheitsgewinn lebe sie sich in die ‘Entwicklungsfremdheit’ (Benn) der Zeit ein.[1] Die
Rückkehr des Vokabulars der Adenauer-Zeit sagt viel über Klimaveränderungen
in den Geisteswissenschaften um die Jahrtausendwende aus. Zudem entbehrt sie
jeglicher Bemühungen um begriffsgeschichtliche Reflexion. Und mehr noch: Um
eine „Entwicklungsfremdheit der Zeit“ zu
behaupten, musste das Krachen im Gebälk großgeschichtlicher
Konstruktionen überhört werden. Überhört werden mussten die melancholischen
bis zornigen Befunde ostdeutscher Lyriker wie Heiner Müller, Karl Mickel,
Harald Gerlach oder Volker Braun über die gewollte Enteignung und Entmündigung
der ostdeutschen „Revolutionäre“, die
Verwandlung ihres Landstrichs in ein weitgehend deindustrialisiertes Mezzogiorno
nach 1990. Und das war nur das Vorspiel. Um eine „Entwicklungsfremdheit der
Zeit“ zu behaupten, musste ignoriert werden, dass in den neunziger Jahren die
dritte industrielle Revolution ihre volle Schubkraft entfaltete mit
irreversiblen Umbauten in den Industriegesellschaften, begleitet von den Vorstößen
neoliberaler Demagogie, die Gesellschaften in die Geiselhaft entfesselter
Marktkräfte zu nehmen. Jens Jessen weist zu Recht auf die totalitären Züge
dieser Ideologie hin: Nach
diesem Muster erklärt der neue Ökonomismus sämtliche Gesellschaftsphänomene,
selbst in der Kultur (Aufstieg und Abstieg von Kunstgattungen) und in der
Bildung (Untergang des altsprachlichen Gymnasiums). Mit anderen Worten: Das
Unterfutter der neuen Marktideologie bildet ein Darwinismus einfältigster
Sorte. Die Entwicklung der menschlichen Kultur vollzieht sich in dieser
Perspektive unsteuerbar wie die Evolution. Eine solche Behauptung ewiger Gesetze, nach denen sich
die Zukunft vorhersagen lässt, ist nun freilich nach der klassischen Definition
Hannah Arendts das wesentliche Kennzeichen aller totalitären Bewegungen. Sie
entbinden von jeder Form moralischer Abwägung; denn wer nach diesen Gesetzen
Opfer und wer Sieger sein wird, steht von Anbeginn fest.[2] In
diesem zunehmend marktradikalen Klima hat die Lyrik in ihrer spezifischen
Langsamkeit selbstredend keine guten Karten, mit ihr verdienen Verlage kaum
Geld, die Zahl der Konsumenten, die nach einem neuen Gedichtband greifen, dürfte
die Enzensbergersche Konstante von 1354[3]
immer noch nicht groß überstiegen haben, weshalb
viele Buchhandlungen ihre Lyrikregale längst abgeschafft haben, kurz:
sie ist alles andere als marktförmig. In ihrer Unverwertbarkeit liegen aber
auch Möglichkeiten. Kurt Marti etwa möchte sie als moralische Instanz
nobilitieren: Doch gerade dank ihrer merkantilen Irrelevanz hat sich die Poesie so
etwas wie Unschuld bewahren können inmitten des allgewaltigen Marktes. Ihre
Gewaltresistenz und Marktwidrigkeit verhilft der Poesie (ungesucht? ungewollt?)
zu einer moralischen Position – sofern Moral zu begreifen ist als Abkehr von
der Gewalt und als Widerstand gegen sie.[4] Für
Ulrich J. Beil leitet sich der politisch-subversive Charakter des Gedichtes in
den Zeiten des Marktterrorismus aus seinen rest-auratischen Potenzen her:
So warte „das Gedicht mit
Sperrigem auf“, und indem es ungefügig „auf unendliche Reflexion“
spekuliere, ließe es „vielleicht
einen letzten Rest von Benjamins Begriff der ‚Aura’ spüren, etwas von jenem
‚Fetischcharakter’ der Kunst, der, nach Adorno, den bloßen
‚Warenfetisch’ transzendiert.“[5] Beide
Inthronisierungen, die des Moralischen aus Marktferne wie die des Subversiven
aus dem Sperrigkeitscharakter des poetischen Textes, sind in ihrer Reduktion des
Moral-Begriffs (Marti) bzw. in der adornitischen Entweder-Oder-Logik, die wieder
einmal die Isolierung des Ästhetischen als Widerstandsakt ausgibt (Beil), überaus
kurzschlüssig. Aber sie enthalten in ihrer Hilflosigkeit Indizees für veränderte
Aufmerksamkeiten, die auch den Lyrikern und Lyrikerinnen der jüngeren
Generation nicht entgangen sind. Die allerdings nicht mit Brecht und Adorno
aufgewachsen sind, sondern mit ihren ersten literarischen Veröffentlichungen
illusionslos davon ausgehen mussten, dass „die
Lyrik, ein literarisches Mikroklima im Schatten der breiten Kulturmassive,
inzwischen schon beinahe ein selbstreferentielles System (ist).“[6]
Die sich deshalb von vornherein im Klaren darüber waren, wie gering die Chancen
des Gedichtes stehen, zu überzeugen, aufzuklären, zu warnen, kurz: politisch
relevante Wirkungen zu erzielen. Waren sie im Westen aufgewachsen, war das
Scheitern „eingreifender“ Poetikkonzepte in den sechziger Jahren und eine
weitgehende Diskreditierung politischer Intentionen in den nächsten dreißig
Jahren nur zu gegenwärtig. Die im Osten aufwuchsen, hatten die rasante
Entwertung der per se gesellschaftskritischen Funktion der Lyrik - noch in
sprachexperimentellen Varianten wie beim „Prenzlauer Berg“ - zu
DDR-Zeiten nach dem Anschluss 1990 zu verarbeiten und waren erst einmal gewarnt
durch die Hinrichtungsorgien des Feuilletons Anfang und Mitte der neunziger
Jahre. In der überhitzten markteuphorischen Atmosphäre der späten 90er Jahre
fanden Ost und West auch in der jungen Lyrik derweil relativ unkompliziert
zueinander, nicht zuletzt durch die Verwechselung neuer Kommunikationsmöglichkeiten
mit emanzipatorischen Offerten. Inzwischen
ist die gegenwartsversessene hedonistische Euphorie zusammen mit dem Hype des
„Neuen Marktes“ längst verflogen, aber ihr Erlebnis wie ihre rasche
Verflogenheit haben nachhaltig Spuren hinterlassen. Und neue Strukturen der Öffentlichkeit:
Die neuen Lyrikerinnen und Lyriker sammelten sich um neugegründete
Kleinzeitschriften wie „Lose Blätter“, „lauter niemand“, „edit“,
„Die Außenseite des Elements“, „Intendenzen“ oder eigens geschaffene
Internetplattformen, sie versammelten sich in Clubs, Bars und Lesebühnen außerhalb
der Literaturhäuser, um einander ihre Gedichte vorzulesen. Sie suchten und sie
fanden ein Publikum, für das Gedichte hören und Dichter ansehen Teil eines
gemeinschaftlichen Abendvergnügens war. Ende der neunziger Jahre, als die
„neuen Leute“, wie sie Gerhard Falkner nannte[7],
verstärkt in die traditionelle Öffentlichkeit drängten, hatten sie sich
allerdings auch damit auseinanderzusetzen, dass die Repräsentanten der nunmehr
mittleren Generation begonnen hatten, sich durch ambitionierte und oft
ausufernde Großprojekte in den eigenen Nachruhm hineinschreiben zu wollen
(Kling, Schrott, Grünbein, Czernin), sich dabei in etwas hochfahrende Fehden
untereinander verstrickt (Czernin versus Grünbein) bzw. sich zeitweise vom
brutaler gewordenen Literaturbetrieb dispensiert (Falkner) hatten. Die mit
diesen Entscheidungen einhergehende Strenge in ästhetischer oder politisch-moralischer
Hinsicht wirkte auf viele der Jüngeren befremdlich bis abschreckend;
symptomatisch hierfür ist beispielsweise die Abwendung vom einst als Vorbild
betrachteten Durs Grünbein nach den Satiren[8]. Es ist kein Zufall, dass
viele der jüngeren Lyrikerinnen und Lyriker sich eher an Gerhard Falkner
orientierten, der in seinem Werk mit Erfolg (dichtungsgeschichtlich, nicht
marktpolitisch) innovative Ausfaltungen in scheinbar ausgelaugte Traditionen des
sprachbezogenen, des politischen, des Liebes- und Alltagsgedichts vorführte.
