Dr. Peter Geist

 

„von kichernder Angst in Räumlein getrieben“ – der „Berlin“-Topos in Uwe Kolbes Lyrik

 

I

„wunderbares Versteck in der Dschungel“ - Berlin als Raumzeit

 

Seit den Zeiten des Expressionismus gab es keinen deutschen Dichter von Hochformat mehr, der derartig innig, obsessiv und ausdauernd seine Hassliebe zu Berlin ins Gedicht gebracht hätte wie Uwe Kolbe. Sie gipfelt in Zeilen wie „Berlin hieß meine eigentliche Mutter“[1], „Ich treibe einen Stollen in die Mutter / Berlin“[2] - gefühlsintensive Objektverschiebungen und -besetzungen bis ins Inzestuöse. Diese Übertragungen einer Mutter-Kind-Dyade befremden zunächst bei einem Lyriker, dessen Werk wie kaum ein zweites in jüngerer Zeit von Umtriebigkeiten, Ausfahrten, Welt(en)erkundungen geprägt ist. Dies ist Widerspruch wie Kontext  und eine schwierige Beziehung, intim sowieso. Deswegen verlohnt es sich, den Berlin-Spuren in ihren vielgestaltigen Figurationen genauer nachzugehen, weil sie offensichtlich mit dem Kern Kolbeschen Insistierens zu tun haben.

Uwe Kolbes Debüt „Hineingeboren“ (1980) war eine literarische Sensation, nicht zuletzt deshalb, weil diese lyrische Stimme in ihrer radikalen Subjektivität das Lebensgefühl seiner Generation an- und auszusprechen verstand. Und zwar so sehr, dass späterhin der Topos von der Generation der „Hineingeborenen“ als fester Begriff Eingang fand in Soziologie und Literaturwissenschaft. „Hineingeboren“ hieß zuerst einmal, als junger Mensch in der DDR der siebziger Jahre gesellschaftliche Verhältnisse vorzufinden, die nach den Umbrüchen zwischen 1945 und Anfang der sechziger Jahre zunächst befestigt, jetzt bereits zementiert erscheinen mussten. Der erst Ende der sechziger Jahre aufgerichtete Beton der Berliner Mauer wurde das sichtbare Symbol einer von den damals Jugendlichen zunächst weithin noch unbegriffen erfahrenen Versteinerung gesellschaftlicher Entwicklung. Die allerdings wurde in den siebziger Jahren zunächst diffus alltagsgegenwärtig. Was das für die generelle Befindlichkeit einer ganzen Generation bedeutete, brachte Kolbe in einem Gespräch mit Ursula Heukenkamp 1979 auf den Punkt: „Meine Generation hat die Hände im Schoß, was engagiertes (!) Handeln betrifft. Kein früher Braun heute.(…) Ich kann noch weitergehen und sagen, daß diese Generation verunsichert ist, weder richtiges Heimischsein hier noch das Vorhandensein von Alternativen anderswo empfindet.“[3] Diese Unsicherheit ist neben der Berlin-Fokussierung der paradoxe zweite Fixpunkt in der ideellen Ellipse von Kolbes Debütband, denn den durchzieht ein ständiger Gestuswechsel: Eben noch sanfter Melancholiker, entäußert sich das lyrische Ich als pantagruelischer Berserker, eben verschämt romantik-affin, darob expressionistisch grobianisch. Adoleszenz-Zeichen in den extremen Gefühlsschwankungen allenthalben, aber genau deswegen wurde dieser schmale Gedichtband zu einem der wenigen Kultbücher aus DDR-eigener Produktion: Weil er die spätpubertätstypischen Gefühlsamplituden sprachlich anzuschließen begehrte an die historischen und aktuellen Weltläufte, auch wenn das wieder und wieder scheitern sollte. Und schon kenntlich wurde in einer grundsätzlichen, nicht taktierenden Volte gegenüber durchaus diffizilen Einvernahmungsangeboten der Offizialdiskurse. Angst, Lust, Stolz, Empörung – all diese Emotionen gibt das sprechende Ich überaus freigiebig preis. Vor allem aber: In expressionistischer Tradition wird der erstarrten Väterwelt die eigene Unruhe  entgegengesetzt; je weniger die Verhältnisse sich als beweglich erweisen, desto mehr bewegt sich das Ich. Es bewegt sich leibhaftig, ja es wütet zuweilen („Ich schlag und hau und dresche“[4]), es bewegt sich metaphysisch („Es hält mich nichts an einem fest, nirgend kann mich etwas halten“[5]), es bewegt sich poetisch-poetologisch („Jeder Weg macht mich wirr, / jeder Schritt erinnert mich/ an den größten Anspruch bei Braun / und bei mir. // Ich bin aufgehetzt worden. / Die Geschwindigkeit nimmt zu.“[6]). Und es bewegt sich, profan und im Gedichttext sogar narrativ, im Berlin der siebziger Jahre, unentwegt. In einem wenig nachsichtigen Rückblick auf sein Debüt bekennt der Autor 2007:

 

„Das poetische Grundmaterial dieser Gedichte, die darin eingeschriebene Landschaft ist ein kindlich und unreflektiert aufgesogenes Nachkriegsberlin. Dieser Fundus ist für mich noch lange nicht ausgeschrieben.“[7]

 

Wie fast immer in Rückprojektionen von Dichtern auf das Beginnen wird die handwerkliche Unzulänglichkeit[8] und Naivität moniert, beides stimmt immer ein bisschen und im Ganzen fast nie. Denn bei fast allen Dichterinnen und Dichtern der Moderne gibt es weniger eine „Entwicklung“ im Sinne gesellschaftlich goutierten Fortschrittsdiskurses denn eine Entfaltung aus einem Nukleus heraus, nur lässt sich diese einfache Tatsache von jeher schwer in die Grundgläubigkeiten von Basisideologien egal welcher Provenienz integrieren. Nur wenige Sätze weiter bestätigt Uwe Kolbe diese basale Tatsache:

 

„Andere Themen als die der ersten Gedichte werden sich bei mir nicht finden. Alles ist darin schon angeschlagen, nur dass Schlegel und Glocke noch nicht zueinanderpassen, selten zu dem Klang finden, der mich später zu interessieren begann.“[9]

 

Ein Grund mehr also, den Berlin-Verweisen in Gestalt und Funktion genauer nachzuspüren.

Am wenigsten unstrittig erscheinen Berlin-Topoi in ihrer unmittelbaren Bezeichnungsfunktion, die im Gedicht natürlich auch Bedeutungshöfe einschließt. Auffällig oft nimmt Kolbe schon in seinem Erstling topographische Bezeichnungen im Gedicht auf: „Niemands S-Bahn / unter der Bornholmer Brücke“[10], „Brunnenstraße“[11], zweimal „im Prenzlauer Berg“[12] [13], „im düstern Chaos des Gaswerks / im alten Norden der schönsten Stadt“[14], „S-Bahn-Zug / Oranienburg –Flughafen Schönefeld“[15], „Lychener Straße“[16]. Die konkreten Ortsangaben befördern selbstredend die sinnliche Vorstellungskraft, zeugen von der urbanen Verwurzeltheit und gleichzeitig Umtriebigkeit des Sprechers, zumal wenn sie mit allgemeineren Verweisen auf Stadträume unterfüttert wie „Straße“ (15 Nennungen), „Stadt“ (10 Nennungen), „Hof“ (8 Nennungen) und gebunden werden an heftige Bewegungsverben. Die Stadt Berlin, genauer Ostberlin plus Mauer, wird als Lebensraum gezeichnet, absichtsvoll ein Netz geknüpft mit topographischen Angaben, das Effekte zeitigt: Die beiläufig erscheinenden Straßennamen kreisen ein Gebiet ein, das in den siebziger Jahren Synonym wurde für den anscheinend einzig noch besetzbaren Lebensort in der DDR für Leben, Utopie, Abenteuer im Sehnsuchtspaket, ehe er in den achtziger Jahren für viele Durchgangsstation für die Ausreise aus der DDR wurde: Der ehemalige Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg. Die „Niemands-S-Bahn unter der Bornholmer Brücke“ der Linie „Oranienburg –Flughafen Schönefeld“ spielt auf den Umstand an, dass diese an nämlicher Stelle zwischen den Stationen Pankow und Schönhauser Allee einige Minuten zwischen Vormauer und eigentlicher Mauer, direkt im Grenzgebiet fuhr – und den Insassen immer wieder schauriges Gefühlsdenken von „was wäre wenn“ auf gelbrotem S-Bahn-Tablett offerierte. Diese Beispiele zeigen, dass bereits bloßes Nennen mit Bedeutungen und Konnotationen aufgeladen wird. Mit den Namen für die Orte der Anwesenheit kann ein Verweisspiel eröffnet werden, das die Stadt als Lebens-, Gefühls-, Imaginationsraum konturiert.

