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Peter Geist

Geschichte, seitenverkehrt. Wegbeschreibung. Zwischen den Zeilen. Für Kurt Drawert zum Fünfzigsten.

Die Stadt Leipzig war immer schon zu klein, als dass sich die einwohnenden Dichter hätten vollends aus dem Wege gehen können. In den frühen achtziger Jahren waren dies u.a. Adolf Endler, Heinz Czechowski, Peter Gosse, Thomas Böhme, am Literaturinstitut studierten Barbara Köhler und Kurt Drawert. Durch meine doch ein wenig naive, ungestüme Neugier gestalteten sich die ersten Begegnungen mit dem Dichter Drawert als eher vorsichtige Lotungen seinerseits, denn es gab einfach zu viele Neugierige in inoffiziellen Dienstbarkeiten. Doch Kurt faszinierte mich, in der Stringenz der Gedankenzüge, in meinem Wahrnehmen, dass hier einer tatsächlich im Weltriss lebte und schrieb und dies nicht nur vorgab, er faszinierte in der hochgemuten Existentialität eines selbstauferlegten Schreibauftrags, schließlich in der Freundlichkeit des Gesprächs, das in dauerndes Vergnügen mündete. Es ist daraus eine Freundschaft entstanden, die nun über zwanzig Jahre anhält.

Nach inzwischen 23 Büchern mit Gedichten, Prosa, Essay und Dramatik, die Kurt Drawert publiziert hat bzw. für die er als Herausgeber einsteht, beiseite gesprochen eine respektheischende Halblebensleistung, handelte es sich doch stets nicht um Leichtgewichte, nach 23 Büchern also ist es opportun, noch einmal einen Blick ins erste Buch, die „Zweite Inventur“, erschienen 1987, zu werfen. Es wundert nicht wirklich im Rückblick, bereits alle Aufmerksamkeiten, Stimmführungen, Tonlagen ausgebildet zu sehen, die die spezifische Eigenart der arbeitenden Subjektivität in der Drawertschen Lyrik, ihren unverwechselbaren „sound“ bestimmen.  Radikale Ernüchterungsarbeit gegenüber den Fortschrittsversprechen der Moderne prägt von Beginn an den Gestus der Texte, sei es über die Engführung von Sprache, Körper, Machtdiskurs und Wahrheitsbegehren, sei es über die Auseinandersetzung mit der Unechtskultur von Simulationswelten. Bereits das grandiose Eingangs-„Gedicht im Juni, Juli, August“, dessen Titel so unverfänglich brinkmannsch klingt, macht unmissverständlich klar, wie fertig dieser Autor hier bereits mit jedweder Art von ideologisch untermauertem Glücksversprechen war: „Fertigbedeutungen und Fertiggerichte. / Die Geschichte war fertig. Die Gegenwart / war fertig, die Zukunft, die Revolution, / die Antworten waren fertig. Mein Außen- und Innenleben war fertig, ein Schnittmusterbogen / auf der letzten Seite der Wochenendbeilage“. Wenige Zeilen weiter heißt es: „Die Realität kam auf Stelzen, eine gläserne / Vettel, die durch die Vorstellungen lief / mit der Aufschrift Vagina, dort, wo sie / geschlechtslos war.“ Die klar bezeichnete Differenz zwischen dem energischen, auch melancholischen Begehren nach Eigenheit und eigener Sprache und den eingetrichterten Standards destruiert die Schnittmusterbogen und verdeutlicht den Schnitt: „Die Worte gehören mir nicht, / kalt lagen sie unter der Zunge als / nichtgemachte Erfahrung.“ Wären Feuilleton und Germanistik der Bundesrepublik 1987 nicht so starr auf längst verblasste Kryptiken a lá Schedlinski fixiert gewesen, hätten sie anhand dieses Gedichtbandes einiges über den Zerfall von Herrschaftsdiskursen in der DDR erfahren können und über die ahnbahren Gemeinsamkeiten, die Autoren in  Ost und West in ihrem Verhältnis zu Macht, Manipulation und Munitionierung der Sprache womöglich verbinden. In den Nachwendekonstruktionen einer fröhlich-geschichtslosen Postmoderne im Westen und einer tragischen Vormoderne im Osten wurde Kurt Drawert immerhin mit Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl oder Durs Grünbein als einer der anschlussfähigen „Modernen“ goutiert. Nur stimmte die ganze Konstruktion vorne und hinten nicht.