Und so erstaunt es denn eigentlich doch nicht, dass sie in
Zeiten erheblicher Wahrnehmungsbrüche die Versicherung von Erfahrungswelt gegen
als nicht mehr tauglich empfundene kulturelle Verabredungen setzten. Für viele
jüngere Dichter in den Neunzigern waren das vor allem die einer postmodernen
Ästhetik, die in stillgestellter Zeit nur noch mit Luhmann Selbstreferentialität
im sich selbst genügenden Sprachspiel, der Kombinatorik des Vorgefundenen und
theoretisch aufgeladenen Erfindungen immer neuer Grammatiken bestand. Mit dem
Zusammenbruch des Ostblocks war es sowieso mit der „posthistoire“ vorbei.
Die pragmatisch gestarteten und nun zumeist selbst vor eher trübe Zukünfte
gestellten Dreißigjährigen hatten um die Jahrtausendwende mithin genügend Gründe,
sich angesichts gigantischer Umbauten in der Gesellschaft, der Erkenntnis- und
Informationssysteme, angesichts des ökonomistischen Zurichtungsterrors des
„homo faber“ zunächst einmal wieder ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer
Sensorien, ihrer Begehren versichern zu wollen. Und sie hatten einen Trumpf:
Netzwerker, die sie von Beginn an waren, mussten sie nicht mehr einem einsamen
Überbietungsgestus pseudoavantgardistischer Sprachbezogenheit folgen[9],
sondern nahmen sich die Freiheit, die Verknüpfungsmöglichkeiten, verbunden mit
einem communen Öffentlichkeitsgestus, als ästhetisches Paradigma zu
praktizieren. In dem unaufgeregt nun auch politische Invektive ihren selbstverständlichen
Platz haben konnten, ohne nicht mehr wehrlos den üblichen automatischen
Reflexen einer hochdressierten Literaturkritik ausgesetzt zu sein. Diese
Aufmerksamkeiten verdienen es, etwas genauer betrachtet zu werden. Der achte Tag - Utopie als Leerstelle
Und
das Spiel ist gelaufen. Im übrigen bin ich der Meinung Daß
der Sozialismus zerstört werden muß, und Mir
gefällt die Sache der Besiegten, endet
cato’sch ein Gedicht aus den frühen neunziger Jahren, ‘DAS THEATER DER
TOTEN’[10]
von Volker Braun. Die Arbeit des Lyrikers in der Geschichte bewegte sich nicht
mehr in der Spanne zwischen Ideal und Wirklichkeit, sondern wurde untergründige
Archäologie: ‘Wenn die Ideen begraben sind, kommen die Knochen heraus.’[11]
Das lyrische Ich in vielen Gedichten Brauns nahm die Haltung eines Untoten,
lebendig Begrabenen ein, eines ‘Verrückten / aus der Vorzeit, die die
Hoffnung kannte.’[12]
Eine Autorposition, die sich gar nicht so erstaunlicherweise variiert auch bei
anderen ostdeutschen Lyrikern, Heiner Müller, Harald Gerlach, Karl Mickel oder
bei Wilhelm Bartsch findet.[13]
Doch um Haltungen, die wenigstens noch den Utopie-Verlust für poetisch
mitteilsam hielten, wurde es in den neunziger Jahren mehr und mehr einsam. Man
musste ja gar nicht einem Ende-der-Geschichte-Triumphalismus á la Fukuyama
huldigen, um den Diskursverfall emanzipativer Denkbilder und Imaginationen
jenseits der scheinbar naturgesetzlich siegreichen „Marktwirtschaft“
wahrzunehmen. Die Prognose von Jürgen Habermas im Herbst 1990, nach der die
Abrechnung mit jenen DDR-Intellektuellen, die an sozialistischen Ideen
festhielten, nur das Vorspiel sein könnte für ganz andere Aufrechnungen und
Umwertungen, sollte sich mehr als nur bestätigen: „Den
Intellektuellen hier dienen sie auch als Reizattrappen – als Stellvertreter für
alle, die sich je für etwas engagiert haben, das übers juste milieu hinausging
und eine Wendung zum Besseren versprach. Der Stalinismus soll nun auf seine
wahren Wurzeln zurückgeführt werden: auf die utopische Regung, die das
Einverständnis behindert. Endlich soll Schluss sein mit den Projektemachern und
Besserwissern. Die Traumtänzer werden ins Private zurückgepfiffen. Die Dichter
sollen wieder dichten, die Denker denken, die Forscher forschen, die Staatsmänner
Staat machen – am besten mit Kirchengeläut. Niemand soll niemandem
hineinreden dürfen. Kein Dafür- oder Dagegensein: der Code selbst soll aus dem
Verkehr gezogen werden."[14] Und so kam es: Es ist kein Zufall, dass Luhmanns Theorie der selbstreferentiellen Systeme in den neunziger Jahren die Deutungshoheit in den Gesellschaftswissenschaften erlangte, dass es einen Paradigmenwechsel von geschichts- zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen in den öffentlichkeitsbildenden Debatten gab. Die Fokussierung auf Anthropologie, Hirnforschung oder Genetik, die in dieser Zeit auf spektakuläre Forschungsergebnisse verweisen konnten, blieb nicht ohne Einfluss auf Motivfelder und Interessenlagen der damals jüngeren deutschsprachigen Lyrik, mehr noch, sie besaß eine Durchschlagskraft, die Gewichtungen sanktionieren konnte: in der betonten Rückführung des Poetischen auf anthropologische Grundkonstanten bei Vernachlässigung des Geschichtlichen (Raoul Schrott), im Brückenschlag zwischen naturwissenschaftlichem und poetischem Erkenntnisinteresse (Grünbein, Urweider, Draesner), in der programmatischen Konzentration auf die „Selbstreferentialität“ des Systems der poetischen Sprache (Czernin, Stolterfoht, Egger, Waterhouse), in Anverwandlungen postmoderner Philosopheme in poetologische Strategien des „anything goes“ bei vorgehabter Demontage von als „avantgardistisch“ denunzierbaren (!) Poetologien (Petersdorff gegen Kling, Papenfuß etc.)[15] Nur auf den zweiten Blick war es
daher überraschend, dass etliche der neu hervorgetretenen Lyriker sich um die
Jahrtausendwende wieder verstärkt den ureigenen „alten“ Fragen der
Literatur zuwandte: Woher komme ich, wohin gehe ich, wie hänge ich mit der
Gesellschaft zusammen und die mit geschichtlichen Entwicklungen und Entwürfen,