Die Benennungen sind fast immer eingebunden in situative Skizzierungen. Es gibt wiederkehrende, variierte Figurationen, die auf bevorzugte Muster schließen lassen, einige seien deshalb stellvertretend hervorgehoben. Sofort fällt in Kolbes Erstling ins Auge, dass durchgehend Stadtbilder an Naturerscheinungen gebunden werden. Es kann kaum ein Zufall sein, dass die Worte „Straße“ und „Himmel“ einschließlich ihrer Wortbildungsderivate die am häufigsten vorkommenden (jeweils fünfzehn Mal) im Band sind. Oft eröffnen oder beschließen „Himmel“-Konstellationen das Gedicht, beispielsweise in der Eröffnung:

 

„Da war der Abend,

 

da war der grüne Himmel

und die schwarzen Bäume.

Und eine Musik war da,

die ließ mich rennen,

nur raus und immer so weiter.

(…)“[17]

 

Oder im Gedichtschluss:

 

„(…)

Aufs Dach hoch zu steigen –

Enttäuschend ein jedes Mal.

Die Dunkelheit flieht den Städter,

Am Himmel steht blutiger Schleim.“[18]

 

Oder in der Rahmung, wie im Gedicht „Hoffnung…“:

 

„Ich mag den weiten Himmel

Aber die stillen Pappeln

nicht

die Baracke dort

                            gegenüber

nicht.

(…)

Mein Blick sei provokant

Sagt der Gequälte

                  Und Enttäuschte.

              Und quält

                  Und enttäuscht.

So wie uns alle.

Aber der Himmel ist weit.“[19]

 

Mit Vorliebe wird das Symbolwort „Himmel“ an Farbwerte gekoppelt, wohl wissend - die Expressionismus-Lektüre hallt nach - um die Fähigkeit der Intensitätssteigerung einer solchen Kombination, wie der Sprecher in einem Gedicht selbstironisch einräumt: „Graurot ist der Himmel / Gelber Verschluß / Blau ins Grün gefährlich spielend // Der kantige Schatten meines Kopfes // Ein Farbengedicht / eine assoziative Kette“[20]. Selbstredend ist dem Autor bewusst, dass Himmels-Assoziationen nie nur sprachlich eingefangene Impressionsmomente sind, sondern anthropologisch-religiös-politisch streuen. So fangen „Himmel“-Verweise disparate Gefühlslagen des Ich ein, schließen dann an konventionelle Zuschreibungen wie der Sehnsucht nach Freiheit an („der Himmel ist weit“), um dann auch anthropologische mit geschichtlich-politischen Invektiven zu verknüpfen, wie in dem Gedicht „Sacco & Vanzetti“, zwei durch Justizmord in  den USA 1927 umgebrachte Anarchisten:

 

„Wir wenigen Millionen verlangen

Verlangen wie vor hundert Jahren

                        Vor tausend Jahren

Wir wenigen verlangen:

Daß der Himmel einstürze.

(…)“[21]

 

Die dreimalige Wiederholung des Pathos-Satzes „Daß der Himmel einstürze“ intendiert allerdings nicht Steigerung, sondern Ernüchterung. Sie enthält ein frühes Wissen um Mühsal wie düstere Ahnung, dass auch das Verlangen von Millionen nicht ausreichen könnte, um Verhältnisse grundlegend zu ändern. Die Wahrscheinlichkeit, „daß der Himmel einstürzt“, ist eben nicht allzu groß. Man muss bei diesem Gedicht auch einen ideologischen Kontext beachten, der beständig suggerierte, durch die Kraft der Millionen könne dem gesellschaftlichen Fortschritt Bahn gebrochen werden. Die endsiebziger Jahre waren dadurch geprägt, dass zunächst Grundidiome vom „weltweiten Siegeszug des Sozialismus“ als quasi gesetzmäßiger Humanisierungs-Fortschritt zunehmend bezweifelt wurden, ehe sie dann als verbindende Axiome weithin verabschiedet wurden in den achtziger Jahren. Zur Eigenart der Lyrik Kolbes zu DDR-Zeiten gehört, dass er Ideologeme aufnimmt, prüft und sie in neuen Kontexte stellt. Allerdings nicht kabarettistisch und vordergründig polemisch, sondern zumeist lebensweltlich kontextorientiert – insofern ist das Gedicht „Sacco & Vancetti“ nicht gerade typisch. Aber es verweist auf die Wucht, die der Lyriker auf die „Himmel“- Verweise  verwendet, um immer noch die Spanne zwischen Ideal und Erfahrung im Fokus zu haben. Manchmal auch direkt programmatisch, wie in „Daß ich so bin :

 

„Ich wölbe mir den Himmel

Mehr schlecht als blau

Ich warte

 

Meine Ruhe währt

Einige Jahrtausende schon

Ich schöpfe Poesie

(…)“[22]

 

Und der Berliner Poet hat, wenn er das Wort „Himmel“ auf das Papier bannt, auch den „Geteilten Himmel“ der Christa Wolf im Hintergrund – dass der Himmel über Berlin ein besonderer ist, sollte späterhin einem Wim Wenders Anreiz genug für zwei Spielfilme sein.

Wie der „Himmel“ wird überhaupt eine erstaunliche Vielzahl von Naturphänomenen – „ich huldige den naturgewalten“[23] – obsessiv an die Befindungen des sprechenden Ich gebunden, wie hier der Wind: „hör wie der wind geht höre wie mir die seele schlägt / er geht durch mein zimmer durch meinen kopf“[24]. Oder wie dort die Dämmerung in „Frühdämmern“:

 

„Dämmern zu früh, und platte Tage,

sie gehen so leicht, so ohne

erhofften Widerstand ins Bleiche,

Gebirgsvorland berliner Nacht.

 

Was täuschen sie

Mit Wiederkünften vor;

Was glauben wir, und immer?

Das eingepreßte Siegel

 

In meinem Kern – (…)“[25]

 

Besonders im zweiten Band „Bornholm II“ wird diese Vorliebe, Naturbilder eng an Gefühlsäußerungen zu koppeln, bis zu der Konsequenz geführt, dass die Stadt selbst als Landschaft, als Dschungel, als amorphes Fließgebilde gezeichnet wird, so in „Des Deutschen Fantasie Lateinamerika“:

 

„Immer im Ansatz Entdeckung einfachster Wege,

schöner feuchter Gebilde, so hängender Gärten

Ewigkeit und Sternmoos, namenloses Leben

Außer dieses Nervenblocks berliner Guillotine,

(…)“[26]

 

Schlusshin kehrt die „Fantasie“ in der Verschmelzung von Kopulationsakt und Naturbild in die Stadt zurück und legt über die Metonymie „Stalins Kacheln“[27] noch eine politische Botschaft:

 

„(…)

Auf Schlinggewächsen dring ich nachher in die Heimat,

feire Einkehr in Europa. Stalins Kacheln löst

der Kuß, der weiche Segen des siegreichen Wassers.“[28]

 

In den lyrischen Stadtgängen werden Bilder und Sentenzen auffällig oft um solche Gegensatzkonstellationen herum gebaut wie Festes – Flüssiges, Trockenes – Feuchtes, Starre - Beweglichkeit, Dauer - Flüchtigkeit: „wenn unterm Beton die Erde andrängt“[29], „Feuchter Flug durch trockenes Blut“[30] heißt es da, oder „Über Granit und Alpaka, / den hundert Jahren Straße, / weht eine Blume herauf, / bewußtloses Stück der Anderen Seite, / hält sich, rötlich, und schwimmt so,“[31], oder „Und stößt das warme trockne Männlein / vom feuchten Schlund sich hoch“[32] . Das Feuchte, Schwimmende, Verschwimmende, Proteushafte, Diffuse  führt das sprechende Ich zumeist lustbetont gegen das Verfestigte, Erstarrte, Betonierte auf: „Sonst klag ich und ruße, / verfaule die Bauten, vergraue das Scheinen“[33], „Zu leben der Reigen über Beton“[34]. Kolbe generiert dergestalt Atmosphärisches, das absichtsvoll Widerstände gegenüber starren Herrschaftsdiskursen zur Sprache bringen kann, ohne dies plump herauszustellen. Weil dabei anthropologische Grundierungen menschlichen Begehrens, gerade auch des sexuellen, aufgerufen werden, wirken sie umso verstörender – und erst einmal unauffällig, weil eingebunden in syntaktische oder metaphorische Irritationen. Das hat Methode: Verflüssigungsworte wie zum Beispiel „Schleim“, „feucht“, „Blut“ mitsamt der Wortkombinationen, deren Bestandteil sie sind, verweisen auf Prärationales, Unbewusstes, Dunkles, auf die „schöne feuchtgrün untre Kindheit“[35]. Dabei ist der Gang in die Tiefen des eigenen Ich von der Wahrnehmung der urbanen Außenwelt nicht zu trennen. Und diese ist weithin vom Begehren nach Re-Naturalisierung zivilisatorischer Stadt-Landschaft geprägt, nach Durchstören scheinbar fester Ordnungen städtischer Zeichen, wie im Gedicht „Die Krankheit im Frieden“:

