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Peter Geist

„überdunkeltes atmen durch die umzäunung“

Über die Lyrik Lutz Seilers und ihre Wahrnehmung in der Literaturkritik

Man muß in der Erinnerung schon weit zurückgehen, genauer: in das Jahr 1991, als Durs Grünbeins „Schädelbasislektion“ erschien, um eine vergleichbare Reaktion der Literaturkritik auf einen neuen Gedichtband vergegenwärtigen zu können. Landauf, landab wurde Lutz Seilers „pech & blende“ in den Spalten des Feuilletons  besprochen, im Tone lobend bis euphorisch. „Diese Zeitgenossenschaft erscheint mit archaischer Wucht. Man wird sich daran gewöhnen müssen.“, resümierte Helmut Böttiger („Frankfurter Rundschau“, 5.8.2000). Martin Ahrends („DIE ZEIT“, 16.11.2000) erschienen die Seilerschen Gedichte als „kunstreich geborgene Erinnerungslohen, die ihre konnotative Aura erst entfalten, wenn das Darunterliegende klarer hervortritt, dem Betrachten jener 3-D-Bilder vergleichbar, die vor ein paar Jahren in Mode kamen.“ Allerdings gesteht der Rezensent am Ende auch: „Ich möchte diese Gedichte nicht missen. Ob ich sie wiederlesen werde, weiß ich nicht. Sie sind wirklich sehr anstrengend.“ Alexander von Bormann („DIE WELT“, 6.9.2000) fasste seinen Eindruck so zusammen: „ Eine ganz ungewöhnliche Lyrik, nichts weniger als unverständlich, von einer Schönheit, die sich auch grausame, harte Bilder leisten kann.“ Lothar Müller („FAZ“, 19.9.2000) wagte  einen poetischen Vergleich: „Dieses schmale, großartige Buch ist wie eine Muschel: ein Stück Deutschland ist darin eingeschlossen und rauscht.“ Und der allgegenwärtige Michael Braun (Basler Zeitung, 15.9.2000) mutmaßte, „es sieht so aus, als könne Lutz Seiler, diese nach dem `Götterliebling` Durs Grünbein wichtigste lyrische Entdeckung des Suhrkamp Verlags, traumwandlerisch sicher auf seinem Königsweg fortschreiten.“

Ja, natürlich, die Kritik war bereits eingestimmt: Hatte Seiler doch in den letzten Monaten fast alle renommierten Lyrikpreise erhalten können: den Kranichsteiner Literaturpreis, den Lyrikpreis Meran und den Dresdner Lyrikpreis. Nur spekuliert werden kann über Verstärkungseffekte von Stipendien, Preisen und Besprechungen in den kommunizierenden Röhren des Literaturbetriebs oder über die Rolle des Verlagswechsels Seilers zu Suhrkamp; unterm Strich bleibt ein imponierendes Entree in das kommunikative Netz der literarischen Groß-Öffentlichkeit. Und doch bleibt die Merkwürdigkeit, daß Seilers erster Gedichtband „berührt/ geführt“, 1995 im kleinen  Oberbaum-Verlag veröffentlicht, seinerzeit völlig unbeachtet blieb, obwohl doch bereits in diesem Band die immanente Poetik voll ausgebildet erschien. Sieben Gedichte sind dann auch konsequenterweise in den neuen Band übernommen worden. Ursula Krechel ist wohl zuzustimmen, wenn sie dem ersten Band eine Art „Sickerwirkung“ bescheinigt, aber was heißt das? Es bleibt die nicht sehr originelle Vermutung, dass geschicktes Marketing inzwischen mehr als die halbe Miete ausmachen könnte, einer wichtigen lyrischen Stimme das Gehör zu verschaffen, das ihr zukommt. Alle Spekulation beiseite: Was könnte sich an der Empfänglichkeit professioneller LeserInnen so verändert haben, bleibt die Frage, dass die Seilerschen Gedichte am Beginn des neuen Milleniums diese erstaunliche Resonanz finden. Bevor ihr nachgegangen wird, seien die Konstituenten des Seilerschen poetischen Kosmos und die poetologischen Grundlegungen skizziert, um genauer bestimmen zu können, welche Momente rezeptiv gefiltert und in der öffentlichen Wahrnehmung favorisiert wurden.