was darf ich hoffen? In diesen Interessen wurden nun wieder verstärkt
Bezugnahmen etwa zu Volker Braun, Heiner Müller oder Thomas Brasch gesucht. So
greift Ron Winkler in seinem allerdings in prosodischer Holprigkeit
daherkommenden Gedicht „Systemverlust“[16],
das er Volker Braun zueignete, dessen Geschichtsmetapher „Theater der Toten“
auf: Systemverlust (für Volker
Braun) die eine Welt war wieder sichtbar
zwei geworden auf den Bildschirmen David
und Goliath, die Rollen vertauscht atmeten Rückschlag Entschärfung der Lage durch entSchöpfung
längst begonnen hat der achte Tag
das THEATER DER TOTEN die Zukunft geht aus (uns)
von VISIONEN zu sprechen liegt mir fremd wohnhaft in Fatalismus der Restposten Mensch
mit der Lösung durchdacht aus IBM thinkpads
sprechen Runen in die Luft >wir< schießen in die Wiege
die uns (Knochen) brach
K...-KARTHAGO das Pentagramm ist mit uns
In das Zentrum des Gedichtes
sind gedrängt und in poetischer Hinsicht durchaus problematisch mehrere
geschichtsphilosophische Abstrahierungssignale gestellt: „Zukunft“,
„Visionen“, „Fatalismus“. Der rabenschwarze apokalyptische Furor wird
durch alttestamentarische Verweise („David und Goliath, Schöpfungsgeschichte)
Pathos steigernd unterlegt. Die Grundidee des Gedichtes, Zukunft eher als
zombieistisches Jenseitsgeschehen (der achte Tag) rücklaufender Geschichte zu
imaginieren, wird durch die symbolhaften Splitterzeichen alter Geschichte
(„Karthago“ – hier ist natürlich auch Brecht mitzudenken[17],
„Runen“, „Pentagramm“) schlusshin verstärkt. Und kontrastiert mit
Zitatinseln aus der Sprache von Markt und Marketing, die in diesem Kontext der
Scheinsachlichkeit enthoben werden und ihren Zynismus offenbaren: „Restposten
Mensch“, „Lösung“, „durchdacht“, „IBM thinkpads“. Zugleich lässt
das Gedicht keinen Zweifel an der medialen Vermitteltheit der Bilder: „auf
dem Bildschirm David / und Goliath“, das „THEATER DER
TOTEN“, „IBM thinkpads sprechen Runen in die Luft“. Nicht zuletzt
die müllersch anmutenden Brachialverse mit dem Subjekt in Anführungszeichen
(„>wir< schießen in die Wiege /
die uns (Knochen) brach“ ) und einer aufschlussreichen, weil extrem
reduzierenden Selbstverweisung machen einen melancholisch-heillosen
Sehnsuchtskontext evident. So ist also die Befindungslage, und eine Rundschau
auf viele Gedichte gleichaltriger Autoren zeigt an: Winkler hat in einem eher mäßigen
Gedicht ziemlich viele Topoi konzentriert versammelt, die sich um und um in den
Gedichten der Dreißiger finden lassen. „Ich bin eine geräuschlose Maschine /
und werde gewartet mit dem Versprechen auf Zeit“, hebt ein Gedicht von Tom
Schulz an, um wenige Verse weiter in ein unpersönliches „man“ zu wechseln:
„Man weiß ja, man kann weder vor noch zurück./ Vorwärts und rückwärts /
Sind ausgeschlossene Richtungen. / Aussichtslos ist man, abgenabelt von
beidem.“ Denn „Man weiß: / Die Zukunft ist ein Kind der Diagnostiker.“[18]
Bei Björn Kuhligk heißt es lapidar: „daß die Zukunft uns brauchen würde war ein landesübergreifender Witz, in dem die
ersten den dritten das Bewußtsein runterfahren am Ende der persönlichen Computer steht der zentrale Zentralcomputer und löscht die brennenden Mönche der Vorzeit“[19] Wenn Zukunft und damit auch Geschichte in das Gedicht imaginiert wird,
werden bei allen drei Autoren reflexhaft Bilder der technischen Überwachung,
des Versperrtseins, der Ausweglosigkeit aufgerufen. Die Tonart ist dabei, anders
als bei Braun oder Müller, nüchtern konstatierend, unaufgeregt
diagnostizierend: Es ist der Unterschied zwischen verlorener Zukunft und entleerter
Zukunft im Zeitenblick der Sprecher. Wo empfundene Handlungsohnmacht im
geschichtlichen Raum in die Voraussetzungen des Sprechens eingegangen ist, hat
dann der Aberwitz alogischer Einräumungskonstruktionen seinen poetischen Platz,
wie bei Kersten Flenter: „Ich lebe in Deutschland aber Viele sagen ich sehe jünger aus Mit der Ruhe einer Vogelscheuche Stehe ich hier und seh meinem Leben Von außen zu ...“[20] Woher aber kommen die düsteren, flapsigen oder zynischen
„Prognosen“, wenn die lyrische Rede auf Erwartungen, Zukunft oder gar auf
„Utopie“ zu sprechen kommt? Es ist darum genauer darauf zu sehen, in welche
Erfahrungskontexte sie in den Gedichten gestellt werden. Vertraute Ketten - Lyrik und GesellschaftSymptomatisch
für die generelle Situation, in der sich die jungen Lyrikerinnen und Lyriker
bewegen, ist das Ende eines „Beat-Gedichts“ von Rainer Stolz: „... Da sah ich die Kunst: ein Turm
aus Schrott. Drumherum lungerten
Warengruppen. Ich sah wie Kontrakte sich
schlossen. Ich ging gespenstisch
um in vertrauten Ketten. Wieder trat die Utopie hart ein. Happyendverbraucher sah ich und ging rasch
zum Bäcker.“[21] Der Kurzschluss von Zitatresten
ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen und Wortneubildungen -
„Happyendverbraucher“ – generiert einen leichthin zusammengeschnittenen
Mix von Befindlichkeitskundgabe und Reflexion, der jedoch kaum über die
Beschreibung eines Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische
Geste, noch jedes Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung
der Warengesellschaft scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. Um so
schwieriger erscheint dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn: „in den
dunklen boutiquen der ichbildung / finden wir kinder, gefahren und penisse vor /
sag vorhang, sag dingdong, sag deutung“, entfährt es Monica Rinck beim „shopping
mit melanie klein“[22],
bei Björn Kuhligk ist „die Ich-Funktion ... einkaufen gegangen“[23].