 

„(…)und reißt im Kopfkrampf die pauschale Losung

Von dem unbewachten Hause ab, und rennt, ist nichts

Im Hirn, Gesträhl von Schienen, Wirrwarr,

Mastenstadt, Schönfrauencity, Rotkopfort

Und Hundsdreck, Regenschleim, dumpfres Läuten steigt,

Sirenenmittwoch – Friedensfeier,

renne, Toter Mann, stürz hin in Feuerpfützen,

feuchte Schächte, Kaufhallnrippen, flüchte, Dieb,

(…)“[36]

 

Die Ballung von starken Bewegungsverben („reißt“, „rennt“, „stürz“, „flüchte“), Kopulativkomposita („Mastenstadt“, „Schönfrauencity“, „Rotkopfort“, „Hundsdreck“, „Regenschleim“, „Sirenenmittwoch – Friedensfeier“) und Verflüssigungsindizien („Gesträhl“, „Regenschleim“, „Feuerpfützen“, „feuchte Schächte“) zeitigen den Effekt, dass Steinern-Urbanes in die Unheimlichkeit des Flüchtigen transferiert wird. Uwe Kolbe fasst die poetische Projektion von Stadt bündig in die Verse: „die Stadt war so groß / wie die bunte Knete hier, / die in meinem Kopf.“[37] Dies genau ist der Generalbass, der die Komposition von Kolbes Großstadtsymphonie bestimmt. Er unterlegt unüberhörbar auch weitere motivische Konzentrate, etwa die der kommunikativen Geflechte oder die der unmittelbaren Wohnsituation.

Denn die Stadt ist Ort der Ausfahrt, der Expedition, des Abenteuers. Sie ist aber zunächst immer auch Ort der Kommunikation und Introspektion. So sehr das lyrische Ich Baalsche Gesten der Übersteigerung und maßlosen Überhöhung feil hat, so sehr sucht es ein „wir“, eine Gemeinschaft, die die Geliebte meinen kann, Gefährten, im Appell gar ein Generations-Wir, spürend, dass die Zeit reif dafür ist, aus erzogener Duckmäusigkeit gemeinschaftlich herauszutreten. Deshalb legt es allerorten Spreng-Sätze, geschickt versteckt im Ungreifbaren amorpher Situierungen, aber für jeden kontextbewussten Leser decouvrierbar: „Wir jugendlichen Alexander / wir großen…“[38]; „Wir lernen lachen, lachend / Schweigen wir“[39]; „heute gehen wir in die kneipe und treffen die freunde / und die andern und wir reden ach“[40]; „Wir leben mit Rissen in den Wänden“[41]; „Ich finde unser Bild nicht mehr scharf. / Wir vervielfachen uns / in der Bewegung, unaufhaltsam.“[42]. Das sprechende Ich wird dabei stets auch als soziales Wesen ausgestellt, so proteushaft es sich auch gibt: „Wir sind erst so Tintenfische, / so blaue Tapeten erst, / von kichernder Angst in Räumlein getrieben, / Hand in Hand und gegeneinander in Kleider und Knöpfe gezwungen:“[43], beginnt ein programmatisches Abnabelungs-Gedicht von den „Händeln der Eltern“[44]. Diese Emanzipationschiffren sind so häufig an konkrete „Räumlein“ geknüpft, dass assoziative Zufälligkeit ausgeschlossen werden kann. „Freunde traf und fragte ich, / ob Stille ihre Ohrn bedränge ebenso. / Ich saß des Abends bei der Dichterin“[45]; „bei Freunden am Ofen“[46]; „vorm Klo die halbe Treppe tiefer“[47]; „Wir wohnen illegal, mach das / dir täglich neu bewußt, daß sonst / wir beide auf der Straße säßen. // Wir hausen im Prenzlauer Berg,/ vier Treppen hoch unter dem Dach“[48]; „Nachts in der S-Bahn“[49]; „wunderbares Versteck in der Dschungel. / Getränkeladen, Bäcker, nahe Seefisch“[50]. Es sind Orte der Repräsentanz des Anderen abseits der Herrschaftskultur, die, wenn sie in den Blick genommen, eisiger Verachtung anheimfällt: „- auf allen Plätzen spritzt / der Magistrat es seinen angestellten / Kindern. Suchst du Bindung, / schleif die Blumen ins Eis.“[51] Die topographischen Grundierungen übersteigen im Gedicht immer auch Ort und Anlass.

 

II

 

„Glücks-Betonhof“ - Berlin als Symbolraum

 

Fokussierte der erste Abschnitt darauf, welche Topoi des Großstädtischen mit welchen poetischen Verfahren und in welcher Funktion im Gedicht verbaut worden sind, werden nun die Akzente verschoben auf konnotative Konsequenzen, die Schaffung von Symbolräumen, die Auswirkungen intertextueller Verweise – stärker geraten so wirkungsästhetische Aspekte in das Blickfeld. Bereits die erste Musterung der Kolbeschen Textlandschaft hatte zur Erkenntnis, dass Topologien und symbolische Ausfaltungen nicht trennbar sind. So verweisen, wie dargelegt wurde, etwa topographisch verankerte Gegensatzbildungen von „fest“ und „feucht“ auf symbolische Vater-Mutter-, Staat-Natur-Konstellationen, Orte der Nichtrepräsentanz vaterstaatlicher Obhutsobsession auf omnipräsente Gängelung, Überwachung, Machtdemonstration. Solchen Bildungen symbolisch aufgeladener Textfelder genaue Aufmerksamkeit zu schenken verlohnt allemal. Um dichterische Verfahrensweisen dabei ins rechte Licht zu rücken, sei beispielhaft das Gedicht „Möglicher Spaziergang durch eine tote Stadt“ aus Kolbes Debütband analysiert:

 

„Ihre Anlage scheint kreisförmig gewesen.

Einige Viertel trugen grüne Flecken, Paradiese

streunender Kaninchen, unruhiger Bürger Scheinruhe.

 

Ihre Anlage scheint halbkreisförmig gewesen,

verdoppelt, jedoch deutlich, überdeutlich getrennt.

Ihre Einwohner trugen bunt und grau

und Erinnrung herum.

 

Scharfwinklige Anlage war wellig verdeckt.

Jetzt noch gleicht der Tag beiden Dämmerungen.

Die Abschiedsstimmung dauert an in der Landschaft.

 

Ich geh über alte Höfe, durch ewig baumlose Straßen,

begegne ewig unfreundlichen Gebäuden

verstaubter Repräsentation. Ich fluche

auf irgendeine dumme Melodie in meinem Kopf.“[52]

 

Die Überschrift verführt gewollt ins Surreale, der Konjunktiv und die gespenstische attributive Koppelung „tote Stadt“ sind starke Signalements. Leider nur in der „Aufbau“-Ausgabe ist zudem auf der gegenüberliegenden Seite eine Grafik von Trakia Wendisch zu sehen, die in Anlehnung an die manieristischen Labyrinthe Piranesis und die optischen Täuschungsfallen Eschers eine verdrillte menschenleere Stadtlandschaft zeichnet, die überdies noch den Turmbau zu Babel zeichenhaft ins Bild bringt. Es steht zu vermuten, dass der Lyriker und der Grafiker hier einen Coup wider die Zensur verabredeten, mit Erfolg. Zur Verfremdung trägt zusätzlich bei, dass sich der lyrische Sprecher als kühler Registrator eines vergangenen urbanen Zustands geriert. Das Gedicht scheint von vornherein symbolisch angelegt zu sein. Dazu bei trägt die anaphorische Reihung („Ihre Anlage scheint kreisförmig gewesen.“ / „Ihre Anlage scheint halbkreisförmig gewesen“ / „Scharfwinklige Anlage“) ebenso bei wie die Hervorhebung von „Dämmer“ und „Abschied“ und die zweimalige Voranfügung des Temporaladverbs „ewig“. Eine mystische Atmosphäre stillgestellter Zeit und abgestorbenen Ortes entsteht, in der Todeszeichen zu Symbolen des Todes verstärkt werden und an mythologische Todesorte wie Hades oder Lethe denken lassen.