„Jeder hat nur ein Lied“ – dieses Zitat von Paul Bowles ist dem Gedichtband programmatisch vorangestellt, und es verweist auf zweierlei: Es präferiert die Leserhaltung, diese eine, bestimmende Melodie zu erfassen, was  durch eine sinnfällige Binnengruppierung der Texte denn auch erleichtert wird, und es bedenkt in kluger Selbstbeschränkung die Gewichtung einmaliger lyrischer Subjektivität - durchaus in Abgrenzung zu Dichtungspraxen, die nachmodern die Behauptung unverwechselbarer Sprachfassung im Gedicht als Hybris ablehnen und stattdessen mit dem Postulat schweifender, unwiederbringlich fragmentierter Subjektivität auf Sampeln von bzw. Zappen zwischen Diskursen setzen. Worin dieses eine Lied bestehe, wird bündig in der Begründung zur Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises umrissen, Lektüre lenkend dem Gedichtband vorangestellt: Lutz Seilers Gedichte seien „Erkundungen der Kindheitslandschaften zwischen Abraumhalden und paramilitärischen Formierungen, sie überzeugen durch ihre Intensität der sinnlichen Ausdruckskraft und ihre vielschichtige Bilderwelt.“ In der Tat: Es ist schon ein singuläres Ereignis in der neueren deutschen Lyrik, dass sich zwei Drittel der Gedichte des Bandes auf die Herkunftslandschaft und frühe Erfahrungen beziehen: auf das Aufwachsen in einer vom Uranabbau versehrten Landschaft und in einer Kultur, in der Verhaltensnormen, Umgangsformen, familiäre Gepflogenheiten hochgradig verquickt worden waren mit dem alles beherrschenden Bergbau im Dienste der Militärs. Seilers Geburtsort gibt es heute nicht mehr; das Dorf Culmitzsch bei Selingstädt fiel 1968 dem Vortrieb des Uranbergbaus zum Opfer. Ein Erfahrungsgrund mehr, sich der Herkünfte zu versichern, um das eigene, eher unheimliche Gewordensein zu begreifen, mit Bloch mithin „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. Die aber konnte späterhin nur noch in der Sprache gesucht werden. Poetisches Sprechen, dieser Gedanke ist seit Schiller unzählige Male variiert worden, erinnert in der Freistellung der Worte aus ihrem instrumentellen Gebrauch an die Freiheit kindlicher Wahrnehmung, die Dinge unbefangen und in ihrer auratischen Einzelheit zu erfassen, bevor sich der abstrahierende Mehltau der begifflichen Einordnung über sie legt. Egal, ob dabei „Gedichte als Nervensysteme der Erinnerung“ (Joachim Sartorius) oder als Gleichnisorte inkommensurablen Überschusses ihre Sogkraft entfalten. Eine Gedankenverknüpfung von Ted Hughes deutet in diese Richtung poetischer Vergewisserung: „Dass ich als Junge während der Erntezeit Mäuse jagte, sie den Garben wegschnappte, sobald diese vom Haufen gezogen wurden, und sie mir in die Taschen steckte, bis drei­ßig oder vierzig von ihnen im Futter meines Mantels herumkrabbelten - das und meine heutige Jagd auf Gedichte scheinen mir nur unterschiedliche Grade des gleichen Fiebers. Irgendwie stelle ich mir Gedichte als eine Art Tier vor. Wie Tiere führen sie ein Eigenleben; damit meine ich, sie scheinen ganz und gar losgelöst von irgendwelchen Personen, selbst von ihrem Autor, und nichts kann ihnen hinzugefügt oder weggenommen werden, ohne sie zu verstümmeln oder sie möglicherweise sogar umzubringen. Und: sie verfügen über eine bestimmte Weisheit. Sie wissen etwas Besonderes ... vielleicht etwas, auf das wir sehr neugierig sind.“ (Aus dem Essay Wie Dichtung entsteht) Dieses Insistieren auf das Eigenleben des Gedichts gründet eine poetologische Verwandtschaft im Namen der sich entfernenden Kindheit: In das Gedicht „gravitation“ von Seiler ist eine vergleichbare Auffassung eingeschrieben, die auf den kreatürlichen Urgrund körperlicher Erfahrung ebenso verweist wie auf das eigene Leben des Gedichts: „jedes gedicht geht langsam/ von oben nach unten, von unten nach oben.... jedes gedicht / geht auf ameisenstrassen/ durch die schallbezirke seiner glocke. ... das ICH / liest den eisernen zähler, der/ dir in den adern hängt: jedes gedicht nagt am singenden knochen, es/ ist auf kinderhöhe abgegriffen/ und erzählt“.

„der eiserne zähler“, „der singende knochen“ – was vordergründig eine interessante Bildspannung verspricht, hat einen schaurigen Hintergrund: das Ticken der Geigerzähler. Lutz Seiler führte in seiner Wiener Poetik-Vorlesung Januar 2001 aus, daß die Dörfer seiner Kindheit im Volksmund „müde Dörfer“ genannt wurden, ein Beobachtungsausdruck für die dauernde Müdigkeit, über die die Leute klagten: Ursache war die niedrigdosierte Strahlenbelastung, die sich auf Menschen, Getier und Flora in der Gegend um Ronneburg legte. „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere waren die prägenden Zustände dieser Zeit. Wahrnehmungszustände der Kindheit, die später wie affine Medien wirken, in denen man sich der Welt am unmittelbarsten verbunden meint.“ Diese Körperworte bildeten den Grundstock eines von Seiler so bezeichneten „Wörterbuchs des diffusen Daseins“, der ersten Kristallisation poetologischer Vorstellungen, die dem Begehren, sich im Gedicht zu ertasten, reflexiven Halt geben konnten. Zum Textideal gehörte und gehört der Versuch, „große Bewegungen im Gedicht auf ihren grotesken Höhepunkt zu treiben, wo sie zum Stillstand kommen und augenblicklich viel Abwesenheit frei wird.“ Diese Stillstellung ist Teil des Konzepts, die Würde des Einzeldings aufleuchten zu lassen, und das heißt auch, „das lange verachtete Schwere, das heißt auch Langsame, Müde, Sperrige usw. als Qualitäten der Dinge und des Daseins neu zu entdecken und `Stellen schlichter Materialität auszugrenzen` (Joseph Hanimann, Vom Schweren)  aus dem Bedeutungskreislauf der Datenflüsse.“  Wer bei „Würde des Einzeldings“ an vergleichbare Überlegungen Elke Erbs in „Der Faden der Geduld“ oder an Francis Ponge, bei  „Abwesenheit“ auch an Wolfgang Hilbig denkt, liegt richtig – die präpoetischen Entwürfe fanden späterhin Beistand durch die intensive Auseinandersetzung mit der Lyrik und Poetik vornehmlich von Dichtern und Dichterinnen der Hochmoderne, von Benn bis T.S. Eliot, von Dylan Thomas bis Peter Huchel. Schauen wir uns an dieser Stelle an einem Gedicht genauer an, wie die spezifische Sprachverfassung hergestellt wird. Ausgewählt habe ich felizettis garten:


felizettis garten

 

das gehen krankt

mit dunklen böden

& wasser aus lachen & pfeifen

als weinen als auswurf

an zahnstein zerbrochene sätze durchstochene

ohren ich hasse

 

