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Peter Geist

„ich bin es nicht wert“ – wenn das Gedicht im Fond hockt 

Als ich die Aufgabe annahm, literarische Texte für die Literaturbörse zu bewerten und damit einen Einstiegskurs vorzugeben, dachte ich naiverweise, durch den Texthandel ließen sich Rückschlüsse auf die Rezeption der Texte durch die Anleger ziehen. Das wäre dann gegeben, wenn die User ihrerseits die Texte numerisch bewertet hätten und sich so ein „Rezeptionsdurchschnittswert“ ergeben hätte, der sicher in dem einen oder anderen Fall gehörig von der Kritikerwertung abgewichen wäre. Lauter Konjunktive. Nein, so funktionierte das Spiel nicht, und je mehr ich begriff, wie es funktionierte, desto rätselhafter wurden mir die Motive der Veranstalter, desto mehr griffen Hackerphantasien, neigte ich dazu, möglicherweise banale technische Probleme als Symptome konzertierter Aktionen zu deuten:  So begab es sich, dass ich in der letzten Woche nur noch mit einem „Oha, Can't connect to database server or select database“ empfangen wurde, so oft ich, zunehmend irritiert, auf die „literaturboerse.com“ zugreifen wollte. Das „Forum der 13“, auf das Ingo Schramm in seiner Meinungsäußerung hinwies, ist bis zum 1. November, wie ich klickhaft erfahre,  nicht zugänglich. Zwischenzeitlich hatten alle Texte solche enormen Kursgewinne, dass man fast an eine Propagandaveranstaltung denken konnte, wie sie in den Hochzeiten der new economy ja auch in allen Medien vertrommelt wurde nach dem Louis-Philipp-Motto: „Bereichert euch!“  Was denn nun – postmodern-ironische Persiflage, affirmativer Leichtsinn, Lehrvorführung?

Wenn das Gedicht im Fond hockt und durch die virtuellen Landschaften chauffiert wird, was repräsentiert dieses Objekt dann noch, abgelöst von der einst mit ihm verbunden Person und auf eine Funktion reduziert? Das Gedicht als Aktie: Wer auf diese Idee verfällt, muss Gründe für die Vergleichbarkeit haben und eine Schnittmenge von Gemeinsamkeiten annehmen. Es ist darum zweckmäßig, solche angenommenen Vergleichbarkeitsmomente genauer zu betrachten. Einige Bindeglieder sind ohne großen Denkaufwand gefunden:

1)               Das Gedicht und die Aktie sind letztlich Produkte menschlicher Wertschöpfung, in ihnen vergegenständlicht sich Arbeit.

2)               Das Gedicht und die Aktie sind handelbare Waren.

3)               Das Gedicht und die Aktie unterhalten ein spezifisches Verhältnis zur Irrationalität, zur Magie und dienen als Projektion imaginärer Überschüsse.

4)               Das Gedicht und die Aktie sind an Prozesse der Spekulation und der Simulation gekoppelt.

Das klingt alles sehr abstrakt, und wie man weiß, kann noch der größte Aberwitz durch passende Theoriemodelle den Schein der Rationalität verliehen bekommen. Wir müssen also näher herangehen und Charakter und Funktionsweise des Produktes, der Ware, der Projektion, der Simulation betrachten.

 Zu 1)  Das Gedicht und die Aktie sind letztlich Produkte menschlicher Wertschöpfung, in ihnen vergegenständlicht sich Arbeit.

So einleuchtend der Zusammenhang von Arbeit und Gedicht zu sein scheint, so wenig ist er es in bezug auf die Aktie. So wie ältere romantische Mythen des Geniekultes das Gedicht zuweilen als plötzliche Emanation des Schöpfungsgeistes erscheinen lassen und die eher prosaische Arbeit am Text gern unterschlagen, so wollen Sekundärmythen neuerer Provenienz weismachen, der Kurs eine Aktie habe etwas mit dem Produktivvolumen von Unternehmen zu schaffen. Nun wird durch die mikroelektronische Revolution sowieso dauerhaft mehr abstrakte Arbeit wegrationalisiert als durch erweiterte Produktion resorbiert, d.h. menschliche Arbeitskraft geht mehr und mehr nur noch in homöopathischen Dosen in die Produkte ein. Im Finanzkapital allerdings ist die Geldseele nur noch fragil mit dem Produktionskörper verbunden. Es ist an dieser Stelle angebracht, an die Kapital-Analyse von Marx zu erinnern, die ja vielleicht doch nicht so ganz obsolet erscheint: Der Geldkapitalist „reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektemachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums...

Das Gelingen und Misslingen führen hier gleichzeitig zur Zentrali­sation der Kapitale und daher zur Expropriation auf der enormsten Stufenleiter ...Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapi­talistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige; und der Kredit gibt diesen wenigen immer mehr den Charakter reiner Glücksritter. Da das Eigentum hier in der Form der Aktie existiert, wird seine Bewegung und Übertragung reines Resultat des Börsenspiels, wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden.“ (Karl Marx, Das Kapital, 3. Band). Nahtlos kann man mit Jean Ziegler anschließen, der auf dem Berliner attac-Kongreß kürzlich erklärte: » Wenn der Max Weber, der alte, gute, 1919 geschrieben hat, Reichtum ist das Werk einer Reihe von wertschaffenden Menschen —dann ist heute Reichtum, also wirtschaftliche Macht, das Produkt der Spekulationen einer Horde wildwütender Börsenjäger « (Jean Ziegler auf dem attac-Kongreß Oktober 2001 in Berlin, in: Freitag 47/ 2001, S. 5)