Doch durchstören Wendungen wie „Paradiese / streunender Kaninchen, unruhiger Bürger Scheinruhe“ die Statik des Symbolischen deutlich. Die „streunende(n) Kaninchen“ sind eine Randpetitesse des Kalten Krieges, die jedem Berliner gewärtig war und die noch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall Irene Dische und Hans Magnus Enzensberger zum Kinderbuch „Esterhazy“ inspirierten: die im Mauerstreifen Berlins sich exzessiv fortpflanzende Kaninchenpopulation, die Wege fand, sich in sämtliche Parks der geteilten Stadt hin auszubreiten. Die kryptische Wendung „Scharfwinklige Anlage war wellig verdeckt.“ wird in diesem zeitgeschichtlichen Kontext zur Grenzanlage verkenntlicht, die Berlin „deutlich, überdeutlich getrennt“ hielt. Durch die Wiederholung des polysemen Wortes „Anlage“ (hier: als Stadt-Anlage und als Grenz-Anlage) wird die Verkoppelung von Mauerwall mit den getrennten Stadthälften, die so etwas wie einen „siamesischen Doppel-Organismus“[53] (Kolbe 2009) bildeten, gerade in ihrer lebensfeindlichen Langwirkung umso evidenter. Das Wechselspiel von abstrahierender Symbolbildung und andeutender Konkretisierung ermöglicht eine große Eindringlichkeit des Gedichtes. Dem groben Kunstsinn der Zensoren ist zu danken, dieses lyrische Dokument kühler Empörung über das in den siebziger Jahren längst anachronistische, Leben konkret und Gesellschaftsleben konkret und symbolisch bedrohende Bauwerk der Neugier des geneigten Lesers in der DDR nicht entzogen zu haben.

Doch auch ich hatte bei meiner Erstlektüre als Leipziger Student um 1981 nicht die Dimension und die Provokanz dieses Gedichtes erkannt. Zu sehr überlagerte eine Art Kubinsche Faszination die offen sichtlichen Textsignale. Kaninchenbeobachtung war, der ich einige Zeit 1979 im Greßmann-Archiv der Akademie der Künste an der Rückseite des Adlon-Hotels direkt an der „Mauer“ recherchierte, für den damals in Leipzig Wohnenden eine Beobachtungs-Zugabe. Wissend um diesen konkreten Bezug, stellte ich die weiteren Scharfwinkligkeiten in den augenscheinlichen Kontext – dass aber das symbolbeladene Szenario der Gedichtanlage eine ätzende Generalabsage an den status quo involvierte, begriff ich nur diffus, genauer, ich wehrte sie ab. Das sollte sich in den achtziger Jahren ändern, als mich eine in Westberlin wohnende Geliebte aus Irland zum Empfangsgast am Bahnhof Friedrichstraße qualifizierte:  Auch von mir übertünchte lebensbegleitende Abstrusität wurde reale Erfahrung, und endlich nicht folgenlos.

Die Erinnerung an die Erstlektüre lässt trotzdem nachhaken: Kolbes Handhabungen des Symbolischen ermöglichen immer auch einen Streuraum von Interpretation, der durch Erfahrungen, Wissen, Haltungen des Rezipienten wesentlich bestimmt ist. Dieser Spiel-Raum ist genuin Ausweis von poetischer Qualität, die notwendigerweise Eineindeutigkeiten abweist.  Es ist auffällig, wie gezielt Lokal-Topoi in Kolbe-Gedichten sofort metaphysisch, geschichtlich, mythologisch dimensioniert werden. Metaphysisch: „Übern Horizont ragen Fingerkuppen der Hand, die die Welt / hält und zittert“[54]. Geschichtlich etwa in „Bornholm I“, titelgebend war eine Kleingartenanlage direkt an der Mauer: „Es gilt Vermischung, gilt / ein helles Färben, warmen Rost / nach Pankow hin (ein Graben, / ein Flüßchen, Markt, und später / der Schießplatz an verbogenem / Chausseentraum). Der Alte scheint / Vergessen, Vorkrieg, Rumpelstilz / zu heißen. Vierkantmaske,/ drahtne Wildnis hält / natürliches Gebaren: Draht / vorm Mond (…)“[55] Mythologisch: „der Kupfergraben / oxydiert opernhaften Gelärmes. Ordne // dein Haar, Hydra, dämonisches Zimmer“[56]; „Ich falle / heraus aus dem Plan, gehe / zu Müttern voriger Reiche / hin“[57] Die Dimensionierung weitet den Raum des Poetischen, um all die Disparatheiten aufgenommener Welt und ambivalenter Befindungslagen des sprechenden Ich fassen zu können: „Ambivalentia, Göttin des Lands und der Zeit, / dieser Stadt in deinem Brummkopf, Freundchen“[58]. Sie ist oft genug verbunden mit kühnen Sprachbewegungen, die nicht einfach Metaphern, Vergleiche und Bilder hervorbringen, sondern diese oszillieren lassen, so dass Sprachäquivalente des Naturnah-Amorphen dem Auszusagenden kongenial erscheinen können. „Meine Wurzeln / ragen in das Dunkel Sprache, / schöne feuchtgrün untre Kindheit“, heißt es programmatisch in dem poetologischen Gedicht „An einem rosaroten Schweineband“[59], und an anderer Stelle: „Mein feines Sinnen / von den Wurzeln her – nie unter- / brochner Strom. Ich rage in das Dunkel / aus. Mein Weg ist Klang, Sang, / knappe Fügung, Bruch und stummes / Hohlwegzeichen, spielerischer / Wörtleinwimpel reich Gefilde, Schein / von Fernen auf dem Glücks- / Betonhof.“[60] „Glücks-Betonhof“ – welch semantisches Ungetüm, und doch hat es Methode, das symbolgeladene Grundwort in Kolbe-Gedichten „Beton“ mit der Chiffre „Glück“ kurzzuschließen – härter kann ein Aufprall von Gegensätzen kaum ausfallen. Sofort werden diese wiederum mit verunklarenden Textumgebungen versehen, die gleich die nächsten Spreng-Sätze bereithalten: „ Subversions-Spektakel / inszenieren fette, schwule, ab- / gewichste Streuner, Schieber, / Aftersänger, mehr und mehr, / der Mauersucht Delirien sanfter / Freude abgewinnend.“[61] Doch all die unverbundenen Aufzählungen, die schroffen Bildbrüche, die harten Fügungen, derer sich Kolbe mit Vorliebe bedient, lassen einen Sprachort der Zuflucht und Sehnsucht weitgehend intakt, der durch Symbolworte z.B. des „Kindes“, des „Dunklen“, des „Feuchten“ markiert wird. Aber ist es wirklich so autark?

Das Gedicht „An einem rosaroten Schweineband“ endet bezeichnenderweise mit der Verszeile: „Wehe und Schrei und kicherndes Kind“[62]. In „Flüchtiger weiblicher Schatten“ zerfallen „die lauen Genießer selbst erlogner Überzeiten / (…) / …in ihrem Lieblingsbeton, /dem Sabberpaternoster: / verkennen das Kichern der großen Bacchante, / der Spötterin Natur, die zum Tanz / geladen ihre Kinder hat“[63]. Aber auch: „Der kantige Schatten meines Ichs / ist Kinderschatten / Körperlos weil verraucht / im Staatsgetümmel / der vorigen und dieser / und der anderen Erde.“[64]; „Wort / um Wort, Tabu um Tabu entfernend, / entschalend, enträtselnd Woher und Woheraus, / die Materialien der Kindheit /…erfinden zu können.“[65] Und schließlich hat „Das weiche Kind (…) die Augen / nicht zuschließen können / und stottert seither. / Berlin sei sein Spielplatz, / es schaufele märkischen Sand.“[66] Allerdings stellt Kolbe fast immer das erwachsene eigene Ich als Korrelativ hinzu: „doch wir sind erwachsen“[67] ; „Wir erwachsen zu schönen Kindern“[68]. Die unsicher-trotzige Versicherung, man sei erwachsen und möchte ernst genommen werden, entbirgt ihre Abgründe, denn das vorgelebte „Erwachsensein“ der Elterngeneration war als Synonym für unfrohe Angepasstheit an noch widersinnigste Verhältnisse, als Lebensbeschneidung und –bescheidung abschreckend genug. Nun selbst der Adoleszenz entwachsen, musste das Unabänderliche des Älterwerdens vorbildlos reflektiert werden. Das involvierte Überforderungen auch deshalb, weil die zunehmend schwächelnde väterliche Staatsgewalt seit den späten siebziger Jahren eine endlos scheinende Party in Ruinen begünstigte und damit die Illusion, Kindheit und Jugend unabschätzbar verlängern zu können. Die Ahnung, dass dem so nicht ist und sich unausgebildete Freiheit zu Verantwortlichkeit auch rächen könnte, diese Ahnung schreibt Uwe Kolbe seinen frühen Gedichten in der Scylla-Charybdis-Konstellation schmerzbehaftet ein.