Der Zugriff auf Kleinrealien des Lebens als Konsument (zum Bäcker gehen, in
Boutiquen, überhaupt einkaufen) erfolgt hier keineswegs naiv wie in vielen
Gedichten der alten „Neuen Subjektivität“, in der die Abkehr von
ideologiebefrachteter Reflexion bereits als subjektiver Befreiungsakt deklariert
wurde. Vielmehr sind die Konsum- und Markt-Sequenzen eingebunden in durchweg
groteske bis gespenstische Szenarien. „Abends im Lidl“[24]
heißt ein Gedichtband des Berliner Lyrikers Tom Schulz. Im Titelgedicht, das
Gerhard Falkner gewidmet ist und sich auf dessen Gedicht „Die Götter bei
Aldi“[25]
bezieht, entwirft der Autor ein schwarzhumoriges Genrebild der Depravierung: ABENDS, IM LIDL STEHT DIE ARBEITERKLASSE AN Orlando mit Wild: ein Ragout tragischer Rollen. Hunde mit vier Augen schnorren um Kippenreste u. Kümmelschnaps. Ich verneine, daß der Mensch eine Ware. Zwischen den Angeboten: Vögel als Spinnen. Es muß ein
Kuckuck durch Deutschland gehen.
Ein
Buntspecht in Rüstung u. Harnisch. Ruckediguh ... Blut ist im Schuh ... . der Freiheit die Augen zu verbinden u. nicht zu schießen Worauf warten wir noch? Daß uns die Östrogene das Fleisch fühlen läßt Reiß die Stimmen auf, ruft das Meer der Arbeitslosen. Ich suche den Faden, die Heftung: Worte zur Wundversorgung. ... Tom Schulz lässt in vielen seiner Gedichte ideologische Slogans aus der
DDR mit politischen Phrasen der Gegenwart reagieren und stellt sie in
Beobachtungs- und Imaginationskontexte, die sie noch zusätzlich verfremden.
Hier zitiert er den leninistischen Mythos „Arbeiterklasse“, auf die „das
Meer der Arbeitslosen“ als Naturalisierung des militärischen „Heers“
antwortet, aber auch ein verballhorntes Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten
Herzog, das schon im Original weitgehend sinnfrei war. Dass er den ominösen
„Ruck“ in das blutige „Ruckediguh“ des Aschenbrödel-Märchens entführt
und den „Kuckuck“ des Schuldeneintreibers dazwischenklebt, entbehrt nicht
der Raffinesse. Auf kleinem Raum führt der Text ein immenses Aufgebot an
Tierwelt-Topoi herauf (Wild, Hunde, Vögel, Spinnen, Kuckuck, Buntspecht, die
Tauben Aschenbrödels), die Schlag auf Schlag Dehumanisierung vorantreiben und
hehre Werte wie „Freiheit“ nur noch in der Karikatur ermöglichen. Der
unvollständig gehaltene Satz „Ich verneine, daß der Mensch eine Ware“
entblättert sich als purer Hohn, der kaum die Ratlosigkeit des Sprechers
kompensieren kann: „Ich such den Faden, die Heftung: / Worte zur
Wundversorgung“. Auf den ersten Blick weitaus
weniger sarkastisch geriert sich der Sprecher in einem Gedicht von Björn
Kuhligk: OHNE
KRAGEN UND WENN WIRS DENKEN
WÜRDEN Die Farbfilme lagern in Kühlschränken ein Beischlaf kann im Treppenhaus beginnen, ja, unter den Tieren sind wir die traurigsten wir kaufen Geld an Automaten wir mieten Zimmer für den Sommer wir lesen morgens Zeitung und erleben Déjà-vus, wir erwarten Liebesbriefe, die nicht kommen wir denken uns ein Land und vögeln bis ein Heiland niedergeht, und schieben Einkaufswagen durch einen schwerbestückten Laden ja aber, wenn wirs denken würden wir stünden auf Aussichtstürmen »Es gibt Ansätze«, würde jemand flüstern, »Eine Verbesserung« würde jemand hinzufügen, und vielleicht sagt es dann einer: »Der Mensch als kleinste wirtschaftliche Einheit« geht jeden Sonntag Kuchen holn oder steht vor einem Zielfernrohr an dessen Ende der Körper fällt,
»Machts gut, Nachbarn«, ja, es genügt zu wissen, wie eine Schwertlilie aussieht[26] Im Parlando-Stil erkundet das
Gedicht die Befindungslage eines wie immer gearteten „wir“ (Generations-Wir,
Freundschaften-Wir, Partner-Wir?). Die Inthronisierung eines kollektiven
Sprechers ist in ihrer Seltenheit ein starkes Signal, das über die Sehweise
eines einzelnen hinausdeuten soll. Auch Kuhligk bringt über einen dezenten
Verweis auf ein Grünbein-Gedicht[27]
Animalität ins Spiel, die durch das deftige „vögeln“ im zweiten Versblock
unterstrichen wird. Dieser wird gerahmt durch Beschreibungen von Tätigkeiten im
Ware-Geld-Verkehr, die allerdings durch zwei Abweichungen vom Normalsprachlichen
eine ungemütliche Konnotation erhalten: „wir kaufen
Geld an Automaten“ (statt holen, ziehen, abheben); „schieben Einkaufswagen
durch / einen schwerbestückten Laden“ (statt gutbestückten). Im Mittelteil
hingegen ist von ausgebliebenen Liebesbriefen, Utopia und einem orgiastisch
privatisierten „Heiland“ die Rede – statt einem anderen „Land“. Der
dritte Versblock wird durch drei konjunktivische Konstruktionen eingeleitet, in
denen von wünschbaren Veränderungen (der eigenen Lage?, des Landes?) die Zitat-Rede
geht. Vorsichtigkeiten, Schüchternheiten, Verunsicherungen in allem, was einst
unter dem Schlagwort „Gesellschaftsveränderung“ aufzutrumpfen vermochte.