Kurz gesagt, die spekulative Wertumschöpfung im Börsenhandel hat nur noch entfernt etwas mit der vergegenständlichten Arbeit zu tun; die „abstrakte Arbeit“ selbst ist völlig gereinigt von Dingeigenschaften und Subjektivitätsimplataten. Das ist wahrlich keine umwerfend neue Erkenntnis. Eine neuartige Qualität allerdings hat allerdings die Globalisierung der Finanzmärkte in den neunziger Jahren erlangt, indem durch gezielte Angriffe von einzelnen Gruppen oder sogar Einzelpersonen wie Georges Soros nationale Währungssysteme ins Wanken gebracht werden konnten und bislang kaum vorstellbare fiskalische Machtkonzentrationen sich herausbildeten. Die wechselseitige Steigerung von Produktionspotenz und Massenarmut, die  grandiose Vermögens-Umverteilung von unten nach oben - die 15 reichsten Privatpersonen der Erde besitzen ein größeres Vermögen als die Nationaleinkommen Afrikas ohne die Südafrikanische Republik – pervertiert längst schon die gerade jetzt wieder geheiligten zivilisatorischen Werte wie „Demokratie“, „Freiheit“, „Menschenrechte“. Neuartig ist allerdings auch, dass das Börsengeschehen im öffentlichen Bewusstsein zumindest der Industrieländer nicht nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt, indem es z. B. die TV-Sendeplätze des Wetterberichtes ursupiert hat, sondern dass dies mit einer mehrheitlich positiven Wertung einhergeht.

Zurück zur Poesie: In bewusster Absetzung von Poetiken, die unter Stichworten wie „Emanation“, „Epiphanie“ oder „Schöpfung“ den quasireligiösen Charakter von Poesie – in jüngster Zeit z. B. George Steiner – hervorheben, haben Lyriker im 20. Jahrhundert – die Namen Brecht und Enzensberger stehen hier stellvertretend für verschiedene Perioden -  Begriffe wie „Produktion“, „Herstellung“ oder eben „Arbeit“ bemüht, um Dichtung als etwas „Gemachtes“, als Produkt und Kommunikat für eine gesellschaftliche Verständigung zu öffnen. Auch einer der „erfolgreichen“ Teilnehmer an der Literaturbörse, Björn Kuhligk, hat jüngst unter dem Titel „Das Gedicht geht durch einen Körper und grüßt nicht mal“ ein Statement veröffentlicht, dessen Klammerparagraphen 1 und 9 ich zitieren möchte:

 „1.      das gedicht ist arbeit und boden. Manchmal kann es kapital werden. niemals kann es ein aktienfond werden. dafür ist es zu unbedeutend.

9.               das gedicht ist (minimale) arbeit an der autobiographie. es darf sich nur ein weniges von ihr entfernen. (gedichte müssen sein wie kußgewölbe. manchmal. gedichte müssen sein wie tarnkappenbomber. hin und wieder.“ (Björn Kuhligk, Pressematerial für „Zehn Jahre LiteraturWerkstatt Berlin)

Das ist nun sichtlich inspiriert worden von der merkwürdigen Angelegenheit, ein eigenes Gedicht als Kursdiagramm im Internet verfolgen zu können. Und doch ist es nicht uninteressant, dass Begriffe aus der Welt der Broker und Ökonomen in den letzten Jahren vermehrt Eingang gefunden haben in poetologische Kundgaben, wie hier bei Michael Krüger:

 

„Goethes Geburtstag vorüber, und die Kurse fallen

ins Bodenlose. Der Dollar ist zur Bückware geworden.

Die Schnee- und Schmerzgrenze liegt bei 1300 Metern,

wir hier im Flachland leben bereits unter Wasser.

Veba, Fontane, Rheinstahl, alles fällt, Novalis

Wird nicht mehr notiert. Wo steht eigentlich Celan?

Auch die Klassik ist angeblich ins Rutschen geraten,

Karajan, Celibidache, die großen Geigenvirtuosen,

alles Namen, die keiner mehr kennt.(...)

(„Poetik, September 1998, in: Michael Krüger, Archive des Zweifels, Frankfurt a. M. 2001)

 