Aber das Dunkel: „Dunkel“-Worte tauchen vermehrt in Textumgebungen ein, die das Schreiben selbst berühren: „Wie sich, Dunkelnebel, das Gedicht / abhebt, das Zeichen. Konzentration / einiger Gleicher, einigen Gewissens / in oder vor einer Großstadt (letztres / die Nachtfahrt, schwarzer Baumriß, Ruhe).“[69]; „Schreiber: Laß nur die Nacht mir, / unberührt die dunkele Luft, / Das Raunen den Bäumen, / den Schritten den Hall. / Laß mich weiter probieren.“[70] Und er probiert ja weiter, der Schreiber. Aber verlässlichen Halt geben sie nicht, die Bilder des Dunklen, Feuchten, des Kinds. Denn das sprechende Ich ist geschlagen von Heillosigkeit, „verlassen treibt der Held / in warm gerahmten Straßen“[71], „Ich kann keine Heimat benennen. / Mein Haus ist die Zeit, da leb also zweifle ich an“[72]. Disparat kühn der ahasvernde Umkehrschluss: „Die Zeit ist eine dichte Stadt“[73], wie unter dem sarkastischen Titel „Heimkehr ins Gehäuse“ im Gedicht behauptet wird. Diese Heillosigkeit ist nicht zuletzt im Abweis jedweder Teleologie begründet: „Die Horizonte tanzen, betonierte Schemen, / voran ein glühendes, fettes Kind, / der Kreis, das vollendete Rund / gibt Anfang und Ende schon vor.“[74] Wer so spricht, ist für „Fortschritts“-Versprechen kaum mehr zu haben, für entsprechende Ideologien schon gar nicht. Im Gedicht „Gespräch ohne Ende“ wird dem fiktiven Leser, den die Zerrissenheit des Poeten ängstigt und der „mehr Sichres“ und „Trost in einem Entwurf“ einklagt, knapp beschieden: „Glauben ersetz ich nicht durch weiteren Glauben“[75]. Vielmehr sieht sich das Ich universellen Verfallszusammenhängen ausgesetzt, in denen „aus dem Obersten der Welt / das Unterste an Sinn“[76] gegrabscht wird. Sein Hirn „drückt aus den Augen, es sucht / und erfährt sein steinernes All, / sein Jahrtausend der Müllabfuhr.“[77] Der gleichsam ontologische Blick versichert sich dabei langer Zeitläufte menschheitlichen Eingebundensein, als Gegensprechen zur doch recht kurzen Geschichte der DDR, wie sie die Propagandasprache beschwört: „Ich schien zu erliegen, / alt zu werden, eingetaucht / in dreimal Tausend Jahre Scherben“[78], oder: „Demnächst / reden wir nicht mehr herum um die Urangst / jeden Jahrtausends allüberall.“[79].  Doch der da „das monotone Klopfen grundloser Hoffnung“[80] spürt und „Gespinste, so alt wie die Menschheit“[81], setzt auch ein Aber: „Zwei Millionen Jahre umsonst: / Nichts zu Nichts. / Aber die Sprache. / Warum spreche ich?“[82] Und er sieht sich beim Sprechen „Mit Stelzenworten in der Verwandtschaft / letzte vierteltausend Jahre“[83] konfrontiert. Die letzten Verse entstammen einem Sonett, das scheinbar ganz profan anhebt: „Kleingläubig // durch die Stadt großer Augen, / wetzte durch die Dekostoff-Gebiete Berlins“[84] – eine Anspielung auf jene Zentrums-Gegend der Transparente und Losungen. Dem Propaganda-Berlin wird mit existentieller Wucht („Einsatz ganzes Leben“; „Als schönes Kind aus den Wolken gefallen“[85]) ins Wort gefallen, wenngleich die Schlussterzette offen lassen, ob es sich um Varianten oder Gegensätze handelt. Wird mit „Stelzenworten“ auf die artistischen Leistungen der lyrischen Moderne angespielt oder doch auf die „gestelzten Diskurse“ politischer „Könige“ seit Beginn der Aufklärung vor ungefähr 250 Jahren?:

 

„…

Als König erwacht, unaufgeklärt, Tastatur.

Mit Stelzenworten in der Verwandtschaft

Letzte vierteltausend Jahre.

 

Als schönes Kind aus den Wolken gefallen,

auf so eine dünne Haut, und sachte

abgelaufen in Silhouetten. Aufgegrünt.“[86]

 

Mit den Weitungen ins Mythologische, Menschheitsgeschichtliche, Anthropologische von Berlin-Motiven ist jedenfalls, wie das Gedicht zeigt, so oder so noch ein weiterer Brückenschlag verbunden – der zu philosophischen und literarischen Bezügen. Letztere sind allerorten mit Händen zu greifen, deshalb seien nur einige wenige genannt: Wenn ein „Trinklied nach Klopstocks ‚Geschmack‘“[87] angestimmt wird, Anna Achmatowa mit „Anna Achmatowa, ein Gedicht für Sie!“[88], Pablo Neruda mit „Ansatz zu einem Neruda-Versuch“[89] und Karl Mickel mit „Gruß an Karl Mickel“[90] mehr als kollegiale Referenz erwiesen wird, sind Bezugnahme und Intertextualität offen ausgestellt. Oft zitiert wurde Kolbes Bekenntnis zur „bürgerlichen“ (in der DDR ein per se abwertendes Attribut) Lyrik:

 

„(…)

Es pulste Gift durchs Innre mir,

die bürgerliche Dichtung, Trakl,

Benn und Rilke, Whitman und Pessoa,

die stets genannten Schwierigen.

Ich kam zur Stellung Schreibender

Zu ebensolchen Irren,

zur Frage des Genies.

(…)“[91]

 

Die Häufung außernormaler Zuschreibungen als Charakteristika (die Schwierigen, Irren, Genies) mag ein wenig ironisch eingefärbt sein, aber sie zeigt auch, mit welchem Selbstbewusstsein sich hier in bestimmte Traditionslinien der lyrischen Moderne gestellt wird. Weitere Widmungen und Nennungen im Gedicht – u.a. Friedrich Hölderlin, Charles Baudelaire, Wolfgang Hilbig, Dylan Thomas, Gabor Hajnal, Patti Smith – indizieren ein dicht geknüpftes Netz von Beerbung, Anspielung, Gespräch über Zeiten und Grenzen hinweg. Und wenn dann Kolbe Georg Heyms „Gott der Stadt“[92] in das gegenwärtige Berlin übersetzt, wenn E.T.A. Hoffmanns „Automaten“ den Helmholtzplatz durchstreifen[93], wird Berliner Literaturgeschichte aufs Schönste verlebendigt in die Gegenwart der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Schlägt man „Bornholm II“ in der Mitten auf, steht auf der linken Seite „Ein schönes Gedicht“[94] und auf der rechten Seite „Die Eruption“, das in dreizehn Verszeilen viele Motive versammelt, deren Symbolwert beträchtlich ist: „Mütter“, „Erhoffen“, „Straße“, „schwimmt“. Ein schönes Gedicht, und ganz und gar dunkel. Ich taumele hin und kann es nicht deuten:

 

„Die Eruption

 

Deutungslose Symbole erbauen

Den Konservativen, den Taumler.

Vor dem Frühstück betritt er

Die Watte, Geleise bereits, die

Stumme Gewohnheit Aufbruch

Alleingebliebener Mütter

(dies Erhoffen, und immer, im Blick).

Über Granit und Alpaka,

den hundert Jahren Straße,

weht eine Blume herauf,

bewußtloses Stück der Anderen Seite,

hält sich, rötlich, und schwimmt so,

gekreißt in Profanes, in Dünste.“[95]

 

3. „Die Zeit ist eine dichte Stadt“ - Berlin als Gedächtnisraum

 

In den ersten beiden Abschnitten des Essays wurde ausschließlich auf Gedichte rekurriert, die vor 1989 geschrieben worden waren. Dafür waren drei Überlegungen ausschlaggebend:

Erstens ist auffällig, dass das Berlin-Motiv in Kolbes Lyrik nach 1989 eine qualitativ andere Rolle zugewiesen bekommt, korrespondierend mit der Tatsache, dass es quantitativ eine weitaus geringerere Rolle spielt als in Gedichten vor 1989.