die frau die hand vor augen

rettet das dunkel herüber

hinab in überdunkeltes atmen

durch die umzäunung

 

unseres gartens driftet ihr verwittertes kind

mit steinen im blut mit

vogelkot aus büscheln am haar aus

   blankem gestank über die zäunung

unseres gartens gegen das haus

 

der felizetti sind steine sind flüche

erschlagen das dach das

kind springt herbei & entzwei wie

eis an den wänstern der schweine

läutet im winter

sein speichel geruch hinauf zu den öfen

im himmel der dörfer hinan so verdammt

 

gehst du fort felizetti

aus unserer schmach ein halber satz ein halbes kind

mit zucker auf den lippen trittst

du in das lichtzelt über

dem acker in die körperschaft

des waldes zauber aufgeklappte lerche aber was

 

im wurzel schatten deiner fahrt

wir dir von den hacken traten alte felizetti

wirbelte sofort zu gott


„felizettis garten“ – die Überschrift benennt einen Ort, eine Person mit merkwürdig – italienisch? - klingendem Namen. Erinnerungssplitter, wie oft in Gedichtüberschriften bei Seiler, die Orte der Kindheit, das Elternhaus, die Abraumhalden, das Dorf, konkret benannte Personen. Anders als in Kindheitsgedichten etwa von Wulf Kirsten oder Andreas Altmann geht es Seiler allerdings nicht um eine möglichst genaue Rekonstruktion von Erinnerungspartikeln, sondern die eingeschossenen Realpartikel von Erinnerungsbildern sollen einen atmosphärischen und imaginativen Sog erzeugen, der der gleichgültigen Leere des Gegenwärtigen eine Beglaubigung der Existenz entgegenstellt. Erinnert wird im Gedicht die angst- und hassbesetzte Begegnung des Kindes mit der unheimlichen Frau Felizetti. Ich kann mich aus meiner eigenen Kindheit daran erinnern, wie wir, eine Bande von Nachmittagsstreunern, über Monate hinweg einen dicken alten Mann von erkennbar schlichter Gemütsart auf den Neubrandenburger Wallanlagen verfolgten, der dort Flaschen aufsammelte und uns doch als das schlechthin Andere zur Normalität, als besiegbare Inkarnation des Bösen aus einer Märchenwelt erschien: Die kindliche Projektion hat ein genaues Gespür für die Wehrlosigkeit autoritätsentbundener Erwachsener, und die mangelhafte Ausbildung moralischer Instanzen rechtfertigt noch jede Grausamkeit. Zurück zum Gedicht, dessen Eingangsverse die Situation sofort in eine leicht mystische Atmosphäre heben: „das gehen krankt/ mit dunklen böden“. Das ist nun einigermaßen dunkel, und doch erhellen sich die Verskontexte durch Seitenblicke auf andere Gedichte. Auffällig ist zum Beispiel die häufige Substantivierung des Verbs „gehen“. Seilers Gedichte sind prinzipiell reich an Bewegungsverben, oft geben sie den Einsatz des Sprechens: „ich ging im schnee mit den nervösen/ nachkriegs peitschen lampen im genick“ (fin de siècle); „ich ging knietief mit einer strömung“ (kölnisch wasser schere licht); „am ofen zu tanzen/ sorgsam zu tanzen, ich hab/ es versucht“ (potjomkins dorf). In weiteren Gedichten greift der Autor zum gleichen Stilmittel der Substantivierung: „das gehen war krank in den augen“ (wanzen); „das gehen/ nur das verdorbene gehen.“ (der frau für den mann), „das gehen kroch/ auf lang gezognem fuss zurück“ (berliner zimmer) .Auch hier wird das Substantiv „Gehen“ vergleichbar negativ – „verdorben“, „krank“ - attributiert. Äußere Bewegungsbilder werden durch die vorstellungs-irritierenden Zufügungen ins Imaginative verrückt, allerdings schießt Seiler immer wieder Realia nach, so daß eine Lesebewegung zwischen Mimesis und Imagination entsteht. In der zweiten Verszeile wird mit „dunklen böden“ der Beginn einer Toposkette gesetzt, die sich in den Versen 11, 12, 27, 32 in den Gegensatzpaaren hell – dunkel fortsetzt.  Die Grundfarbe in den Gedichten ist, wie ja schon der Bandtitel „pech & blende“ nahelegt, ein Schwarz – als Revierfarbe sowieso, aber auch als „insektenschwärze“ (im osten, lisa rothe), als „schwarz in den augen/ beim weiter drehn“ (potjomkins dorf) und strukturbestimmend in gera: „... die wasser schwärzten/ die sümpfe das schwarzwild am abend/ stand auf den strassen die schwärze der schlacken & / schwarzer holunder der etlichen/ schwärze getürmt auf den rispen, den rissen/ gesucht & befunden: wir hätten/ das bein an die zeit gebunden.“ Seiler schlägt mit prägnanten Antinomietopoi wie schwarz-weiß, dunkel-hell, aber auch Bewegungsgegensätzen „herüber /hinab“ (Zeile 11/12) Orientierungspflöcke in den Text, um zwischen ihnen die Schnüre zu spannen, an denen Assoziationen, semantische Reihungen (Verszeilen 6-8) und metaphorische Verschränkungen Halt finden, damit sie ihre Strahlkraft entfalten können. So halten im zweiten Versblock die um den unreinen Mittelchiasmus gebauten Bewegungen von außen nach innen, hin und her und von oben nach unten in Atem. Die vor- wie rückbezügliche Lokalbestimmung (Zeile 13) verklammert den zweiten und dritten Versblock, der nun die Situation ins Rätselhafte entgrenzt: „... driftet ihr verwittertes kind/ mit steinen im blut mit / vogelkot aus büscheln am haar aus/ blankem gestank“. Sicher scheint hier das Ophelia-Bild von Heym und Benn hindurch (vgl. auch kölnisch wasser schere licht), sicher grundiert schwarze Romantik die Szenerie, und doch: die Kopplung von Zuschreibungen unbelebter Natur mit menschlichen Gegebenheiten im Verein mit dem ungewöhnlichen Verb „driften“ sperrt gegen den Nachvollzug konsistenter Bilder ab. Trotzdem entsteht ein dunkel schillernder suggestiver Sog, denn die harten Bedeutungs- und Bild-Schnitte sind eingebettet in kunstreiche syntaktische Verwebungen und getragen von rhythmischen und euphonischen Verstärkungseffekten. Das Verfahren hat Methode, wie Wortgruppen aus anderen Gedichten bezeugen: „zerriebene schwalben“ (mechanik der bildwelt), „die wurzel ihres hustens leuchtete uns/ die stiege hinunter“ (latrine), „nervöse nachkriegs peitschen lampen“ (fin de siècle), „das ausgepeitschte / gebein der tische vor den palazzi“ (was bleibt bleibt), „schwaches chromosomen-strichwerk auf / den skalen“ (doch gut war) usw.. Was zunächst surrealismusnah erscheint, erweist sich in dieser durch den Band getragenen Hartnäckigkeit als gewolltes Arrangement: mechanik der bildwelt ist der allererste Text des Bandes überschrieben und bietet nicht weniger als einen Fingerzeig, mit den Gedichten umzugehen. Die abrupten Zusammenfügungen, in denen Menschliches animalisiert, Naturkörper mechanisiert und Industriezeichen vermenschlicht werden, holen die Struktur früher synästhetischer Wahrnehmung in den poetischen Schöpfungsakt, der sie im doppelten Sinn wiederholt. Anders als bei den im besten Sinn „naiven“ Dichtern wie Uwe Greßmann, Lothar Walsdorf oder Johannes Kühn allerdings nicht in der Absicht, ein ganzheitliches Weltverhältnis des Kindes als Sehnsuchtsort zu rekonstruieren, sondern im Bewusstsein dessen, daß die frühen Prägungen von Traumata, Beschädigungen und noch unreflektierbaren Bedrohungen nicht losgelöst werden können. So gehören auch die Kühnheit von Assoziationsbildungen und die zwangsbehaftete Mechanik der Verknüpfungsmuster zusammen: der „mechanik der bilder“ sind denn auch die „mechanik des blicks“ (S. 15), „mechanisches wittern & kippen“ (64) beigesellt. Die Großmetapher vom „strahlenden Material“, das unsichtbar die Lebensvollzüge durchsetzt hat, schließt diese Ambivalenz bereits ein. Figuren des Zerbrechens und der Spaltung treten, obzwar im Gedichteingang vorbereitet („zerbrochene Sätze“), im vierten und fünften Versblock von felizettis garten in den Vordergrund und erinnern ein unheilvolles Geschehen. Handeln und Sprechen werden parallel geführt bis zur schließlichen Verschränkung: „so verdammt/ gehst du fort felizetti/ aus unserer schmach ein halber satz ein/ halbes kind“. Aus diesem Moment des Gleichgewichtes führt die Sprachbewegung über die Toposoppositionen hell – dunkel und oben – unten in eine Phantasmagorie, an deren Ende das Wort „gott“ steht. Aber es ist nicht das Donnerwort religiöser Lyrik, sondern die Vorstellung des Kindes (in sonntags dachte ich an gott etwa heißt es: „hinter/ einer tür aus stahl/ sass der liebe gott; er war/ unendlich klein & lachte/ oder schlief“), die aufgerufen wird. Allerdings werden zuvor in eher lichterer Emphase luzide Romantizismen und gnostisch aufgeladene Epiphanien („lichtzelt über/ dem acker“) erinnert, die zugleich amtssprachlich verfremdet werden: es ist eben nicht der Eichendorffsche Wald, sondern die „körperschaft/ des waldes“, es ist nicht die Lerche hoch droben, sondern die „aufgeklappte lerche“, wie sie aus Bastelbögen und den weiland sehr beliebten Aufklappbüchern mit Raumeffekt bekannt gewesen sein mögen. Dann aber senkt sich der Blick, geht nach unten („was (...) wir dir von den hacken traten alte felizetti“) und in den Kreisschluss der Dunkelheiten (von „mit dunklen böden“ in der zweiten Verszeile zu „im wurzelschatten“ im letzten Versblock), um wirksam die Aufwärtsbewegung der letzten Verszeile vorzubereiten. Diese Ausbalancierung von wirkungsorientierter Konstruktion und freien Aktanten bildet in beträchtlichem Maße die Grundlage der Faszination, die von vielen Gedichten Lutz Seilers ausgeht.