Allerdings hatte der Dichter mit dem Systemwechsel, der für ihn auch mit einem Ortswechsel von Leipzig über Scharmholz-Osterbeck nach Darmstadt verbunden war, zunächst einmal sein Herkommen und seinen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen „Schnittmusterbogen“ erneut zu bedenken. Er hat dies in der Prosa „Spiegelland“ mit beeindruckender Tiefenschärfe getan, selbstredend auch immer wieder in Gedichten. Wenn er im Gedicht „Ortswechsel“ mit Rimbaud „Klartext“ spricht: „Ich/ bin ein anderer gewesen/ im Zentrum der beschädigten Jahre“, so finden die Schädigungen zu einer Sprache, die an die Gründe rührt: Davon etwa versucht ein für mich großes Gedicht Tauben in ortloser Landschaft zu sprechen. Ein Lang-Gedicht in Vierzeilern, das im Nachspüren der eigenen Verletztheiten zugleich generell die tragikomischen Bedingtheiten in den Lebensverläufen der Nach-und-Nachgeborenen in der DDR berührt. Schon in „Spiegelland“ hatte Kurt Drawert gleichsam programmatisch geahnt:

„Wir sind mit Dut­zenden von verlogenen Begriffen aufgewachsen, die wir im ehrgeizigen Alter der Kindheit unbedarft und schamlos vor uns hingesagt haben und die wir auswendig lernten wie fremde Vokabeln, ohne zu wissen, daß sie ein Leben und eine Existenz von innen heraus nur zum Scheitern bringen, wenn man sich ihrer nicht rechtzeitig entledigt so gut es geht, und vielleicht, denke ich, bedarf es eines ganzen Lebens, sich dieser Begriffe zu ent­ledigen.“

Die Beschädigungen, die die weitgehende Abschaffung der Wirklichkeit im herrschenden Sprechen bei den Angeherrschten zur Folge hatte, machen, daß die Kaspar-Hauser-Legion,/ verschüttet in den Trümmern/ der Bau-auf-Konstrukteure,...für keinen Zusammenhang/ mehr zu gebrauchen ist. Nachdem sie ihr blendendes Werk pünktlich zu ihrer Verrentung als Schrott den Nachfolgenden übereigneten,  hatten sich die Mütter und Väter des Staates in den Ruhestand begeben. Ihre Zöglinge aber, die sozialistischen Pimpfe/ mit gebogenen Rücken, sie wurden am Wegrand der Geschichte ausgesetzt. Tauben in ortloser Landschaft. ... Und sie werden krank sein,/ nicht aber sterben, wenngleich / das Ende der Gespräche erreicht ist...

Doch diese mitunter quälerische Entledigungsarbeit ist mit einer anderen unlösbar verbunden: Die vom Autor schon in einem Gespräch 1988 attestierte „Verlorenheit der Begriffe vor den Dingen“ war mit der Implosion der DDR nicht verschwunden. Vielmehr sieht er sich nun einer vergleichbaren Sprachlosigkeit ausgesetzt, denn die Sprache, so schreibt er in „Spiegelland“, „die ich suchte, auf die ich wartete oder die ich wiederherstellen wollte ... [war] das ganze Gegenteil ... einer Sprache, die mir stündlich abverlangt wurde und auf schon irrationale Weise mit Modeanzügen und Aktenkoffern, Geldanleihen und Unterarmsprays usw. in Verbindung zu bringen war“.