Zweitens zeigt sich im Blick auf Kolbesche Gedichtbände aus nunmehr über dreißig Jahren, dass auch Uwe Kolbes Lyrik sich aus einem Nukleus heraus entfaltet hat, dass also Motive, Bauweisen, Grundworte, ja Idiosynkrasien bereits in den frühen Gedichten ausgebildet worden sind. Über ihre Analyse ist es hinreichend möglich, Grundkonturen der lyrischen Subjektivität im Gedichtwerk Uwe Kolbes zu erfassen.

Drittens kann der Epochenbruch von 1989/90 nicht außer Acht gelassen werden, der keine Zäsur im Werk bedingte, auch nicht in den Dichtungsauffassungen, aber selbstredend den Blick des Dichters auf das nun mauerlose Berlin veränderte.

Dass in den Nachwende-Gedichtbänden, von „Vaterlandkanal“ 1990 bis „Heimliche Feste“ (2008), Texte mit Berlin-Bezug rarer geworden sind, hat zunächst nachvollziehbare pragmatische Gründe: Uwe Kolbe gehört zu jenen Lyrikern, denen die Evidenz des epiphanischen Erlebnis-Moments, die unmittelbare Erfahrungswirklichkeit essentiell für das Schreiben von Gedichten ist. Seit Herbst 1985 folgte der Dichter Einladungen zu Lesungen im westlichen Ausland sowie zu Aufenthaltsstipendien u.a. nach Amsterdam, sein Lebensmittelpunkt verlagerte sich, zunächst noch mit DDR-Pass, von Ost-Berlin nach Amsterdam, dann nach Hamburg. Den Umsturzherbst 1989 erlebte er, gleichsam als bitter-süß-ironische Pointe der Weltgeschichte zu seiner Biographie, als Gastdozent in Austin/Texas. Es folgte die Villa Massimo in Rom, „poet in residence“ bzw. Gastdozenten-Verpflichtungen an die Universitäten Wien und Essen, von 1997 bis 2004 war er Leiter des “Studio Literatur und Theater” der Universität Tübingen. Kurz und gut, schon immer umtriebig, tat sich der Dichter in der Welt um. Ums Nachholen ging es dabei durchaus auch, „Wir fahren / Natürlich Romerknerparis!“, hieß es sarkastisch schon in einem Gedicht aus „Abschiede“ um 1980, in dem ein Wolfgang[96]

 

„Versehentlich in einer Nacht gelaufen

Wär, betrunken zeugend von bekannter Enge

Unsers stündlich mehr geliebten Landes

(Zeitenschnittpunkt. Weltennabel.)“[97]

 

Wie eine späte Erwiderung dünkt das 1998 veröffentlichte Gedicht „Was hab ich noch nachzuholen“, dessen Schlussverse so gehen:

„…

Erst holte ich den Ku'damm nach dem Savignyplatz.

Erst holte ich das Oberhalb der Mauer nach, in der S-

Bahn, nach dem jahrzehntelangen Vor oder Hinter.

Was hab ich noch nachzuholen: Paris und Provence und Rom

sind bereits nachgeholt, hab ich abgeholt.

Wem hab ich was nachzuholen?

Wie hol ich die liebe Gewißheit aber?

Wie hol ich das Kind nach, das hätt mir so wohlgetan?

Aber das ist ein Durchgangsstadium.“[98]

 

Reisen als Nachholbewegung lässt gewiss einst von Staats wegen verwehrte Wünsche in Erfüllung gehen, aber das Kind, ist das nachzuholen? Denn auch hier gibt es eine alte Sehnsucht, die womöglich noch größer wird, da nichts mehr an die Mauer projiziert werden kann: „Wie ich immer zurück will. Grün sei wieder das Licht. / Dämmer fülle das Zimmer, uferlos sei die Zeit, dunkel / die Sprache, Kindes Gewißheit.“[99]

Anders als etlichen Kolleginnen und Kollegen aus der DDR verschlug es Kolbe in der Wendezeit keineswegs die Sprache, im Gegenteil, zum Gedichteschreiben gesellte sich nun verstärkt der Essay. Er war sich im Klaren darüber, dass mit dem Mauerfall weder das Berlin-Thema „erledigt“ war noch das der eigenen Geprägtheiten. In dem Gedicht „Städtischer Grund“, in den frühen neunziger Jahren geschriebenen, heißt es geradezu programmatisch:

 

„…

Wer einmal dort auftrat, in Schalen geht der

Und heult, und die Tränen erlösen nicht, die taugen

Zu keinem Mittel. Ich ringe mit Geistern,

die sich nicht erkennen. Ihr rötlicher Spiegel

ist mein Gesicht, grad wenn es sich hinneigt

zum keuschen Grunde der Stadt.“[100]

 

In der Lyrik der neunziger Jahre verliert sich der Ton des „angry young man“ immer mehr zugunsten melancholisch unterlegter Stimmführungen. Das hat etwas mit dem Älterwerden zu tun und mit der Einsicht, dass das Ringen mit jenen „Geistern“ so schnell kein Ende haben wird. Alles so „Ingredienzen der Schlaflosigkeit“ – „Es war, daß Reste der alten Gewißheit / einander zersetzten, die neue / privat bleibt, das rasende Herz“[101]. Hinzu kommt: Weder kann sich Kolbe jenes eigentümlichen Triumphalismus der vermeintlichen „Sieger der Geschichte“ bemächtigen, der essayistische und lyrische Einreden etwa von Wolf Biermann, Lutz Rathenow oder Ulrich Schacht zu Beginn der neunziger Jahre ins Hochfahrende einfärbt, noch steht ihm die „linke Melancholie“ (Erich Kästner) nach dem vorläufigen Gescheitertsein realer Hoffnungen auf solidarische und gerechte Gesellschaften zu Gebote, dazu wiegen die Erfahrungen mit dem Realsozialismus zu schwer. Es bleibt ein Niemandsland, in dem zwar Nahverwandte von Hölderlin bis Endler beistehen, das aber auch schwierig auszuhalten ist. Für einen „text+kritik“-Band 1990 gibt der Lyriker ein Sonett her, das er nicht in „Vaterlandkanal“ aufgenommen haben wollte, das aber ungewöhnlich offenherzig diese Stand-Ortung umreißt:

 

„(…)

Ich aber suche, endets dreist im Wahne
ein undeutsch (und drum ungeteiltes) Land,
gleich weit entfernt von Daimlerland und Preußen.“[102]

 

Auf dieser Suche gewinnt nach 1990 Erinnerungsarbeit an Gewicht, wird geschichtliches Bewusstsein stimuliert. Dies muss sich gar nicht an Symbolen der Großgeschichte entzünden, es kann auch ein Essigbaum am S-Bahnhof Schönhauser Allee[103], ein Lanz-Bulldog in der Brunnenstraße[104], das Transistorradio „RFT-Smaragd“[105] sein. Lyrische glimpses für „Madelaines“[106], die „Zeitgefühlsgänsehaut“[107] bewirken:

 

„(…)

Ich höre im Weitergehen den RFT-Smaragd,

fühl das Gewicht seines Holzgehäuses.

Vierhundertachtzig Mark waren wirklich viel Geld

in der DDR, auch in den Siebzigerjahren.

Ein tolles Geschenk. Und ich ging allein hinaus

in die leeren und dunklen Straßen der Stadt,

hell über mir das Firmament der Hitparaden.“[108]

 

Hier wie bei vielen anderen Gedichten in den Gedichtbänden seit „Nicht wirklich platonisch“ 1994 fällt auf, dass sich die Sprechweise verändert hat: Längere narrative Passagen, Bevorzugung von Stilmitteln, die den Satzbau betreffen, weitgehender Verzicht auf Aufzählungsreihen, Anakoluthe, inversive Metaphern. Dadurch werden die Texte erzählerischer, im Gestus entspannter. Das Gedrängt-Expressive weicht tendenziell einer größeren Gelassenheit des Tons. Dass diese Veränderungen im Gestus und im Gedichtbau ursächlich im Zusammenhang mit dem Epochenschnitt 1989/90 stehen, kann letztlich nicht bewiesen, aber vermutet werden. Eine Vermutung, die vom Lyriker im Essay „Vinetas Archive“ aus dem Jahr 2009, rückblickend, gestützt wird:

 

„Persönlich trat für mich mit dem ungarischen Schnitt in den Eisernen Vorhang, mit dem Mauerfall, mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums eine Entspannung ein, die bis heute anhält. Sie ist meiner Arbeit, dem Gedicht, dessen Welt-Fülle zugutegekommen.“[109]

 

Die Reduzierung bestimmter lyrischer Verdichtungsmöglichkeiten muss nicht notwendig zum Abbau von Spannungsbögen im Gedicht führen, wie das Gedicht „Vineta“ aus dem gleichnamigen Band zeigt:

 

„Weißt du noch, damals, als es das Schweigen der Macht war?