Ein relativistisches „vielleicht“ führt dann wieder auf die im zweiten
Versblock angeschnittene Ebene der Reduktion des Menschen auf seine ökonomische
Funktionalität („der Mensch als / kleinste wirtschaftliche Einheit“) zurück.
Entspricht er dieser noch, wenn er „jeden Sonntag Kuchen“ holt, so holt der
Text schlusshin zu einer makaberen Pointe aus, um mit einer rätselhaften
Schlusssentenz zu enden: „ja, es genügt / zu wissen, wie eine Schwertlilie
aussieht.“ Die das Gedicht durchziehenden Signale der Natürlichkeitsferne,
des Lebens aus zweiter Hand in Imitationen, Illusionen, der Vertauschung von
sinnlich erlebbarer Realität mit den medialen Verzerrungen (Toposkette
Farbfilme – Zeitungen – Zielfernrohr) erfährt eine letzte Aufgipfelung. Die als symptomatisch betrachteten Gedichtbeispiele rekurrieren auf Veränderungen
im Erleben von Gesellschaft, die aufschlussreich sind: Dass ökonomische
Kategorien wie Markt, Ware-Geld-Beziehung und ihre ideologischen Destillate wie
„Verbraucher“, „kleinste wirtschaftliche Einheit“ etc. auf semantischer
Ebene derart häufig in Gedichte eingespeist werden, spiegelt nichts weniger als
den bewusst herbeigeführten Zerfall von Gesellschaft. Man mag um die
Jahrtausendwende noch über scheinmoderne Sprachregelungen aus dem
Bundeskanzleramt wie „Ich-AG“ oder „Deutschland-AG“ gespottet haben, sie
läuteten hingegen die Selbstaufgabe der Politik als Vermittlungsinstanz
zwischen Gesellschaft und ökonomischen Einzelinteressen ein. Die
kapitalgesteuerte Durchökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse
auch dort, wo sie gegen elementare anthropologische Konditionen und Bedürfnisse
des sozialen Tiers, das wir Menschen auch sind, verstoßen, zeitigt einen Zerstörungsfuror,
den die Politik fast jedweder Couleur nur noch mit kurzatmigen Versprechen oder
Beschwichtigungen und unverfrorenen Lügen wider besseren Wissens zu
verschleiern versucht. Noch Mitte/ Ende der neunziger Jahre hatten sich die
damals jüngeren Lyriker jenes einst spaßgesellschaftlich intendierten Aperçues
bemächtigt, das den Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne begreifbar
machen sollte: Die Moderne – die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos; die
Postmoderne – die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst[28].
Seit der Jahrtausendwende ist eher ein, den völlig verwaschenen Begriffe-Streit
ad absurdum führender Neologismus ins Diskursfeld zu führen, die angesagte
Post-Postmoderne : Die Lage ist hoffnungslos und ernst, aber nicht witzlos.
Noch einmal verkürzt: mit Aberwitz. Und den beherrschen etliche der jüngeren
Dichter und Dichterinnen augenscheinlich ganz gut. „Imitate und Tarnungen“ – Semiosen medialer Täuschung Zum Aberwitz als Grundierung von
poetischem Insistieren gehört gehört ein deutlich verschobener Blick auf die
mediale Vermitteltheit von Realitätswahrnehmung. Zur Erinnerung: Seit den späten
achtziger Jahren kultivierten Lyriker wie Thomas Kling, Marcel Beyer, Norbert
Hummelt oder Gerhard Falkner Techniken aus der Musik- und Filmindustrie wie
Cuttern, Sampeln, Überblenden, Ineinanderschneiden von Material. Sie sind für
die nachrückende Lyrikgeneration Selbstverständlichkeit geworden.
Problematisiert erscheint vielmehr die tendenzielle Enteignung individuellen
Empfindens und Wahrnehmens durch vorgefertigte Bilder. So beschreibt Marion
Poschmann in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Gnadenanstalt“[29]
Liebesgeschehen als TV-Programm: barocke
Lust überzuschwappen, die
zuckenden Lider, zuckenden Beine, dick
eingezuckerter Schlaf, süße Last dieses
Fleisch und schon außerhalb deiner Kontrolle, schon
fließend in Bilder, privates TV‑Programm,
rosiger Saft, den ich schlucke, du
hast deine Lippen auf meine geschraubt und
der Körper, pumpend und träumend, bewegt
sich nach Fernbedienung wir
gehen auf Sendung, die Glieder berühren
sich, geben Signale, ich habe die
Haut voller Sirup, ich klebe an
dir, späte Serien rinnen dahin, dünne
Spielfilme, REM-Phasen, zappend bearbeitet
uns die Nacht ... Wenn es in einem anderen Gedicht
der Autorin heißt: „Imitate und Tarnungen, halber Aufenthalt / wie auf
fotokopiertem Schnee“[30],
so hat sie damit treffend die Konsequenzen des Aufgehens in der Simulacrenkultur
angedeutet. Der Berliner Lyriker Daniel Falb geht noch einen Schritt weiter:
Seine Gedichte gleichen Versuchsanordnungen, bei denen präzise aufgezeichnet
wird, wie Realien mit Imitaten reagieren, Wahrnehmungssequenzen mit Bluffs. Die
Ergebnisse sind ein um das andere Mal verblüffend:
umgeworfene BMWs, genaue beschreibung der sachschäden
im tageslicht und so viel tourismus. ich sah überall muskelnund
durch die gesten hindurch auf das meer. ein paar tage lang hieß
die animateurin beate, dann blieb sie plötzlich weg und alle ahnten etwas. im
hotelzimmer gab es kabelfernsehen, wir sahen
die tagesschau, die terroristen waren wirklich gut gemacht.[31] Daniel
Falb erreicht durch oft nur minimale Abweichungen in seinen sachlich
erscheinenden Aussagesätzen (etwa „ich sah (...) durch die gesten hindurch
auf das meer“) und gezielte Aussparungen eine Irritation, die in poetische
Effekte von kaltem Glanz übergehen: „die terroristen waren wirklich gut
gemacht.“ Gerhard Falkner erläutert in seinem Nachwort zu Falbs erstem
Gedichtband „die räumung dieser parks“, wie dieser „poetische Knick“
entsteht: „Manchmal dringt aus den Gedichten, wenn es nicht der Tonfall der
wissenschaftlichen Reportage ist, der Tonfall des politischen Kommentars. Die
Zeilen scheinen mit dem Klang einer Radikalität imprägniert, die sich nicht an
Aktualität, Verbindlichkeit und Folgerichtigkeit abnutzt, aber gerade dadurch
wird poetische Sprache dimensioniert für ein Sprechen vorbei an der
Kommunikationsschablone, ohne den Aberwitz sich permanent annullierender
Information.“[32] In dem Gedicht „leichte bewaffnung“[33]
kontaminiert Falb eine haarsträubende „story“ mit Gefangennahme und Erschießen
mit dem Hinweis auf „hefte /zur politischen bildung“. Sollten die Hefte „über
die BRD“ der Grund für Gefangennahme und Hinrichtung gewesen sein? Solche
Fragen zu stellen ist eher müßig: Falb schleust in seine Texte Reizvokabular
aus der politischen Sphäre ein, wie auch gerne geattentatet, in die Luft
gesprengt und sowieso der Colt gezogen wird. Die Verweise in die politische Sphäre
entpuppen sich als „tokens“[34],
als Münzen in einem Spiel der performativ intendierten Kombinatorik. Sie sind
nicht Gefühls- oder Meinungssurrogate, sondern hergerichtet. Wichtiger als die
Semantik einzelner Motivfelder ist dem Autor offenbar, wie diese miteinander
reagieren, welche Leerstellen wann umrandet werden. So ganz nebenbei konstatiert
ein Gedicht: „die ganz großen themen fühlen sich gut an.“[35]
Auch bei anderen Autoren fällt auf, dass bei der Aufnahme scheinbar brisanten
politischen Wortmaterials Radikalität nur simuliert wird. Es wird eher ironisch
zitiert, wohl wissend, dass die Meinungs-Trümpfe politischer Inkorrektheit
nicht mehr stechen und sie längst lediglich kalkulierte Spieleinsätze für ästhetische
Effekte geworden sind, wie hier bei Gerald Fiebig: ... was macht männer wirklich erotisch?