Dass Heimatlosigkeit nun universell empfunden wurde, konnte von den Literaturbeobachtern damals zunächst als Anpassungsproblem heruntergespielt werden. Indes sollte sich zeigen, dass diese erfahrungsgesättigte Sensibilität für geschichtliche Erdbeben präzise Vorahnungen bereithalten sollte für die Beunruhigungen, die nun, fünfzehn Jahre später, die Mitte der Gesellschaft erreicht haben. Drawerts Hellsichtigkeiten in den neunziger Jahren, die wenig aufgegriffen worden waren, stellen indes Verständigungsangebote dar, die allerdings einen komplexen Reflexionshorizont erfordern. In dem den Zustand unserer Zivilisation ausleuchtenden Essay „Der Ausverkauf der Leere“, geschrieben vor über zehn Jahren, heißt es etwa:

 „Der Osten hat sich im Kollaps davongemacht und seine ruinösen Hinterlassenschaften an den Westen abgetreten; er hat sich in das Privileg seines Unterganges geflüchtet und sieht nicht ohne Siegermiene im Staub liegend zu, wie er den Westen mit seinen Trümmern kaputtmacht. Was er als Konkurrent nicht geschafft hat, schafft er als Leichnam mit seinen Giften. Es ist wie nach Ablauf eines Pachtvertrages, wenn die Deponien plötzlich zu sind, auf denen man seinen Sondermüll abkippen konnte. Jetzt kreist der Überschuß im eigenen System, und selbst wo er noch weiter in den Osten kanalisiert wird, wird er bald an seine Entstehungsorte zurückgeschwemmt werden. Ein elementares Gleichgewicht ist damit gebrochen; ein Gleichgewicht, das gerade aus einer Unvereinbarkeit zweier sich gegenüberstehender Systeme hervorgegangen war und das darin bestanden hat, im komplementären Gegenüber die explizite Funktion zur Sicherung der eigenen Wahrheit zu finden.“ (Kurt Drawert, Der Ausverkauf der Leere, 1995).

Der Überschussamalgamierung west-östlicher Vermüllung hält der Dichter, im Sinne Vattimos, im Machtverhältnis eine lächerliche, im Menschenmaß freilich gewichtige Überschussproduktion entgegen: Kurt Drawert beschreibt das Gedicht im erneuten Nachdenken über die Funktion der Poesie Ende der neunziger Jahre in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat  zugleich, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich

„durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“

Das Besondere an den Gedichten von Kurt Drawert war es stets schon, dass er diesen Überschuss einem Material abgewinnt, das oft aus vorgestanzten Bildschablonen, von inflationärem Gebrauch verschlissenen Wortmünzen, aus defekten Satzfertigteilen besteht.  Wenn schon der der Modebranche entlehnte Bandtitel seines Gedichtbandes aus dem Jahre 2002 „Frühjahrskollektion“ stutzen lassen sollte, so liefert eine Gedichtüberschrift wie „Der Wald. Katalogtext und Ausstellungshinweis“ in der – merkwürdig genug – Abteilung „Ich liebe Industriegebiete“ Fingerzeige, bereits der klassischen lyrischen Sprecherinstanz des „Ich“ nicht allzu sehr über den Weg zu trauen. Auch hier bleibt sich der Autor motivisch treu: Das Gedicht „Zu spät gekommen“ aus den achtziger Jahren z.B. hebt mit den Versen an: „Ein Waldspaziergang zum Beispiel / interessiert mich nur wenig. / Hilflos schlendre ich rum / zwischen nichtsynthetischen Stoffen / und mache mich schmutzig. / Aber das Grün ist sehr schön / und farbfest“. Man muss nicht wissen, dass Kurt Drawert durchaus ein passionierter Spaziergänger ist, um auf die permanente Fallenhaftigkeit seiner Texte aufmerksam zu machen. Damit aber ist in hohem Maße das Distinktionsvermögen des Lesers angesprochen, den Text hinter dem Text  erschließen zu können, was zum Beispiel heißt, die Oberflächen scheinrationaler Argumentation mit den Rückseiten immanenter Wahnhaftigkeit kurzzuschließen. Es entstehen semantische Wirbel, Irrläufer oder Ausschließungskonstellationen. Die Bewegung der Verse wird immer wieder durch Enjambments aufgehalten, durch Wiederholungsfiguren in die Schleife gezwungen, durch Metaphern geteilt, durch sarkastische Pointen synkopiert, durch Imaginationen vervielfacht. Das ist raffiniert gemacht und gleicht nicht selten einer Wildwasserfahrt mit Stromschnellen und Untiefen. Eine Kostprobe aus dem Gedicht „Keine Zeit“aus dem 02er Gedichtband: „Mit dem Land / ginge es abwärts, heißt es. / Kein Fußball, kein Tennis, das durchzieht, es ist die reine / Aussicht auf gar nichts. / Jemand kratzt an der Haustür / und will, daß ich öffne. / Es kann nur der Tod sein / im Anzug eines Handelsvertreters / mit Rabattangeboten. Er stielt / Augenblicke und verkauft sie / als Uhren.“ Drawerts tiefschwarzer Humor ist von einer  ansteckenden, aberwitzigen Fröhlichkeit, die nach innen blutet. Dieser Humor Beckettscher Abkunft ist, soweit ich sehe, noch wenig gewürdigt worden.