Ein vorgereichter Kommentar zum Literaturbörsenexperiment? Soweit ich ähnliche Äußerungen von Dichtern und Dichterinnen überblicke, fallen sie zumeist sarkastisch aus. Weniger polemisch geraten Überlegungen, die sich auf Ökonomie beziehen, auf die Ökonomie des Gedichts: Von allen literarischen Gattungen sei die Lyrik diejenige, schreibt Kurt Drawert, die über die Möglichkeit verfüge, „auf kleinster beschrifteter Fläche und bei höchster Ökonomie des Materials eine maximale Dichte an Information zu erzeugen. Es qualifiziert sich also durch einen permanenten Überschuss an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“ (Kurt Drawert, Die Lust zu verschwinden im Körper der Texte, in: Kurt Drawert, Rückseiten der Herrlichkeit, Frankfurt a.M. 2001, S. 129) Im Gedicht werden die sinnlichen Resonanzen durch körpernahe Affekte übertragen: Der Zusammenhang von Rhythmus und Herzschlag, von Vers und Atmung, aber auch von Metapher und Scham, von Hyperbel und Verbergen begründet die Intimität des Gedichtes und seine Fähigkeit, Persönlichstes so zur Sprache zu bringen, als wäre es die Welt, und die Welt, als wäre sie das Persönlichste. „Poetische Sprache ist eine verzögerte Sprache. Also keine im Vollkontakt mit der brutalen Verständigungssucht der Öffentlichkeit stehende, sondern eine vom körperlichen Gedächtnis auf das ganz Eigene heruntergebremste Sprache.“ (Gerhard Falkner, Über den Unwert des Gedichts, Berlin 1993, S. 113.) Dieses unzeitgemäße Tempo des Sprechens, gekoppelt an das Atmen oder das Gehen, bedingt immerfort die Wieder- und Wiederentdeckung der Langsamkeit. Und das in der alle Lebensbereiche erfassenden Beschleunigung der Kapital-, Waren- und Bilderzirkulation. Dieses Vermögen macht das Gedicht kostbar, ja unbezahlbar, im doppelten Sinne: Das Verhältnis von Arbeitsaufwand und quantitativem Umfang ist bei der Produktion des Unikats Gedicht extrem hoch; gemeinhin dürfte die aufgewendete Arbeitszeit für einen Gedichtband der eines umfänglichen und besser verkaufbaren Romans kaum nachstehen. Aus der Literaturgeschichte sind genügend Beispiel überliefert, dass sich Lyriker in etlichen Fassungen und Überarbeitungen über Jahrzehnte an einem Gedicht aufgehalten haben. Eine solche vormoderne Produktionsweise spricht allen Erfordernissen marktwirtschaftlichen Zeitmanagements Hohn. Dort, wo Dichtung dem Druck nach Eingängigkeit, Plakativität nachgibt, hat sie freilich immer noch den scheinbaren Exklusivitätsrückhalt im Handwerk, dem Vers, dem Reim, der Strophe, dem einleuchtenden Bild, dem schrägen Zick-Zack-Vergleich usw.. Diese handwerklich korrekt gefertigten Erzeugnisse erfreuen sich seit den Klassikimitaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichbleibender Beliebtheit, nur ist heute nicht mehr Goldschnitt angesagt, sondern Ulla Hahn, und auch die Lyrikimitate des social beat oder spoken poetry, für die der Text meist lediglich der Umweg zum Auftritt, der Performance ist,  würdigen das Lyrische zum Handwerk herab. Ganz zu schweigen von den industriell verfertigten Imitaten des Geschenkgedichts, der Reim-CD und des Schlagers. Generell gilt: Der Mehrwert des Gedichts verhält sich reziprok zur Mehrwerterwartung bei seiner Vermarktung. Damit können wir überleiten zu

 

 2) Das Gedicht und die Aktie sind handelbare Waren.

Das Gedicht steht momentan recht hoch im Kurs – zumindest das vorgetragene, während der Lyrikband zum Schreckgespenst von Verlegern und Agenten mutiert. Verlustgeschäfte, die man sich aus Reputationsgründen immer noch leistet. Im übrigen sind aus den meisten Buchhandlungen die Lyrikregale seit den frühen Neunzigern verschwunden. „Von den Verhältnissen wird dem Gedicht sein Verschwinden nahegelegt. Der Raum für Wiederholung, Erinnerung, Besinnung ist ökonomisch nicht mehr vertretbar. Seine hemmenden Merkmale machen es für die Einarbeitung in unauffällige Suchten wie Information, Nachricht, Presse ungeeignet.“ (Gerhard Falkner, Über den Unwert des Gedichts, a.a.O., S. 85.)

Es nimmt daher kaum Wunder, dass der Lyriker in seiner Eigenschaft als Selbstverwertungsmonade auf andere Pferde setzt, um sich Schreibzeit ohne unfreiwillige Diät zu verschaffen: Er wird zum Inszenierungskünstler und verdient sein Geld mit Vorlesen & Vortanzen als Event-Clown. Wehe, er stottert oder hat Neurodermitis. Dass in einer Zeit des Übergangs von einer schrift- zu einer bilddominierten Kultur vor allem voyeristisches Interesse bedient wird und in der inszenierten Augenblicklichkeit der Text als Schauspiel-Akt sogleich verbrannt wird, ist ein anderes Thema. Doch selbst wenn man den Lyriker oder die Lyrikerin nur einfach zum Vorlesen einlädt, so geschieht es immer seltener, dass er/ sie allein zu Tisch gebeten wird. Im Berliner Literaturhausleben ist auffällig, dass im Doppel- oder Dreierpack gebucht wird, wenn nicht gar ein Großevent mit dem Dutzend ins Auge gefasst wird. In der Erlebnis- und Geselligkeitsgesellschaft ist die Fähigkeit zu Aufmerksamkeit, ablenkungsarmer Konzentration offenkundig rückläufig. Oder der Dichter kapriziert sich in Kleinstverlagen, die zu horrenden Preisen originalgrafische Bücher für vermögende Liebhaber produzieren. Oder er wählt die zeitweise Existenzform des Stadtschreiber-Vaganten, der sich für Monate von Heimatort und Familie zu trennen hat, um als anfassbares Ausstellungsstück deutsche Marktflecken zu veredeln. Doch was im Zeitalter grenzenloser Mobilität und Flexibilität dem Manager recht ist, sollte dem Poeten doch nicht billig erscheinen. Wobei ich selbstredend für die Erhaltung solcher letzter „Kulturschutzgebiete“ (K.-H. Bohrer) plädiere. Als letztes bleibt ihm/ ihr immer noch, seine/ ihre Wertlosigkeit in der Selbstdarstellung als „armer Poet“ zu pflegen, womit ja auch wieder einem biedermeierlichen Klischee genügt wird und mit dem der Dichter Gerhard Falkner im „entwurf einer demolation“ (in: Joachim Sartorius [Hrsg.], Minima Poetica. Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts, Köln 1999, S. 121) spielt:

 

„ICH BIN ES, der Dichter,

ich bin es nicht wert, daß man mir den Dreck

hinterher wirft, den ich von mir gebe,

ich bin, so steht es auf dem papier,

die Gestalt,

an der die Sprache sich abwischt,

der Dauergast

in ihren Elendsvierteln

(...)“

 

Die Dauerklagen der Dichter über die mangelnde Wert-Schätzung ihrer Produkte seit Anbeginn der Moderne mögen ermüdend wirken; seit den neunziger Jahren tragen sie oft resignative Züge. Interessanterweise sind sie aber an ein „trotzdem“ gekoppelt, wie hier in einem Statement von Heinz Czechowski:

„In einer Zeit, wo das Geld als einziger Überlebenswert die Existenz beherrscht, ist die Poesie als gesellschaftlicher Wert a priori zum Scheitern verurteilt. Wenn sich doch eine Handvoll Interessierter bereit finden, einer Lesung beizuwohnen, so handelt es sich um Menschen, die sich, wie die große polnische Lyrikerin Szymborska gesagt hat, verirrt haben. In den Werteskalen der Zeitenwende verirrt sich andererseits die Poesie in den Bereich einer globalen Säkularisierung der sogenannten inneren Werte (...) Wer kann, so meine ich, sollte der Poesie absagen. Es gibt, indeed, Nützlicheres zu tun. als Gedichte zu schreiben ...Wer aber einmal das Los gezogen hat, dem bürgerlichen utilitaristischen Wertesystem zu entsagen, und es auf sich genommen hat, sein Leben im Leerraum gesellschaftlicher Unnützlichkeit zu verbringen, ist dazu verurteilt, die Zeit seiner Freiheit unter dem Zwang der Tatsachen zu verbüßen.“ Aber er schließt auch ein „dennoch“ an: „Das Gedicht ver­mag nicht mehr und nicht weniger, als die unaufhebbaren Widersprüche der Welt, in der wir zu leben und die wir zu ertragen haben, zu benennen. Das ist ein hoher Anspruch, und wir wissen auch, daß ihn nur wenige Gedichte erfüllen.“ (Czechowski, Im schalltoten Raum, Sinn und Form 1-98, S. 145)

Dass einige Stimmen aus dem Osten Deutschlands besonders düster klingen, hat selbstredend mit der Erfahrung einer sehr komplexen Entwertung zu tun: der Funktion des Autors, seines gelebten Lebens und seiner Bücher, besonders drastisch vorgeführt in der stattgehabten Ablagerung von Millionen Büchern aus DDR-Produktion in Tagebauen und Schweineställen 1990, die Volker Braun in „MATERIAL XV: SCHREIBEN IM SCHREDDER“ (Volker Braun, Tumulus, Frankfurt a.M. 1999, S. 21) thematisierte:

 

„In einem Stall von 100 m Länge

Liegt der Mist bis an die Decke

MULLER MATERIAL MICKEL MAKULATUR

Eingeschweißt auf Paletten

Pfarrer Weskotts Aufgesammelte Werke

Aus dem Sturzacker des staatlichen Großhandels

Bei Espenhain das BROT FUR DIE WELT

Die Nieselfelder der Hochkultur

Was für ein Umweg des Geistes

In die leeren Mägen, Wellfleisch aus Wellpappe

Wieviele Bände der GELEHRTENREPUBLIK

Reclam Leipzig, sind eine Mahlzeit

Man kann die Bücher auch anbrennen

Aber das hat keinen Nährwert

Und stört den Betrieb der Opernhäuser

...“

Mögen die Verhältnisse sich auch inzwischen als marktwirtschaftlich geordneter darstellen, das Miterleben massenhafter Vernichtung von Literatur, die „sich nicht mehr rechnet“, wirkt bis heute nach. Die Frage nach den Auswirkungen des Anpassungsdrucks des Marktes auf das eigene Selbstverständnis, der sie sich noch mit existentieller Vernichtungshärte stellen mussten, wird gegenwärtig von den meisten deutschsprachigen Lyrikern umgangen, wie sich überhaupt die neunziger Jahre als wenig debattenfreundlich erwiesen. Ein Grund hierfür dürfte sicher darin liegen, dass die Verkaufszahlen für Gedichte sowieso dem kaum messbaren Bereich zustreben. Während allgemein vermutet werden darf, dass die pekuniäre Schwergewichtsverlagerung vom Buch zum Auftritt nicht ohne Auswirkungen auf eine gewisse „Verständlichkeits“-Glättung der Texte bei ehedem dezidiert Avantgarde-nahen Autoren geblieben sein könnte, gibt es durchaus, besonders aus dem Hause Fischer, vereinzelte Vorstöße, das Verhältnis des Lyrikers zur Ware Gedicht in der Marktgesellschaft neu zu bedenken. Dirk von Petersdorff etwa möchte ein „luftiges Ich“ erschaffen jenseits der „Metaerzählungen“, und empfiehlt hierfür, „neue Sprachen (zu) lernen, die der Werbung, der Soziologie, der Astrologie“. Nun sehe ich dabei vorwiegend konturarme Gebilde mit zufälliger Füllung, eine Art Stopfganslyrik sprachlicher Verdoppelung des Diskurs-Zappings herauskommen, aber die Begründungen sind nicht uninteressant. „Postmoderne Lyrik mag komisch sein, in ihr lacht ein Mensch in einer reichen Demokratie am Ende des 20. Jahrhunderts“, rät er und auch, „in nächster Zeit auf die Worte TIEFE und WESEN (zu) verzichten“. Denn: „WIR SCHREIBEN DAS ENDE DER METAERZÄHLUNGEN, bis auf weiteres sind wir von den historischen Utopien befreit. Die neue Lyrik wird ein Ich nach dem Zerfall großer Blöcke und fester Gewissheiten beschreiben, ein geradezu luftiges Ich.“ Dabei wird das Plädoyer für die neue Luftigkeit mit einem gebräuchlichen ideologischen Taschenspielertrick des reinlichen entweder – oder aus der Uraltkiste der Totalitarismustheorie unterlegt, indem „die Freiheit pluraler Selbstbeschreibungen als Gut an(ge)sehen (wird), das weit höher einzuschätzen ist als der Anschluss an Großgemeinschaften.“ (Dirk von Petersdorff, Was ist an Kitzbühel so schlimm?, in: Neue Rundschau, 3/ 1993).