lautet die frage auf der kanzleramt-party der SPD-Wahlkrampfkader am Neue-Heimat-abend in der hanns-martin- schleyerhalle in
stuttgart: die stalinorgelpfeifen des alleinunterhalters spielen Stammheim Homesick Blues, schon seit stunden. schleyerfahndung nach dem tontechniker, im fernsehen dylan beim
papst, jazz in der aussegnungshalle, das kollegium jammt.[36] ... So entleert die traditionelle politische Rhetorik
erscheint, so aufgeladen sind hingegen die medientechnischen
Simulationsszenarien, aufgeladen mit Überwachungsprojektionen, Bildern allmächtiger
Kontrolle und des Verschwindens der Welt hinter der „Matrix“ - der
gleichnamige Film dürfte, tiefgestapelt, anregend gewesen sein. Und das alles
sicher nicht ohne handfeste Gründe. Das Gedicht „bezirkskrankenhäuser“ von
Gerald Fiebig endet: ... der gläserne patient - dein kopf ist ein
bildschirm. die liebe ist kabelfernsehen. eine satellitenstadt die
welt. du bist im falschen film. gehst durch die
glaswand. willst in den richtigen kommen. wirst wieder hinter eine glaswand gesperrt. dein kopf ist eine
mattscheibe. nimm deine bildschirmschoner dreimal am tag. hinter den glasscheiben ist die welt nicht zu sehen. auf dem bildschirm des oberarztes deine
krankengeschichte. der himmel ist der bildschirmschoner gottes.[37]
Ob nun „am
Ende der persönlichen Computer (...) / der zentrale Zentralcomputer“[38]
(steht), „hinter den glasscheiben (...) die welt nicht zu sehen“ ist, die
Angst, selbst jener gläserne Patient sein zu können, ist in der jüngeren
Lyrik evident: „der gläserne patient: dein gesicht wird zur linse. / wirft
die bilder der straße zurück in den kopf / mit untertiteln, die dir
anweisungen geben / in einer sprache, die du nicht lesen kannst, / ihre
grammatik ist angst.“ Welch eine Differenz zu den Technik- und
Biologieeuphorien in der deutschsprachigen Lyrik Mitte der neunziger Jahre! „ihre grammatik ist angst“ – Globalisierungsfuror und soziale
Verwerfungen im Gedicht Zeichen eines permanenten
Unbehagens schreiben sich allenthalben in Gedichte, die sich, selten genug,
etwas weiträumiger mit „Welt“ ins Vernehmen setzen. Auch hier wird das
Politikergerede von „Aufbruch nach Europa“ oder „Globalisierung“ als das
vorausgesetzt, was es unter der ideologischen Tünche ist, als Veranstaltung des
Finanz- und Großkapitals zum Zwecke der Gewinnmaximierung weltweit. Und so
„verlieren sich Gedanken in / Gedanken, und halten ein, Europa, / und handeln
deinen Aufbruch / zu Aufenthalten ab.“[39]
Dass selbst Aufenthalte in der „Festung Europa“ nicht jedermann zustehen,
thematisiert Björn Kuhligk in „Die Liebe in den Zeiten der EU“: „Wie ein
Grenzschutz wieder / eine Linie zieht, es muß, es / darf geschossen werden, das
/ muß, das darf gefilmt werden./(...)“[40].
Von vergleichbar kriegerischen Invektiven durchzogen sind die Gedichte „generation
golfkrieg“ und „weltmarktführer“[41]
von Gerald Fiebig. In letzterem werden die Strategien global operierender
Unterhaltungsindustrie (etwa „Miss-World-Wahlen) als Teilmoment der Ausplünderung
der „dritten Welt“ im Weltwirtschaftskrieg ausgestellt: ... & hier in der westlichen misswelt des freizügigen
marktes, nur viereinhalb miese greenwichstunden von der dritten
entfernt, liefern sich schwindsüchtige brüste in nassen
benetton‑T‑shirts einen sterbe-contest zwischen den weihnachtseinkäufern
& schauen hustend auf die plakatfront, die näherrückt
von zwei seiten. die festliche aktmodellgarnitur von C & A wurde aus der DNS von hennes mauritz
geklont – - denn am sechsten tag schuf der herr die
dessous; am siebten tag das schaufenster & das fleisch,
oben ohne kopf - der kam erst irgendwann später; & am montag begann das weihnachtsgeschäft mit miss world als
patronin. vor der kür haben uns die inderinnen geschenke genäht; nach der kür bedankte sich die 18jährige mit einer typisch indischen
geste.... Man hatte längere Zeit solche eher rauen Töne nicht mehr vernommen, nun
sind sie kaum mehr zu überlesen. Es sei denn, man heißt Michael Lentz, der in
oberflächlichen Rundumschlägen, die er „Thesen“ nennt, behauptet: Keine Strömungen derzeit, höchstens
Brisen und Rettungsschwimmer, kein Arschloch der Jahrtausendwende. Es herrscht
weitgehend eine Bravheit, daß die Verdauungsorgane ihre Tätigkeit einstellen
sollten.[42] bin laden geht in die berge,
geht bewundernswert & ...[43] jeder
authentizitismus paktiert mit bin laden - aber auch der dichter des (wie immer
gearteten) rückzugs wird bin laden im gebirge versehentlich als bruder anreden. Hendrik Jackson weiß genau, wovon er spricht: In „brausende bulgen. 95
Thesen über die Flußwasser in der menschlichen Seele“[45]
setzt er sich über die Figur Thomas Müntzers mit apokalyptischen Konzeptionen
und der Sprache geschichtlicher Handlungsohnmacht auseinander, um die Grenzen
zum Fanatismus und zur Hypostasie von Gewaltphantasien abzutasten. Dies
erscheint nicht zuletzt deshalb unabdingbar, um in Zeiten längerfristiger
Dehumanisierung der Gesellschaftsverhältnisse, wie sie von den ökonomisch Mächtigen
energisch betrieben wird, den Wirkungsraum poetischen Sprechens real ausleuchten
zu können. In einer „Himmelsmechanik nach Eden“ hält Steffen Popp dieses
trostarme Welt-Bild in einer geschickten Sprachmischung von Ironie, Slapstick
und Bilderpathos fest: „Bis
auf den letzten hässlichen Engel beuten
wir alle das heilige Licht aus und
wirklich kommt aus diesem Licht seit
einer Ewigkeit nichts als
dieser letzte, unsagbar hässliche Engel (...) ein
letzter mechanischer
Hase am Weltrand, er winkt
uns...[46] Wenig verwunderlich erscheint es, dass im Weit- und im Nahblick Versuchungen
nachgegeben wird, das Gedicht mit exzessiven Gewalt-Signalen zu bestücken:
„Wenn zwei sich küssen ist das / der nächste Weltkrieg“, behauptet Tom
Schulz in „Berliner Herbst“[47].