Weißt du noch, damals, als wir dachten, daß es das Schweigen der Macht wäre?

Wir fuhren eine Stunde mit dem Zug durch die Stille.

Dabei hätten wir fünf Minuten gehen können oder zwei mit dem Vogel fliegen, sagen wir.

Statt dieser sieben Minuten brauchten wir diese Stunde mit dem Zug, in dem das Schweigen mitfuhr.

Das Schweigen oder sein Bruder, der, oder seine Schwester.

Damals, als das Schweigen der Macht uns etwas weis machte.

Damals, als wir nicht wissen konnten, was wir lang wußten, und auch das nur behauptet war.

Diese Furcht vor dem Wort, diese kleine Angst vor dem Wissen, daß es gar nichts bedeutet.

(...)“[110]

Das Erzählgedicht wird strukturiert von vollständigen Sätzen, der wiederholten vorangestellten Aufforderung „Weißt du noch“ und der beständigen Wiederholung von Worten wie „Macht“ und  „Schweigen“  - so wird unprätentiös die Dringlichkeit des Memorieren-Müssens beglaubigt. Das die Abteilung „la bilancia“ eröffnende „Vineta“ führt konzentriert und in konzentrischen Kreisen Erinnerungsarbeit vor, die in einer Klimax mündet. Ausgangspunkt des Erinnerungs-Gangs ist „eine Stunde mit dem Zug“, die Tatsache in die Gegenwärtigkeit zurückholend, dass durch die Mauer extrem lange Umfahrungen für die Ostberliner anstanden, wenn sie nach Hennigsdorf oder Potsdam zu fahren begehrten. Oder meint jene „Stunde“ die gefühlte Dehnung der Zeit, wenn die S-Bahn im Niemandsland fuhr? „Es war nur ein Beispiel, / Pankow - Schönhauser Allee, / aller Verstummen / im S-Bahn-Niemandsland. / Wir, überfordert, gähnten.“[111], hieß es bereits im Gedicht „Schweigen“ (sic!) aus dem Band „Nicht wirklich platonisch“. Auf jeden Fall ist es ein Auslösungsmoment, jene unheilvolle Kette von Schweigen und Verschweigen im Reden zu zerbrechen, die die in den fünfziger/ sechziger Jahren Geborenen immer noch an die Elterngeneration band, den HJ- und BDM-Sozialisierten, denen Schweigen und geduckte Anpassung an herrschende Verhältnisse erst Überlebensstrategie, dann Schamversteck und schließlich eingewachsene Selbstverständlichkeit geworden war. Diese Schweigegebote wurden bereits früh und lustvoll und in aller Heftigkeit von vielen ihrer missratenen Kinder übertreten. Die geschichtlichen Dimensionen allerdings dieser kruden Klandestinitätskultur werden erst im Abstand reflektierbar, und dies ist der Beweggrund des Gedichts. Im Essay hat es Uwe Kolbe 2009 stringent so formuliert:

 

„Worum es aber geht: Was zwischen dieser letzten DDR-Generation und denen davor stattfand, wollen wir nennen: Das große Schweigen. (…) Was kam auf die Kinder? Es hieß: Anpassung ist gut, Durchwursteln geht schon, nicht aufzufallen, Grübeln statt Denken, Schweigen. (…) Schweigen um die versoffene und abgesoffene Hoffnung, um die erwürgte Liebe, um unser utopisches Vineta.“[112]

 

Recht eigentlich aber ist es eine vergangene Dystopie, die nicht aufhört, Denken, Fühlen, Erinnern zu beschäftigen. Zu verlocken allerdings vermag sie nicht. In einem Gespräch im Jahr 2000 konstatiert der Dichter apodiktisch: „Berlin als magischer und poetischer Ort ist für mich versunken, das klingt auch in der Vineta-Metapher ein bißchen mit an.“[113] Das Gedicht „Vineta“ endet:

 

„(…)

Wir sind versunken.

Ein jegliches Alter hat seine Zeit, da es sinkt und da es noch schneller sinkt.

Die Stadt heißt Vineta, sie liegt weit im Osten Europas, die

Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen

Kommt das Geläut nicht weit.“[114]

 

Im Essay „Vinetas Archiv“ hebt Uwe Kolbe hervor, dass Vinetas Stadtplan u.a. „den Nordosten Berlins seit dem letzten Krieg“[115] umfasst. Wann immer Berlin-Motive in Gedichten Kolbes nach 1990 berührt werden, geistert „Vinetas Idiom aus der Tiefe“[116] mit durch die Verse, wie in der Hass-Liebes-Erklärung „Berlin, Anfang Dezember“:

 

„Dich gibt es nicht.

 

Du schweigst aus voller Kehle.

 

Du kotzt Kinder aus statt zu gebären.

 

Wo du gehst, ists mit Fremden. Grindiges Tier.

 

Wie konnt ich dich einmal lieben?

Nach dir lieb ich keine mehr.

 

(…)“[117]

 

Aber ach, der Selbstvorwurf erweist sich als Rhetorik. Im Folgeband „Die Farben des Wassers“ findet sich unter der Überschrift „(030)“ – der Vorwahlnummer von Berlin – eine auf sechs Seiten gestreckte Liebeserklärung an Berlin, in der das Wort „Berlin“ 43 mal hin gerufen wird; rekordverdächtig, aber auch ziemlich redundant. Nein, an den Schluss dieses Erkundungsganges durch das UweKolbeBerlin sollen Verse der Selbstermutigung gestellt werden, die der Lyriker unter dem Titel „West-östlicher Tiergarten“ dem Berliner Dichterkollegen, Anthologisten, Literaturwissenschaftler und Herausgeber der exzellenten Literaturzeitschrift „Park“, Michael Speier, in seinem 2008 erschienenen Gedichtband „Heimliche Feste“ widmet. In ihnen nun wird mit Referenz an Clemens Eich[118] dem Schweigen das Ausbreitungsrecht in notwendiger Entschiedenheit aberkannt:

 

„Wieder wissen, worum es geht.

Die Selbstverachtung, das Schweigen

Abbrennen und aufstehn und gehen

Mit den stolzen papierenen Fahnen.

(…)[119]

 


[1] Der automatische Weg der Selbstbehauptung, in: Uwe Kolbe, Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch, Frankfurt a.M. 1990, S. 41.

[2] Der Grund, in: Bornholm II, Berlin und Weimar 1981, S. 53.

[3] Ohne den Leser geht es nicht. Ursula Heukenkamp im Gespräch mit Gerd Adloff, Gabriele Eckart, Uwe Kolbe, Bernd Wagner, in: Weimarer Beiträge 7/1979, S. 46.

[4] Das ganze Werk oder Sisyphos soundsovielter, in: Uwe Kolbe, Hineingeboren, Berlin und Weimar 1980, S. 70.

[5] Uwe Kolbe, Wahnwitz dessen, der die Augen öffnet, in: Ebenda, S. 88.

[6] Uwe Kolbe, Zweite, überschüssige Legitimation, in: Ebenda, S. 93.

[7] Uwe Kolbe, „Hineingeboren“ – Das Lied in der Zungenwurzel, in: Renatus Deckert (Hg.), Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt, Frankfurt a.M. 2007, S. 196.

[8] Vgl. Uwe Kolbe, „Hineingeboren“ – Das Lied in der Zungenwurzel, a.a.O., S. 195, wo es heißt: „Dem jungen Mann empfähle ich wohl halbherzig einen Kurs in Creative writing

[9] Ebenda, S. 196.

[10] Allmorgendliche Begrüßung, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 15.

[11] Am Intershop, in: Ebenda, S. 78.

[12] Wir leben mit Rissen, in: Ebenda, S. 90.

[13] Die Feigheit, in: Ebenda, S. 110.

[14] Morgengedicht, in: Ebenda, S. 99.

[15] Der trunken noch, erwachte Dichter, in: Ebenda, S. 132.

[16] Meine einzige Liebe, in: Ebenda, S. 134.

[17] Da war der Abend, in: Ebenda, S. 11.

[18] Herbstklang, in: Ebenda, S. 30.

[19] Hoffnung…, in: Ebenda, S. 52.

[20] Der kantige Schatten meines Kopfes, in: Ebenda, S. 26.

[21] Sacco & Vanzetti, in: Ebenda, S. 53.

[22] Daß ich so bin, in: Ebenda, S. 36.

[23] ode an den sturm nach null uhr fünf, in: Ebenda, S. 62.

[24] Ebenda.