Wohlan, aber vielleicht sind die Gebetsmühlensätze von der angeblich so freien Ichheit ja auch ein Reflex auf das Auseinanderfallen der Gesellschaft in vergleichgültigte Selbst­verwerter, denen zunehmend das völlig Abstrakte einer Weltgesellschaft entgegensteht? Damit wächst die Bereitschaft, sich in den gerichteten Entäußerungen des „pluralen“ Selbst von vornherein als Warenform zu sehen und Kompatibilitäten nicht so sehr mit der kaum noch spürbaren „Gesellschaft“, sondern mit „Märkten“ zu sondieren – wofür ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft selbstredend Voraussetzung ist. Gerade wenn der altbekannte Bekehrungseifer zur entspannten Beliebigkeit auf die Texte durchschlägt – ein Widerspruch in sich-, tendiert die Gedichtspannung gegen Null. Man muß nicht mit Thomas Kling davor warnen, „was (...) das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein darf? Ich meine laut: Rezeptions- und Unterhaltungsindustrie. Wenn sie sich dann noch mit der Literatur verpappt, verglühen beide gemeinsam.“ (Thomas Kling, Hermetisches Dossier, in: Itenerar, Frankfurt a. M. 1997), um skeptisch zu sein gegenüber allzu einlinigen Übersetzungen von Ideologie in Poetik.

In den neunziger Jahren hat sich ohne Zweifel die Umschlaggeschwindigkeit lyrischer Moden beträchtlich erhöht, wobei das betriebsame Up und Down kaum die Reibungsarmut verbergen kann, die diese Wellenbewegungen begleiten und die wesentlich auf die Verabschiedung älterer Funktionsvorstellungen von Dichtung zurückzuführen ist. In diesem Punkte berühren sich die Reflexionen von Petersdorff, Kling oder Grünbein sogar. So sei laut Durs Grünbein der Dichter als Präzeptor „in den modernen Individualgemeinschaften (Jeder in seiner Welt, so viele Welten...)“ anachronistisch. „Deshalb ja auch hat die Dichtung  darauf verzichtet, sich abermals als ein eigenes Hoheitsgebiet an der Grenze zum Göttlichen oder zum Wahren zu etablieren. Ist das ein Grund zum Verquältsein? Seit den Tagen, als einem geschlechtskranken, großstadtsüchtigen Dichter beim Flanieren der Heiligenschein in den Rinnsteig fiel, ist das Exil vollkommen. Es ist das Exil jedes empfindsamen Menschen, der nicht mit ansehen kann, wie diese Trottel und Ausrotter ihre Tabakspfeifen auf dem Gefieder des Albatros ausklopfen... Nicht mehr der Stammesepiker, der Höfling, der rasende Patriot gibt nun den Ton an, jetzt spricht das einzelne lahme Untier, der Übelsänger, der Parasit. Und was er sagt, führt hier und da zu stiller Ver­zückung, vielleicht zum Duell unter Künstlern, oder es bleibt in den Spalten der Feuilletons kleben. Eine Weile konnte es so etwas wie das Attentat auf den guten Geschmack geben, einen Akt letzten phantastischen Ungehorsams; mittlerweile geht es hauptsächlich um den rechten sensualistischen Komfort, um Kör­perpflege mit lyrischen Mitteln, um das Wort als individuelle Note, Werkzeug des unver­wüstlichen Eigensinns. Die Avantgardismen sind in ihr galantes Stadium eingetreten. Hier bringen sie dem vom Lärm überströmten Zeit­genossen ihr feines nervliches Knistern zu Gehör.“ (Durs Grünbein, Die Schweizer Korrektur, Basel 1995, S. 33)