Das Eingeklemmtsein in industriell gefertigte Bilder und Töne, die Einspeisung fast aller Gebrauchs-Gegenstände einschließlich der Restnatur in pure Warenkreisläufe - „Der Wald, im schweren Grün / seiner Innenausstattung“ - wird in den grotesken Konsequenzen um so deutlicher, wenn Mythen- und Utopiesplitter ins Gedicht zitiert werden, wie im Aufrufen der „Engel“: Nur, dass diese „entlassen und nun selbständig sind, / ihr Geschäft nicht mehr im Himmel, / sondern im Erdreich betreiben / und hauptsächlich, hauptsächlich / Honorare einklagen. Neu auch ihr Parfum mit dem Duft / nach Schwefel und Pech“. Sie haben ihr Pendant übrigens in uns selbst, verehrte Anwesende, die wir oft genug im technizistischen und bürokratischen Zugriff eingeklammerte Selbstverwertungsmonaden geworden sind, oder wie es Kurt Drawert sagt: eine Leerstelle... im zivilen Bereich mit seinen Revolten und erkämpften Rechten auf Spekulatius am Beginn des neuen Jahrtausends. Freilich, es gibt immer auch Gedichte, und manche von ihnen sind mir sehr nahe, die Momente der Sehnsucht nach geglückterem Menschsein unverstellt, zart und jenseits aller Ironie einfangen. Zu ihnen gehört das dahingetuschte „Zwischen den Zeilen“ aus dem letzten Band, das eine Poetik in nuce enthält:

Es gibt viele schöne Dinge

für ein Gedicht, die ein Gedicht

nicht mehr brauchen,

weil sie schon schön sind.

II

Dennoch, ich wollte sie nennen, alle,

bis zur weißen Blüte der Kirsche.

III

Aber immer, zwischen den Zeilen,

bleibt etwas übrig.

Zwischen den Zeilen schlägt der Bogen zurück, bis die Geschichte von Neuem beginnt. „Geschichte, seitenverkehrt“, ein frühes Gedicht, endet:

„... Also gut,

lebe wohl, Glaube an Treueversprechen

und Buchstabennudeln, lebe wohl, "Du bist

so tief in meinem Herzen", lebe wohl

dies und das und Liebe ist eine Idee ...,

bis ich deine Notiz auf dem Fußboden

fand, die du eilig hingeschrieben hast,

ehe du weggingst: "Ich kenne mich

schlecht aus in den Sätzen, die man braucht,

um zu sagen, daß ich neben dir bin".

Bitte formuliere das doch noch einmal und so,

daß ich begreife, warum die Geschichte

plötzlich vom Ende her passiert.

Als einen Deserteur bezeichnete Walter Hinck Kurt Drawert in einem Rundfunkgespräch, einen Deserteur, der sich von keiner der reichlich zuhandenen Vereinnahmungstechniken affizieren und sich nicht den Blick auf die vor aller Augen sich vollziehenden Auflösungsprozesse von Gesellschaft verkleistern lasse, so Hinck. Der große alte Matador der Germanistik verstand dies als Auszeichnung.