[25] Frühdämmern, in: Bornholm II, a.a.O., S. 45.

[26] Des Deutschen Fantasie Lateinamerika, in: Ebenda, S. 10.

[27] „Stalins Kacheln“ spielt auf die Tatsache an, dass sich von den in den fünfziger Jahren errichteten Bauten an der Karl-Marx-Allee (vormals Stalin-Allee) immer wieder Kacheln lösten.

[28] Des Deutschen Fantasie Lateinamerika, siehe Anmerkung 26.

[29] Wir sind erst so Tintenfische, in: Bornholm II, a.a.O., S. 9.

[30] Gebet der Moderne, in: Ebenda, S. 15.

[31] Die Eruption, in: Ebenda, S. 57.

[32] Zitat vom Gott der Stadt, in: Ebenda, S. 40.

[33] Der Mond ein Treibeis über der trockenen Stadt, in: Ebenda, S. 30.

[34] Zu leben, in: Ebenda, S. 91.

[35] An einem rosaroten Schweineband, in: Ebenda, S. 35.

[36] Die Krankheit im Frieden, in: Ebenda, S. 65.

[37] Da war der Abend, , in: Hineingeboren, a.a.O., S. 11.

[38] Polstelle, in: Ebenda, S. 16.

[39] Fragender Abendwind raunt, in: Ebenda, S. 67.

[40] Und nichts geschieht, in: Ebenda, S. 80.

[41] Wir leben mit Rissen, in: Ebenda, S. 90f, hier S. 90.

[42] Zweite, überschüssige Legitimation, in: Ebenda, S. 92 – 94, hier S. 94.

[43] Wir sind erst so Tintenfische, in: Bornholm II, a.a.O., S. 9.

[44] Ebenda.

[45] Ohn Mächtige, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 103.

[46] Ich sitz mit den Kindern, in: Ebenda, S.120.

[47] Schöpfungsgeschichte mit Weib, in: Ebenda, S. 100.

[48] Wir leben mit Rissen, in: Ebenda, S. 90.

[49] Nachts in der S-Bahn, in: Bornholm II, a.a.O., S. 41.

[50] Platanenwald die Nebenstraße, in: Ebenda, S. 61.

[51] Die warmen Hände, in: Ebenda, S. 18

[52] Möglicher Spaziergang durch eine tote Stadt, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 32.

[53] Tabu, in: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe, Göttingen 2011, S. 9.

[54] Übern Horizont ragen Fingerkuppen, in: Ebenda, S. 137.

[55] Bornholm I, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 62.

[56] Herkunft, in: Uwe Kolbe, Bornholm II, a.a.O., S. 42.

[57] Geschlitztes Ohr im Himmel, in: Ebenda, S. 31.

[58] Die Krankheit im Frieden, in: Ebenda, S. 65f., hier S. 66.

[59] An einem rosaroten Schweineband, in: Ebenda, S. 35.

[60] Ebenda.

[61] Ebenda.

[62] Ebenda.

[63] Flüchtiger weiblicher Schatten, in: Ebenda, S. 36.

[64] Der kantige Schatten meines Kopfes, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 26f..

[65] Ein Gedicht, worum es mir geht, in: Bornholm II, a.a.O., S. 7.

[66] Dem Platz, in: Vaterlandkanal, a.a.O., S. 10.

[67] Anna Achmatowa, ein Gedicht für Sie!, in: Bornholm II, a.a.O., S. 34.

[68] Wir sind erst so Tintenfische, in: Ebenda, S. 9.

[69] Anna Achmatowa, ein Gedicht für Sie!, in: Bornholm II, a.a.O., S. 34.

[70] Gespräch ohne Ende, in: Ebenda, S. 22.

[71] Ein Gedicht, worum es mir geht, in: Ebenda, S. 7.

[72] Entschieden frühes Jahr, in: Ebenda, S. 26.

[73] Heimkehr ins Gehäuse, in Ebenda, S. 60.

[74] Die dunkle Musik, in: Ebenda, S. 24f., hier S. 25.

[75] Gespräch ohne Ende, in: Ebenda, S. 22.

[76] Kichernder Stoff, Mörtel, in: Ebenda, S. 50.

[77] Ebenda.

[78] Kleingläubig, in: Ebenda, S. 16.

[79] Auf dem Kometen, in: Ebenda, S. 49.

[80] Renaissance, im Gegenteil, in: Ebenda, S. 13f., hier S. 14.

[81] Die dunkle Musik, a.a.O., S. 24.

[82] Ich war dabei, in: Ebenda, S. 72.

[83] Kleingläubig, a.a.O., S. 16.

[84] Ebenda.

[85] Ebenda.

[86] Ebenda.

[87] Trinklied nach Klopstocks „Geschmack“, in: Ebenda, S. 27.

[88] Anna Achmatowa, ein Gedicht für Sie!, in: Ebenda, S. 34.

[89] Ansatz zu einem Neruda-Versuch, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 65.

[90] Gruß an Karl Mickel, in: Vaterlandkanal, a.a.O., S. 49.

[91] Zweite, überschüssige Legitimation, in: Hineingeboren, a.a.O., S. 92 – 94, hier S. 92f..

[92] Zitat vom Gott der Stadt, in: Bornholm II, a.a.O., S. 39.

[93] Das Wunder, in: Ebenda, S. 67.

[94] Ein schönes Gedicht, in: Ebenda, S. 56.

[95] Die Eruption, in: Ebenda, S. 57.

[96] Nach Auskunft des Autors handelt es sich um den damals in Leipzig lebenden Schriftsteller Wolfgang Hegewald

[97] Ich bin der freundliche Herr da, in: Uwe Kolbe, Abschiede, Berlin und Weimar 1981, S. 21.

[98] Was hab ich noch nachzuholen, in: Uwe Kolbe, Vineta, Frankfurt a.M. 1998, S. 18.

[99] Reaktion, in: Vaterlandkanal, a.a.O., S. 31.

[100] Städtischer Grund, in: Nicht wirklich platonisch, a.a.O., S. 18.

[101] Ingredienzien der Schlaflosigkeit, in: Vineta, a.a.O., S. 59.

[102] Uwe Kolbe, Für den Anfang, in: Die andere Sprache. Neue DDR-Literatur der 80er Jahre, TEXT+KRITIK Sonderband, hrsg. Von Heinz Ludwig Arnold, München 1990, S. 152.

[103] Der Essigbaum, in: Die Farben des Wassers, Frankfurt a.M. 2001, S. 67f..

[104] Lanz Bulldog, in: Ebenda, S. 56.

[105] Hier ist dem Dichter allerdings ein Flüchtigkeitsfehler sachlicher Natur unterlaufen. Uwe Kolbe schreibt am 04. 02. 2012 an Peter Geist: „Hätte ich ein wenig länger drauf geschaut, wäre ich wieder drauf gekommen, dass es ein STERN-SMARAGD war. RFT-Smaragd war ein Zweispur-Tonbandgerät älterer Bauart mit einer grünen "Bauchbinde", das mein Stiefvater besaß. Nach dem Stern-Smaragd habe ich nach Erscheinen des Büchleins endlos recherchiert, aber nix gefunden.“

[106] Vgl. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in zehn Bänden, Frankfurt a. M. 1979.

[107] Der Transistor, in: Die Farben des Wassers, a.a.O., S. 40.

[108] Ebenda.

[109] Uwe Kolbe, Noch einmal 1989. Rückwärtsgewandte Bemerkungen über Utopie und Literatur, in: Vinetas Archive. Annäherung an Gründe, a.a.O., S. 34f..

[110] Vineta, in: Vineta, a.a.O., S. 11.

[111] Schweigen, in: Nicht wirklich platonisch, a.a.O., S. 57 – 62, hier S.

[112] Noch einmal 1989, a.a.O., S. 38 und S. 39.

[113] “Vielleicht ist das Gedicht ein Moment der Aufmerksamkeit…“. Ein Gespräch mit Uwe Kolbe, in: die horen, Heft 201, 1. Quartal 2001, S. 73 – 104, hier S. 99.

[114] Vineta, in: Vineta, a.a.O., S. 12.

[115] Vinetas Archiv. Aus persönlichen Beständen, in: Vinetas Archive. Annäherung an Gründe, a.a.O., S. 20.

[116] So, ortlos, angekommen, in: Nicht wirklich platonisch, a.a.O., S. 97

[117] Berlin, Anfang Dezember, in: Ebenda, 42.

[118] Vgl. den Lyrik-Debütband von Clemens Eich, Aufstehn und gehn. Gedichte, Frankfurt a.M. 1980.

[119] West-östlicher Tiergarten, in: Heimliche Feste, Frankfurt a.M. 2008, S. 97.