Ist es diese ausschließliche Rückführung auf die „individuelle Note“, die das Gedicht reif machte für die Teleportation in die Aktie? Haben sich Ost-Erfahrung der nie wirklich massenhaft akzeptierten Kollektiv-Psychosen und West-Desillusionierung der begriffsromantischen und - abgesehen von der Kulturindustrie – sozial-ökonomisch herzlich folgenarmen Revolten der sechziger / siebziger Jahre vielleicht doch in einer somnambulen Müdigkeit getroffen, beim Thema „Lyrik und Gesellschaft“ nur noch eine Fußnote von Adorno zu erinnern ?  Ist in diesen verschwommenen Übereinkünften, wie sie etwa „Die Schweizer Korrektur“ von Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse transparent macht,  eine veränderte Bereitschaft eingeschrieben, das Gedicht zwar in Beziehung zum Stammhirn (Grünbein) oder zu Firmen-„philosophien“ (Oleschinski) zu sehen, aber kaum noch als Medium gesellschaftlicher Kommunikation auszutasten. Brigitte Oleschinski ist dabei der Problematik auf der Spur, wenn sie beobachtet: „Selbst im Karussell des Kulturbetriebes tragen zeitgenössische Gedichte kaum zu den aktuellen ästhetischen Auseinandersetzungen bei, weil (...) das allgemeine Desinteresse an ihnen jegliche Maßstäbe für eine engagierte, trennscharfe (Selbst-)Kritik verwischt und damit nach und nach alle Horizonte auflöst, vor denen Poesie sich als adäquater künstlerischer Ausdruck situieren könnte.“ (Brigitte Oleschinski, in: Die Schweizer Korrektur, a.a.O., S. 25f.) Es sind dann doch noch einige Schritte zur idiotischen Angela-Merkel-Befindlichkeitskundgabe: "Ich fühle mich wie eine Infineon-Aktie." Aber wieviele? Zum Handelsgegenstand Aktie brauche ich hier nichts weiter zu sagen. Aber das Gedicht als Handelsgegenstand Aktie ? In einer Gesellschaftskonditionierung, der es inzwischen offensichtlich normal erscheint, inzwischen alles nach marktwirtschaftlichen Kriterien zu bewerten, scheint das nicht absurd zu sein. Leider aber sind viele der  eigentlichen Felder menschlichen Glücksstrebens, elementare Bedürfnisse: Liebe, gemeinschaftliches Verbundensein, Selbstvergewisserung, Transzendenz usw. nicht börsentauglich, weswegen profitable Surrogate die Industrien der Innerlichkeit, des Sex usw. anheizen. Dem Terror der kapitalistischen Ökonomie scheint nichts mehr entgehen zu dürfen. Die Literaturbörse als Simulation dieses totalitaristischen Anspruchs entblößt, soweit ihr denn der Geist postmoderner Ironie zugrunde liegt, die Absurdität der herrschenden Ideologie des Neoliberalismus. Im anderen Falle wäre sie nurmehr ein perverses Spiel mehr auf dem Markt der Möglichkeiten.

Zu 3)  Das Gedicht und die Aktie unterhalten ein spezifisches Verhältnis zur Irrationalität und dienen als Projektion imaginärer Überschüsse.

Joseph Brodski bemerkte einmal, Gedichte legten innerhalb eines kurzen Zeitraums eine enorme geistige Strecke zurück und gewährten einem oft gegen Ende eine Epiphanie oder Offenbarung.  Diese Immanenz des Poetischen ist in den letzten Jahren erstaunlich häufig in Autorenpoetiken herausgehoben worden – erstaunlich deshalb, weil die Betonungen bis in die achtziger Jahre hinein international eher auf den Erkenntnismöglichkeiten des Gedichtes, auf seinen  Strukturierungsqualitäten, auf seinen kommunikativen Potenzen usw. lagen. Die argentinische Lyrikerin Olga Orozco etwa hebt in ihrem Essay „Imaginäre Abenteuer der Poesie“ hervor: „Der Dichter glaubt, über fast magische Kräfte zu verfügen. Er versucht, die verbotenen Bezirke, die unaussprechlichen Wünsche, die riesigen Steinbrüche des Traums zu erforschen. Er trachtet danach, die Harnische des Vergessens aufzubrechen, den Wind und die Gezeiten auszuhalten, die Zukunft zu erfahren, zwischen den Toten zu leben. (...) Der Dichter übertritt die Gesetze der Schwerkraft und des Gleichgewichts. Er befindet sich in schwindelerregender Höhe und geht dann über zum Sturz in den grenzenlosen Raum. Der Dichter taucht mit Verwunderung in fremde Körper unter. Er hat Erstickungsanfälle und leidet an Zerfall und Zersetzung. In der Zwischenzeit bleibt er mit seinem täglichen Dasein durch einen dünnen Faden verbunden, der manchmal die Fragilität des Imaginären erreicht und ihn allein durch ein Wunder zum Ausgangspunkt zurückführt.“ (Olga Orozco, Imaginäre Abenteuer der Poesie, in: Joachim Sartorius (Hrsg.), Minima Poetica. Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts, a. a. O., S. 25f.)