Die Kreisbewegung, die das Gedicht vollführt, ist aber noch in einer anderen Hinsicht interessant: Wir finden sie nicht nur in etlichen anderen Texten wieder, sondern sie ist einem weiteren Grundtopos der Seilerschen Dichtung verbunden, dem der Höhlung: Höhlungsbilder sind allenthalben präsent, sei es in der erwähnten Gott-Projektion in ein Transformatorhaus, sei es in der Ich-Abspaltung des „radiokinds“: "im radio schlief das radiokind mit / röhren & relais, die es allein / für sich begriff, ein tacken wie / von grossen schiffen, blinken, etwas / zwischen abends aus, dann still / & leise wieder ein: allein // im dunkeln kamen / die später unauffindbaren frequenzen, lokale / frequenzen des alterns, verschwundene / dörfer & / ihr schwaches chromosomen-strichwerk auf / den skalen (...)" – Das Großbild der von mit strahlendem Material verfüllten Höhlungen in der Kindheitslandschaft nimmt sowohl die Herkunft von der Gebärmutterhöhlung auf (im poetologischen „gravitation“ heißt es: „während wir schlafen. Während/ wir eingerollt, angehockt/ zurückkriechen in/ die figuren der urzeit“, und in wir grüssten stets wir gaben antwort: „ich hockte im käfig faradays/ am ufer der weissen elster bei zwötzen“ (S. 48)), als sie auch gleichzeitig in scharfem Kontrast zur bergenden, behütenden Sehnsuchts-Übertragung steht: Figurationen  der Identität des Nichtidentischen, die stets Unheimliches evozieren. Vergleichbar funktionieren die Topoi, die dem strahlenden Müll der kindheitsher aufgesaugten Ideologeme abgewonnen  worden sind. "wir hatten / gagarin, aber gagarin // hatte auch uns", diese aphorismusnahe Sentenz trifft den Kern des Motivationsgefüges, Bilder und Sprachen der Kindheit und Jugend heraufzuholen: Kurt Drawert hat in dem exzellenten Prosastück „Spiegelland“ beschrieben, was zwei Schreibgenerationen – die in den fünfziger, sechziger, frühen siebziger Jahren in der DDR Geborenen  -  seit den achtziger Jahren wesentlich zum Schreiben trieb: "Wir sind mit Dut­zenden von ver­lo­genen Begriffen aufgewach­sen, die wir im ehrgeizigen Alter der Kindheit unbe­darft und schamlos vor uns hingesagt ha­ben und die wir auswendig lernten wie frem­de Vo­kabeln, oh­ne zu wissen, daß sie ein Le­ben und eine Existenz von innen heraus nur zum Scheitern brin­gen, wenn man sich ih­rer nicht rechtzeitig entledigt so gut es geht, und vielleicht, denke ich, be­darf es eines ganzen Lebens, sich dieser Begriffe zu ent­ledigen." Es ist eine Erfahrungswelt der überfordernden Zumutungen, zwischen offiziellem Reden und dem vielsagenden Schweigen am elterlichen Tisch, zwischen Pionierlied und tabuverletzenden, heimlich gesungenen Schmähgesängen – über die Seiler im Essay „Heimaten“ berichtet – hin- und hergerissen zu werden. Eine double-bind-Situation, die, wie aus der Psychologie bekannt, zu Rettungsversuchen in der schützenden Abschottung, dem Agieren in den Bezirken der Vorstellung und der ins Innere verlagerten Dramatik führt.   