Insofern scheint Jacksons Intervention berechtigt, gegen das eilfertig Zuhandene
seiner gleichaltrigen Dichter-Kollegen anzugehen. Doch soll das Zitatvorfeld des
Gedichts von Tom Schulz beachtet werden. Darin entwirft er ein schroffes
Genrebild mit Brechtschem Krypto[48]-
und Rexrodtschem Originalzitat: BERLIN
IST VOLLER HASS-AMPELN Die
verbliebenen Vögel Bitten
um eine Eissuppe Wenn
die Frau mit der MäcGeiz Tüte
den Arbeitstag überlebt hat u.
ihren todsaufenden Mann in
die Windeln schlägt BOSHAFT
UND TOTALES BLECH (Günter
Rexrodt) ...[49] Wichtiger als die Aufzeichnung sozialer Dramen
ist ihre Konfrontation mit Versatzstücken der Herrschaftssprache. Deren
allgegenwärtige Präsenz und vor allem Dominanz in der Öffentlichkeit führt
den gern gepflegten Sekundärmythos von der postmodernen Pluralität der
Diskurse ad absurdum. Deshalb geht es den jüngeren Lyrikern nicht um
naturalistische Abbildungen, wenn sie in ihren Gedichten die um sich greifende
soziale Verelendung als motiv-wert in die Texte nehmen, sondern um die Erkundung
der Diskrepanz zwischen Ideologie und eigener Wahrnehmung. „Großes Kino“[50],
überschrieb Björn Kuhligk das Titelgedicht seines letzten Bandes: Die
Plastikstühle in dem Einkaufszentrum auf
denen die Altersarmut Platz nimmt und
Kaffee aus gemieteten Bechern trinkt und der kleine, nicht mal
geschlechtsreife Irre der
jeden Morgen »Gute Nacht« brüllt und der Mann, der unter der
Rolltreppe hockt
und Schokolade ißt und diese kleine,
von oben gedrückte Tüten-Frau,
die öffentlich blutet Die Diskrepanz zwischen der Reihung Berliner
Armutsszenen und der Überschrift bestimmt die Gedichtspannung, denn nun lassen
sich die Beobachtungen als Momentausschnitte aus alltäglichen Mini-Dramen
lesen. Eine solche Verknüpfung ist etwas anderes als der
lyrische Naturalismus der „Neuen Subjektivität“, deren Widergänger zu sein
Kuhligk verdächtigt wurde[51].
Wie dem auch sei: Soziale Realität wird wieder tiefenschärfer ins Gedicht
geholt. Und schon kursieren „Thesen zur sozial-realistischen Lyrik“[52],
die eine sozial
orientierte, „verständliche“ Gebrauchlyrik in Abkehr von der „überflüssigen
Verrätselung“ [53] fordern. Damit werden leider wieder einmal nur
gängige Vorurteile gegenüber moderner Lyrik reproduziert. Das Rätselhafte gehört
zum essentiell zum Poetischen, wie eingängige Verständlichkeit Langeweile
produzieren kann; ästhetische Kriterien lassen sich nicht einfach dispensieren.
Sie aber entschiedener rückzubinden an gesellschaftliche Widersprüche, an
Lebensfragen, die von den immer uniformer und aggressiver gewordenen
Herrschaftsdiskursen in den kapitalistischen Gesellschaften verschwiegen,
umgelogen, umgewertet werden (Stichwort „Reform“), dieses Bedürfnis
entspricht offenbar Intentionen etlicher Lyriker und Lyrikerinnen der jüngeren
Generation. Es bleibt zu hoffen, dass sie beides schärfen können: den
engagierten Blick auf die nähere und fernere, jedenfalls Empörung befördernde
Weltverfasstheit wie den auf ihr ureigenes Instrumentarium, die Sprache der
Poesie.
[1]
Vgl. Theo Elm: „Einleitung“, in: Theo Elm (Hg.): „Lyrik der neunziger
Jahre“, Stuttgart 2000, S. 15 -
35, hier S. 25. [2] Jens Jessen: „Fegefeuer des Marktes“, in: DIE
ZEIT, Nr. 30, 21.
Juli 2005, S. 33. [3]
Hans Magnus Enzensberger: „Meldungen vom lyrischen Betrieb“, in: ders.:
„Zickzack . Aufsätze.“, Frankfurt a.M. 1999, S. 184. Ursprünglich
23.3.1989/ FAZ. [4]
Kurt Marti: „Poesie ist Moral: Fast ein Manifest“, in: Das Gedicht,
Politik und Poesie Nr. 10/ 2002, S. 116. [5]
Ulrich J. Beil: „Der sechsbeinige Hund. Lyrik ja – aber Politik?“, in:
Ebenda, S. 113. [6]
Gerhard Falkner: „Baumfällen. Zur Phänomenologie des Niedermachens in
der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes
‚Lyrik von Jetzt’“,
in: ndl 2 (2004), S. 123f. [7]
Gerhard Falkner: „Vorwort“, in: „Lyrik von Jetzt, 74 Stimmen mit einem
Vorwort von Gerhard Falkner, Hrsg. Von Björn Kuhligk und Jan Wagner“ (LJ),
Köln 2003, S. 12. [8]
Durs Grünbein: „Nach den Satiren“, Frankfurt a.M. 1999. [9]
Vgl. Franz Josef Czernin: „elemente, sonette“, München Wien 2002 [10]
Volker Braun: „Das Theater der Toten“, in: ders.: „Lustgarten. Preußen, Ausgewählte Gedichte“, Frankfurt a.M.