Auch das Geld im Allgemeinen und die Aktie im Besonderen ist mit Wünschen, Gesetzesübertretungen, schwindelerregenden Höhen und grenzenlosen Stürzen verknüpft. Das biblische Gleichnis des Tanzes um das Goldene Kalb wie die Marxsche Analyse des Fetischcharakters des Geldes bezeugen sprachlich die Nähe zu Religion und Kult. Burkhart Spinnen hat  trefflich im Diskussionsforum der Literaturbörse die gute Botschaft des neuen Jahrtausends aufgegriffen: „Doch jetzt ist Schluss mit diesem eklatanten Mangel an Verbindlichkeit. Denn nun gibt es die internationalen und überallhin verbreiteten Börsenkurse. Und an denen kann eine mittlerweile vollkommen aufs Ökonomische fixierte Weltgemeinschaft ihre tägliche hochverbindliche Realität ablesen - ja, sie kann sogar aus den Zick-Zack-Linien der Kurse die Prophezeiungen für ihre Zukunft ziehen wie weiland die Seher aus dem Flug der Vögel oder aus der Eingeweide geschlachteter Tiere.  Denn die Börsenkurse sind unmittelbar zu Gott!“ Doch nicht nur der Schriftsteller gibt sich verzückt, auch der Soziologe: „Ich bin total fasziniert von dieser Börsen­welt, nicht nur als Soziologe, sondern auch, weil da ein Universum entstanden ist, in dem totale lrrationalität koexistiert mit höchster Rationalität. Die calvinistischen Genfer Pri­vatbankiers rekrutieren Kernphysiker, die Modelle der Börsenvorgänge mit allen Variablen, die man überhaupt denken kann, ent­werfen, um die Risiken zu minimieren. Also höchste Rationalität. Aber die Börsen reagieren ­auf dumpfe Ängste, auf Euphorie, auf falsche Nachrichten mit totaler Emotivität.

Diesem System sind wir heute ausgeliefert. Heute liegt die Weltherrschaft bei einer ganz kleinen Gruppe von Oligarchien, die das Fi­nanzkapital beherrschen, die vernetzt sind, sich gleichzeitig bekämpfen durch Übernah­men, Fusionen und ähnliches, die aber das Sy­stem global verteidigen.“ (Jean Ziegler, Rede auf dem attac-Kongreß in Berlin, Oktober 2001, a.a.O.) Während die Irrationalität des Gedichtes die Geheimnisse menschlicher Existenz stimmhaft zu machen trachtet, laufen über die Irrationalitäten von Börsenkursen die  ungeheuerlichsten Vernichtungsprozesse menschlicher Tätigkeit ab. Seit jüngster Zeit ist der damit verbundene Terror weltpolitisch auch noch mit einer militärischen Globalisierung verkoppelt, die sinnigerweise unter dem Etikett „Kampf gegen den Terror“ firmiert.

Zu 4) Das Gedicht und die Aktie sind an Prozesse der Spekulation und der Simulation gekoppelt.

Mit dem Gedicht verhält es sich hier relativ harmlos: Es spekuliert darauf, vernommen zu werden, und es simuliert z. B. über die Gedichtinstanz „ich“ eine besondere Nähe zum Autor.  Auf den Einfluss Baudrillards auf die Theorie und Praxis des Gedichteschreibens in den letzten fünfzehn Jahren einzugehen, erspare ich mir an dieser Stelle.

Was hingegen die Großerzählungen des Jahres 2000 vom Schockschrumpfen der wesentlich auf Simulation beruhenden „neuen Märkte“ bereithielten, war möglicherweise ein kleiner Vorgeschmack auf künftige – reale – Eruptionen, die denn noch einige Überraschungen für den mitteleuropäischen Normalbürger bereithalten dürften. Seit dem Bankendeal zwischen den USA und Mexiko Anfang der neunziger Jahre, bei dem beide Seiten wider besseres Wissen die Simulation von Zahlungsfähigkeit als Realität vereinbarten, um in den Folgen unabsehbare Bankzusammenbrüche abzuwenden, dürfte langsam schwanen, auf welch brüchigen Fundamenten das gegenwärtige Weltfinanzsystem gebaut ist und sich die „schöne neue Welt“ von der Zukunft borgt: „Der simulierte monetäre Reichtum dieser völlig leergesaugten Zukunft ist es aber, der die bodenlos gewordene Gegenwart des Kapitalismus trägt, die Schuldenkrise scheinbar aufgefangen hat, der die Staaten, Unternehmen und privaten Konsumenten innerhalb der dramatisch geschrumpften kapitalistischen »Nor­malität« aufrecht erhält und die Fiktion erzeugt, die Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution könnten weiterhin in der Geldform mobilisiert wer­den. Die irreguläre Expansion der Geldschöpfung durch die spekulative Blase, obwohl sie die keynesianische staatliche Geldschöpfung in phantastischem Aus­maß übertrifft, erscheint deswegen nicht als Inflation, weil sie nur indirekt als Nachfrage wirkt und großenteils im Finanzsystem verbleibt.

Im Unterschied zur verblichenen keynesianischen Regulation wirkt diese spekulative Geldschöpfung aber nicht relativ ausgleichend, sondern ist Triebkraft der extremen sozialen Spaltung. Während ein wachsender Teil der Bevölkerung in Armut, ja sogar Hunger getrieben wird und der demokratische Gulag wu­chert, explodiert in den gesellschaftlichen Sektoren des spekulativen Reichtums ein bizarrer Luxuskonsum, der die Armen als Domestiken behandelt und sie nur noch durch seine Abfallprodukte reproduziert. Aber weil dieser Reichtum kein substantieller mehr ist, kann er auch mit keiner früheren Arroganz des Geldes verglichen werden. Nicht nur die ehemals kapitalproduktive Mittelklasse wird aufgerieben, sondern die upper ten des Kasinokapitalisnius selber stehen auf tö­nernen ökonomischen Füßen. Der Ubergang in die Simulation zeigt sich gera­de an der sozialen Schnittstelle der prekären »neuen Mitte“ (Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Berlin 1999, S. 742)