Nun zitiert Seiler zwar etliche Kontaminationsvokabeln ins Gedicht, die rasch als Bestandteile ideologischer Erziehung zu erkennen sind. Die Phrase „Seid bereit, immer bereit“ etwa, zweimal in das Langgedicht „neunundsechzig, altes jahrhundert“ eingeschleust, ist die Begrüßungsformel der Jungen Pioniere gewesen und generierte zum rituellen Lehrer-Schüler-Dialog zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde. Doch als pure Abstandsgeste wäre das heute wohlfeil zu haben. Nein, die Zitate haben eine Funktion jenseits ideologiegeschichtlicher Banalisierung. Seiler erinnert die unter das „Erziehungsziel“ „Freundschaft zur Sowjetunion“ subsummierten „Lerninhalte“ in einem Erinnerungskontext, in dem sich einfühlende Sehnsuchtsbindung und Lehrer-Drohgebärde, neugierige Öffnung und Rückzug in das Innere zu jenem Gemisch des Nichtverbalisierbaren diffundiert, aus dem der Stoff für ein poetisches Verhalten in der Welt sich absetzen kann: „bis / sachalin stand/ ich zur wand, dass/ amurdarja & syrdarja flossen, beschrieb / bei djamila das weinen, erkläre/ wie hättest / du selber geweint“. In seiner Wiener Poetik-Vorlesung schreibt Seiler: „Dinge, Materialien und Geräusche sind die Erinnerungen dieser Zeit. Nicht, was gedacht und gesagt wurde, von mir oder anderen; überhaupt: kaum Verbal-Erinnerungen, höchstens an ein paar Zeilen, Lieder, die gesungen wurden oder nach denen wir marschierten. Brecht z.B.: `Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht...` Als Kind glaubte ich, meine Deutschlehrerin selbst hätte diese Zeilen geschrieben. Wer aus meiner mit den `Teppichwebern von Kujan-Bulak` weichgeklopften Schulklasse nicht zufällig auch andere Erfahrungen machte, hat vielleicht nie wieder freiwillig Gedichte gelesen.(...) Die Dinge selbst sind nicht in ihrer vergangenen Realität von Bedeutung, sondern als Bestandteil meines Hörens oder Sehens, das sie geprägt haben. Die Dinge der Herkunft gehören zu jener unklaren Zahl von Vermittlern, Transmissionen, Passagen und Irrwegen zum Gedicht.“ Die Lieder der Kindheit und Jugend, auf die Seiler in etlichen Gedichten zurückkommt, werden als sinnenkräftige Engramme erinnert, die etwas mit dem eigenen Gewordensein zu tun haben und die nicht beliebig zurückstutzbar sind in bloß naive Peinlichkeiten von Indoktrination. Das ist eine herauszuhebende Leistung dieser Gedichte. Statt dessen bindet Seiler sie ein in auffällig konkret situierte Empfindungslagen und vermag so unaufwendige Minigrotesken zu zeichnen: „durchs gebirge, durch die steppen zog// unsre kühne division aber wir/ standen wie abgehustet/ vor jedem ehrenmal des unbekannten.“; „ein winter bis/ du schwarz wirst kleiner/ erstens schnauze alle singen/ zweitens auf der mauer auf/ der lauer drittens lauter & // wir sangen wurden / lauter kleiner schwarz verschwanden“; „es sang von seinem bleichen/ kopf aus styropor so leise/ lieder loreleyn es sang/ man müßte nochmal/ zwanzig seyn“ usw. Das groteske Moment entspringt fast immer der Konfrontation zwischen Kollektivgesang und Einzelstimme. Lutz Seiler: „Ob in der Schule oder beim Heruntermarschieren der Kampflieder — in jeder dieser Situationen kollektiven Gesangs verkörperte sich die Dynamik unserer Grundsituation: das Eingeschlossensein des Einzelnen, seiner einzelnen Stimme und ihre Aufhebung in einem erzwungenen kollektiven Zusammenhang, Gleichschaltung und Isolationsgefühl. Was für die Hermetik unserer »Heimat«, die tat­sächliche Abgeschlossenheit des ostdeutschen Territoriums nach 1961 stand, wirkte ebenso nach innen auf die Abschottung und das Verstummen des Einzelnen hin. Ein Gefühl der Internierung grun­diert die Erinnerung, dazu die Vielzahl der Geschichten von der Abwertung des Einzelnen, seiner Individualität als das Mindere, nötigenfalls Verzichtbare.“  Seinem Essay „Heimaten“ stellt Seiler ein Gedicht voran, das so anhebt: „wir lagen vor madagaskar und hatten/ die welt/ und das thema verfehlt: wir lagen vor gera, vor krossen, wir übten/ die wurzel, revolution von unten, nicht/ bismarck, lenin, insekten/ kamen herein, kleiner / als ihr geräusch“. Es ist dies ein Gedicht, das auf Erinnerungen an die Armeezeit zurückgreift, auf die sinnentleerten Rituale, die nächtliche Einsamkeit, die tägliche Angst und die tägliche Ohnmacht, die Quälereien unter den Soldaten – Der gelernte Maurer und Zimmermann wird nach dem Wehrdienst Germanistik in Halle/Saale studiert haben, er wird eine Wissenschaftskarriere abbrechen, weil der Zwang Gedichte zu schreiben stärker ist, er wird Mitte der neunziger Jahre eine der interessantesten Literaturzeitschriften der neunziger Jahre in Deutschland -„moosbrand“ - mit herausgeben und das Programm des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst gestalten. Die Armeezeit aber war ein für die Biographie einschneidender Lebensabschnitt nicht nur, weil sie das Knochengestänge der Gesellschaft ebenso nachdrücklich in den Erfahrungsraum junger Männer führte wie die potjomkinsche Simulacrenwelt á la DDR in Gestalt von Geschütz- und Brückenattrappen. Diese Zeit war für Seiler auch eine der intensiven Lektüre: „Später erlebte ich nie wieder eine derart von den Zeitläuften abgekoppelte Lektüre wie in den 18 Monaten meines  notgedrungenen Kasernendaseins. Ein Lesen quasi außer der Zeit, schon die Stops dauerten Stunden, wenn einer der Wagen liegen blieb: Ich sah des Krieges Ruhm. / Als wärs des Todes Säbelkorb — ich las und spürte die Schwere im Vorwärtsgang unserer eisernen Karawane. Huchels Bildwelt des Nachkriegs mit den Trecks der Geschlagenen und Vertriebenen, den Gebeinen der Toten an den Wegen und den verwüsteten Chausseen berührte jene dünne Decke über unserer Angst, die nachts bei jedem Übungsalarm riss für jene Schrecksekunde na­mens »Ernstfall«.“ (aus Heimaten) Und diese Zeit markierte den Beginn ernsthaften Schreibens, ein Einschnitt, der das Lebensprogramm deutlicher vor Augen treten ließ. Seiler ist diesen Weg mit beeindruckender Konsequenz gegangen. Als wir uns Mitte der achtziger Jahre in Leipzig bei der Geburtstagsfeier des Lyrikers Thomas Böhme zum ersten Mal begegneten, war bereits im ersten Gespräch zu spüren, wie selbst-gewiss, unprätentiös und  aufmerksam er seiner Bestimmung folgte, die den Namen Poesie trägt.