1996, S. 146. [11]
Volker Braun: „Nach dem Massaker der Illusionen“, in: ders.: „Tumulus“,
Frankfurt a.M. 2000, S. 28.; siehe auch: „Die
Verhältnisse zerbrechen, Rede
zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000“, Frankfurt a.M.
2000, S. 25. [12]
Volker Braun: „Das Nachleben“, in: „Tumulus“,
a.a.O., S. 14. [13]
Vgl. Heiner Müller: „Fremder Blick: Abschied von Berlin“ (S. 287),
„Und gehe weiter in die Landschaft“ (S. 309), in: „Müller, Werke 1. Die Gedichte“, Frankfurt a.M. 1998; Karl Mickel:
„Grabung“, in: „Jahrbuch der
Lyrik 2001“, S. 24; Harald Gerlach: „Orte“, in: Gerlach: „Nirgends und zu keiner Stunde. Gedichte“, Berlin 1998, S. 5; Wilhelm Bartsch: „Verlorene
Erde. Nach Walter Bauer“, in: Bartsch: „Gen
Ginnungagap. Gedichte“, Halle (Saale) 1994, S. 14. [14]
Jürgen Habermas: “Vom sinnlichen Eindruck zum
symbolischen Ausdruck”, Frankfurt/Main 1997, S.138f; Laudatio vom
25.09.1990 [15]
Dirk von Petersdorff: „Was ist an Kitzbühel so schlimm? Junge Lyrik. Fünf
Porträts, ein Essay, ein Gedicht“, in: Neue Rundschau 3 / 1993, S. 88 –
105. [16]
Ron Winkler: „Systemverlust“, in: LJ, S. 305. [17]
Vgl. Bertolt Brecht: „Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar
nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“, in:
„Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“, 1951, in:
ders.: „Ausgewählte Werke in sechs Bänden“, Frankfurt a.M. 1997, Band
6, S. 571. [18]
Tom Schulz: „Ich bin eine geräuschlose Maschine“, in: LJ, S. 349. [19]
Björn Kuhligk: „Der Stoff, aus dem die Welt“, in: Ebenda, S. 157. [20]
Kersten Flenter: „Ich lebe in Deutschland“, in: Ebenda, S. 186. [21]
Rainer Stolz: „Beat-Gedicht“, in: Ebenda, S. 59. [22]
Monica Rinck: „shopping mit melanie klein“, in: Ebenda, S. 22. [23]
Björn Kuhligk: „Der Stoff, aus dem die Welt“, in: Ebenda, S. 157. [24]
Tom Schulz: „Abends, im Lidl“, in: ders.: „Abends im Lidl“, Köln
2004, S. 67. [25]
Gerhard Falkner: „Die Götter bei Aldi“, in: ders.: „Endogene
Gedichte“, Köln 2000, S. 101. [26]
Björn Kuhligk: „Ohne Kragen und wenn wirs denken würden“, in: ders.:
„Großes Kino“, Berlin 2005, S. 37. [27]
Vgl. Durs Grünbein: „Biologischer Walzer“, in: ders.: „Falten und
Fallen“, Frankfurt a.M. 199 , S. . Bei Grünbein ist freilich die Rede
davon, dass wir „schwierige Tiere sind“. [28]
Symptomatisch hierfür sind etwa die yuppieistischen Gedichte des in
Lyrikerkreisen immer schon als Scharlatan verhandelten Dirk von Petersdorff,
vgl. ders.: „Wie es weitergeht“, Frankfurt a.M. 1992; „Zeitlösung“,
Frankfurt a.M. 1995; „Bekenntnisse und Postkarten“, Frankfurt a.M. 1999. [29]
Marion Poschmann: „Gnadenanstalt“, in: LJ, S. 32 [30]
Marion Poschmann: „winterliche Anwendung mit Teelichtern“, in: LJ, S.
33. [31]
Daniel Falb: „umgeworfene bmws“, in: ders.: „die räumung dieser parks“,
Idstein 2003, S. 57. [32]
Gerhard Falkner: „Dieses regionale Getreide. Zu den Gedichten von Daniel
Falb“, in: Ebenda, S. 69. [33]
Daniel Falb: „leichte Bewaffnung“, in: Ebenda, S. 17. [34]
Diesen Hinweis verdanke ich Gerhard Falkner. [35]
Daniel Falb: „nächtelang zeigte die webcam“, in: Ebenda, S. 12. [36]
Gerald Fiebig: „die neue s-klasse (wahlkampf ´97)“, in: ders.: „erinnerungen
an die neunziger jahre“, Riemerling 2002. [37]
Gerald Fiebig: „bezirkskrankenhäuser“, in: Ebenda, S. 43. [38]
Björn Kuhligk: „Der Stoff, aus dem die Welt“, LJ, S. 157. [39]
Boris Preckwitz: „Europastraße“, in: Ebenda, S. 201. [40]
Björn Kuhligk: „Die Liebe in den Zeiten der EU“, in: ders.: „Großes
Kino“, a.a.O., S. 36. [41]
Gerald Fiebig: „generation golfkrieg“, „weltmarktführer“, in: ders.:
„erinnerungen an die 90er Jahre“, a.a.O., S. 71 bzw. 63f. [42]
Michael Lentz: „10 Thesen zur Poesie“, in: Christoph Buchwald und
Norbert Hummelt, Hrsg.: „Jahrbuch der Lyrik 2006“, Frankfurt a.M. 2005,
S. 167-170. [43]
Hendrik Jackson: „Schutz vor Nachstellung, meiner Vorstellung nach“, in:
Zwischen den Zeilen, H. 24 (2005),
S. 85. [44]
Hendrik Jackson: “Statement”, in: www.metroprolet.de [45]
Hendrik Jackson: „brausende bulgen. 95 Thesen über die Flußwasser in der
menschlichen Seele“, Wien Lana 2004. [46]
Steffen Popp: „Himmelsmechanik nach Eden“, in: ders.: „Wie Alpen“,
Idstein 2004, S. 48. [47]
Tom Schulz: „Berliner Herbst“, in: ders.: „Abends im Lidl“, a.a.O.,
S. 16. [49]
Ebenda. [50]
Björn Kuhligk: „Großes Kino“, in: ders.: „Großes Kino“, a.a.O.,
S. 32. [51]
So von Michael Braun, siehe: Michael Braun:
„Freiwillige
Abstürze in die poetische Unterkomplexität: ‚74 Stimmen’ vereinigen
sich zum misstönenden Konzert einer ‚Lyrik von JETZT’“, in: Basler
Zeitung; 25.07.2003; Seite 32. [52]
Enno Stahl: „Thesen zur sozial-realistischen Lyrik“, in: www.krash.de
[53]
Ebenda, These 7.
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