Das ließe sich jetzt genauer ausführen, sicher auch relativieren, doch kommt es mir recht eigentlich darauf an, dem Vergleichsspiel Aktie – Gedicht ein wenig an der Vergnüglichkeitsoberfläche zu kratzen. Und so kommt schlusshin noch einmal die Literatur ins Spiel, allerdings in einer depravierten Form: In den letzten Wochen habe ich einige meiner Freunde beim Zocken an der Literaturbörse begleiten dürfen. Da die meisten Dichter Narzissten und die meisten Narzissten Spieler sind, wundert mich es wenig, wenn etliche mit Begeisterung ihre Gewinne kundgaben. Am Mittwoch, dem 31. Oktober besuchte ich einen von ihnen  und wurde staunenden Augs Teilhaber ungeahnter Höhenflüge und Abstürze. Wie alle anderen auch hatte unser Literaturbörsenspieler 10.000 fiktive Euro bekommen und sie klug angelegt, hin und her bewegt: Sein Kontostand zeigte die Summe: 4.461.888.706.07 an. Die Uhr zeigte 15.15 Uhr, und die Aktie Norbert Niemann stand mit Kurs 500 an der Spitze. Unser Literaturbörsensoros kaufte nun flugs und verkaufte, um 15.20 Uhr stand der Kurs der Niemann-Aktie auf 14.0, um 15.21 Uhr auf 5,04, 15.24 Uhr auf 3,02 und um 15.27 Uhr auf 1,81. Allerdings ist sie dann wieder emporgeschnellt und beläuft sich momentan auf 279,88. Ach so: Ästhetische Präferenzen spielten absolut keine Rolle. Lediglich die Einstiegsnotierung hatte aufgrund der  Jurorenwertung etwas mit der Textqualität zu tun, der Rest ist Zockerei, und so ist es letztlich völlig egal, ob die Börsenindizees auf Kaffee, Stahl, die Telekom oder eben Texte verweisen.

Mit Literatur hat das Ganze herzlich wenig zu tun. Insofern kann ich den angesichts des eben Geschilderten harmlosen Hilferuf eines vom Börsengeschehen sich ausgeschlossen wähnenden Zockers (ein Irrtum übrigens, wie die Grazer Börsenaufsicht richtigstellte) verstehen, der nur nach den Regeln seiner Zunft handelte: „Ich denke, man hat mich ausgeschlossen, weil man Manipulationen vermutet (Hacking vielleicht). Das ist nicht der Fall, ich erkläre dies an Eides statt. Ich habe nur eine Möglichkeit des Systems ausgenutzt: Kauft man nämlich Aktien, steigen sie im Wert, verkauft man sie, fallen sie (auf einen niedrigeren Wert als zuvor). Das gehört zu den Gesetzmässigkeiten des Handelns. Erhöht man die Frequenz der Transaktionen, kann man in kurzer Zeit recht viel Geld - und das im wörtlichen Sinn - machen. DAS IST jedoch MARKTIMMANENT!“

So wichtig es wahrscheinlich ist, dass sich Autoren mit makroökonomischen Prozessen auseinandersetzen, die immer stärker in die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen greifen, so sehr möchte ich doch dafür plädieren, die Finger zu lassen vor dillettantischen Vereinbarungsgesuchen zwischen Literatur und Börse. Das geht nur über unappetitliche ionescosche Vernashornungen, wie sie z.B. in Vorschlägen während des Abschlusssymposions der „Literaturbörse“, Autoren sollten ihre Texte an die realen Börsen bringen und damit Druckkosten bei Verlagen vorspekulieren lassen, schon unter den Lederhäuten aufbeulen.

„Von den Verhältnissen wird dem Gedicht sein Verschwinden nahegelegt. Der Raum für Wiederholung, Erinnerung, Besinnung ist ökonomisch nicht mehr vertretbar.“ (Gerhard Falkner, Über den Unwert..., a. a. O., S. 65), klagt Gerhard Falkner. Was für Verhältnisse? Die, auf die der todkranke Heiner Müller zielte? „Die Schwierigkeit / Den Vers zu behaupten gegen das Stakkato/ Der Werbung das die Voyeure zu Tisch lädt// Verfallen einem Traum der einsam macht/ Im Kreisverkehr der Ware mit der Ware// im aktuellen Gemisch aus Gewalt und Vergessen“ Müller zieht Bilanz, seine Bilanz: „Die Lügen der Dichter sind aufgebraucht/ Vom Grauen des Jahrhunderts An den Schaltern der Weltbank/ Riecht das getrocknete Blut wie kalte Schminke.“

Vielleicht aber auch, etwas freundlicher, immer noch die, die schon Friedrich Schlegel beschrieb?

Die Verhältnisse

Rücksichten sind‘s, die unsern Blick berücken,

In Absicht jede Aussicht gleich erkalten;

Bis wir, eh‘ wir uns umgesehn, veralten,

Und beugen dann, von Einsicht schwer, den Rücken.

Roh scheint‘s, der Erde Blumen grade pflücken.

Wir möchten fein der Schonung Linie halten,

Der Liebe Leben künstlich-klug verwalten,

Verständig und mit Anstand uns erdrücken.

Wir sollen unbekannte Größen wählen,

Es sind zu wenig Gleichungen gegeben,

Drum hatt‘ und hat‘s ein sonderbar Bewandniß.

Denn weil wir endlos rechnen, zweifeln, zählen,

Wird uns das klare, leichte, freie Leben

Ein einzig viel-verschlungnes Mißverständniß.