„jene dünne Decke über unserer Angst“ - hier wäre dann schon ein Bogen zu schlagen zu jenem, nun gar nicht mehr so rätselhaften Satz in gravitation: „jedes gedicht / geht auf ameisenstrassen/ durch die schallbezirke seiner glocke. ...“, in dem nun drei Grundtopoi verbunden sind, die im Gedichtband wie Generalbässe den Ton angeben: Insekten – Schall und Sang – Höhlung. Sie haben aber eine so große semantische und konnotative Streuungsfähigkeit, daß auf sie sehr unterschiedliche melodische Bögen aufgebaut werden können. Darin unterscheidet sich Seiler durchaus von seinen Generationsgefährten Durs Grünbein und Barbara Köhler, die ihre Einzelbilder viel stärker einer intentionalen Idee zuordnen. Wenn das sprechende Ich in Grünbeins „vita brevis“ den Gang in die Untiefen eigenen Herkommens antritt, so ist ein erinnerte Gesang eher Vehikel einer Herleitung denn aufblitzendes Mysterium:

„...

Und aus den Klassen sang es: Ihr Musen, vergeht, wenn ich lüge ...

Alle Bedenkzeit der Welt hab ich gehabt, doch es gab nichts,

Was das Kopfschütteln lohnte. Die neuen Bibeln warn das Papier

Nicht mehr wert, und fürs Leben die einzige Lehre: die des Verzichts.

Eine Knastlitanei. Lang ists her, und sieh da, ich bin immer noch hier.

Wo Staaten wie Sandburgen rutschten, die Illusion hoch im Kurs stand.

War es Instinkt, die Musik lauter zu stellen und leise,

Die zwei, drei Zeilen zu stimmen, die dieses Land

Unter Wasser setzten.

...“

 

In Barbara Köhlers  Weltbild mit Eroberern fungiert „Gagarin“ als Ideologie-Symbol (im Verein mit Neil Armstrong, als den anderen Exponenten männlicher Eroberung des Weltraums) im Gegensatz zur konkreten Kindheitserfahrung, die eher etwas mit dem weggenommenen „buntgescheckten ball“ zu tun hatte, einer frühen Ohnmachtserfahrung also:

„die welt war die schönste glasmurmel                                      ich sah die welt vom mond von der erde

rund und bunt sie drehte sich und rollte                                     mich winzig auf der blauen glasmurmel

über die erde leuchtete in der sonne                                           sitzen der mann im mond hieß armstrong

wie in gagarins augen                                                                   winkte in die kamera

 

die welt war eine fahrt mit dem roller                                        ein kinderroller ist liegengeblieben

bergab im maiwind unter mir drehte die                                     nur das hinterrad dreht sich und dreht

kugel sich mit fliegenden haaren stand                                       sich und dreht“

ich still lachend im wind

 

die welt war der buntgescheckte ball

den mir roberto wegnahm die wahrheit

wurde zur lüge die welt drehte sich

war nicht mehr mein

 

 

Juri Gagarin, der russische Bauernsohn mit dem offenen Gesicht und dem natürlichen Lächeln, war der einzige Superstar, den die Sowjetunion hervorbrachte, und er wurde nach seinem frühen Tod endgültig zum Mythos. Er war neben dem Kapitän vom Tenkesberg oder den vier Panzersoldaten nebst Hund (die im erwähnten „wir lagen vor madagaskar und hatten“ zeichenhaft aus ihren Fernsehpanzerluken hervorspuken) einer der  wenigen östlichen Fernseh-Helden unserer Kindheit, und wenn er nach dem Willen der staatlichen Bilderproduzenten die Siegesgewissheit des Sozialismus verkörpern sollte, so blieb das keineswegs ohne Wirkung für die Kinder dieser Generation. Für ein Kind sind Mythen nicht durchschaubar, aber prägend. Ihre spätere Dekonstruktion gelingt nie rückstandslos, die Engramme sind unter die Oberflächen des Bewusstseins geritzt. Durs Grünbein und Barbara Köhler verweisen bei aller Strenge des Gedichtganges in den Schlussversen auf die Unaufgelöstheit einer Sehnsucht, die auch stets mit den Kindheitsbildern verbunden bleibt. Grünbein, schwach sarkastisch, bemüht die Amalgamierung mit den neuen Sehnsuchtsindustrien und hält aufkommende Trauer bedeckt: „Nostalgie, eine fistelnde Stimme, empfahl mir Bevor du verreckst,/ Irgendwas Fernes. Die Brandung am Strand von Hawaii?“. Barbara Köhler zieht mit dem Bild des sich drehenden Kinderrollers die Erfahrungsambivalenzen in die Gegenwart des sprechenden Ich. Lutz Seiler umgibt die Chiffre „Gagarin“ stets mit Textzeichen, die reflexartig auf erinnerte, meist trostlose Alltäglichkeiten einer Dorfkindheit und die Allgegenwart des in die Knochen gefahrenen „haldenglühns“ verweisen, so daß eine Mehrfachspannung zwischen Ideal, Ideologieillusion und Wahrnehmung aufgebaut wird, die wesentlich das Auratische der Gedichte konstituiert. Allgegenwart und All-Gegenwart: „sieben/ voll wachs mit einer aus dielen/ geatmeten schwere, acht/ mit einer aus piss-/becken zu kopf gestiegenen schwere, wir hatten/ gagarin, aber gagarin/ hatte auch uns“ (mein jahrgang, dreiundsechzig, jene); „wo warst du, gagarin// am ende stehen/ wir nur wir selbst/ noch da, mit einem guten, grossen/ löffel in den händen, doch/ dann legen wir uns/ das ei auf den löffel/ und tragen / den löffel den hof/ hinauf bis zum stall und herunter/ bis zur kammer frau koberskis(...)“; „...oder/ ich selbst bereits gestorben war oder doch/ die anderen, draußen gestorben waren/ mutter, vater, gagarin & heike oder // mutter“ (latrine). In anderen Gedichten bindet die Sprecherinstanz Benennungen aus der Sphäre der Weltraumfahrt so eng an Vorstellungen oder zentrale Grundworte wie „Himmel“ oder „Vogel“, daß durch die Zusammenziehungen in dem Verweissystem des Textes kühne Bildschlüsse aufblitzen. So etwa, wenn es am Ende von grasland  heißt: „erst dann// siehst du wie gras, das hart/ zu boden geht, dein blick/ und dieser/ unbemannte wimpernschlag....“, oder wenn im Großgedicht neunundsechzig, altes jahrhundert das ohnehin gewaltdurchwirkte Emblem des Vogels („ein salz/ zerbrochener vögel hinter den ohren“; „die lerche / ersticht den lerchensonntag“) zusätzlich mit Menschentod beladen wird: „der vogel/ der im flug krepiert, das auge/ starrt den himmel an & auf/ verlassnen umlaufbahnen/ kreist die tote hortnerin“. In diesem Gedicht geht Seiler im übrigen das Wagnis ein, ständig Sprachidiome von Unterrichts- und Zeitungssprache nachzulegen: „luftraum / über dem pakt“, „salzgitter / quartiere“; „kortschagin“, „das wirkliche blau“, „djamila“ als Lektüretitel; „fahnenappell“, „immer bereit“, „hofdienst“, „lied durch“ als Begleitsemantik der DDR-typischen Schüler-Zurichtungen – und dennoch beeinträchtigen sie nicht die Poetizität des Textes, weil sie sofort an den inneren Gefühlsraum des Ich gebunden, imaginativ gewendet werden und eine surreal-groteske Dimension erhalten, die die Ursprungsbedeutungen überschreibt. Diese Schwebezustände zu evozieren, ohne sich - von Ausnahmen abgesehen - einer noch weitergehenden Entgrenzung von Erfahrungsmaterial in die klangliche, rhythmische oder bildliche Assoziation hinzugeben, wie dies etliche Generationsgefährten Seilers für sich zum poetischen Credo erkoren haben, kennzeichnet eine Eigenart seiner Gedichte. Seilers (und auch Ulrich Ziegers) Lyrik bildet so etwas wie das missing link zwischen den etwas älteren Lyrikern und Lyrikerinnen wie Bert Papenfuß, Andreas Koziol, Kathrin Schmidt oder Kurt Drawert, denen die lyrische Auseinandersetzung mit den Bedingungen ihrer DDR-Sozialisation unabdingbar auch in der politischen und geschichtsphilosophischen Grundierung ist, und den jüngeren Vertretern eines rigiden Ästhetizismus und/ oder der ziselierten Innenweltbilderfluten (André Schinkel, Ralph Meyer, Udo Grashof, Christian Lehnert, Jörg Schieke, Thomas Kunst, Anja Nioduschewski u.a.). Es ist schon auffällig, dass die poetischen Einsätze der heute 30-40jährigen eher in phantasmagorischen Fahrten durch „ödland, nachts“ (so ein Gedichtbandtitel von André Schinkel) einen gemeinsamen Nenner finden denn in Empörungsgesten oder einem sozialen Impetus: Schon die späte DDR – wie selbst noch den Punk-Rebellen der frühen achtziger Jahre – bot ihnen keine lohnenden Reibungsflächen mehr, wohl aber  Zeit und Atmosphäre für die Kontaktnahme mit einzelgängerisch romantischen und modernen Dichtungsentwürfen in der Jahrhundertmitte des 20. Jahrhunderts: Die Gewährsleute hießen Novalis, Celan, Huchel, Meister, Thomas oder T.S. Eliot, nicht Braun, Enzensberger, DaDa oder Wiener Gruppe. Bezeichnend auch, dass Seiler immerhin noch ein Gruppen-Wir als Sprecherinstanz einsetzen kann, das auf den Jahrgang „dreiundsechzig, jene / endlose folge von kindern“ bezogen bleibt. Diese das eigene Ich übersteigende Instanz erhebt dabei nicht den Anspruch, für eine Generation zu sprechen, wie dies der junge Uwe Kolbe noch für sich reklamierte, immerhin aber für die jeweiligen Gruppen, mit denen das Ich Erfahrungen teilte, die Dorfschulzeit, die Armee-Tristesse, den Untergang der DDR. Dieses „wir“ wird hinlänglich konkret situiert, gewinnt aber im Gedicht naturgemäß an Allgemeinheit. Seine überaus häufige Anrufung gibt eine Disposition zu erkennen, die im vorausgesetzten Vereinzelungsbegehren auch eine Ambivalenz zwischen kollektiver Prägung und Bindungssehnsucht mitträgt. Dadurch, dass die erste Person Plural nicht projektiv-deklamatorisch gesetzt ist, aber gleichwohl eine beschränkte Repräsentivität erheischen kann, fungiert es rezeptiv nicht zuletzt als Schlüsselsignal für Befindlichkeitsaufschlüsse von erst ein-, dann angeschlossenen Mitbürgern unter vierzig im zerrissenen Nach-Kalte-Kriegs-Deutschland.

Womit wir wieder bei der Eingangsfrage sind, wie sich das enthusiastische Echo der Literaturkritik erklärt. Welche Momente in den Seilerschen Gedichten schlugen Kritikerinnen und Kritiker einhellig in den Bann, welche Begründungszusammenhänge werden betont?  Hierzu einige vermutende Stichpunkte:

- Hervorgehoben wurde fast von allen Rezensenten der unverwechselbare „Sound“ dieser Gedichte. So akzentuiert Ursula Krechel („Handelsblatt/ Der Tagesspiegel“, 18.10.2000) die „paradoxen Verknüpfungen des Unvereinbaren“, die „enormen Spannungsfelder“ und verallgemeinert, die Gedichte atmeten „den Staub und den Schmutz, die Verheerungen in den Köpfen und Häusern, die Erschütterungen des Umbruchs, doch ihr Formwille ist so stark, dass daraus etwas Neues entsteht, eine Textur der Durchlässigkeiten, des Doppelsichtigen.“ Vornehmlich wirkungsorientierte Wertungsnotate wie „außerordentliche Suggestivität“ (Michael Braun), „flirrender Glanz, (...) verschattete Schönheit“ (Dieter M. Gräf, DIE WELT, 12. 8. 2000), „Poesie von großer Strahlkraft“ (Joachim Sartorius, DIE WELT, 15.7.2000), „halluzigene Intensität“ (Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur 6/2000), „Glockenschläge ans Nichtgelebte“ (Martin Ahrends, DIE ZEIT, 16.11.2000), „Kompaktheit“ (Lothar Müller, FAZ 19.9.2000) sind ein deutliches Indiz dafür, dass Seilers Gedichte dazu zwingen, der Eigenart des Poetischen auf den Grund zu gehen und nicht zuvörderst Ableitungen aus Themen und Motiven zu bemühen. Angesichts der Auflösungstendenzen kultureller Vereinbarungen über Wertungskriterien gegenüber Dichtung ist zwischen den Zeilen der Kritiker fast so etwas wie Erleichterung vernehmbar, dass es immer noch nachwachsende Poeten gibt, die sich weder vom postmodernen Diskursmix noch von den naturwissenschaftlichen Infiltrationen in die Gedichtsprache übermäßig beeindrucken lassen und stattdessen auf die Klassiker der Moderne zurückgreifen, wenn es um Maßstäbe geht. Vielleicht hängt die begeisterte Begrüßung Seilers auch damit zusammen, dass sich die Entlastungserwartungen, die mit den postmodernen Ästhetiken der achtziger/ frühen neunziger Jahre verbunden gewesen waren, sich in der Dichtungspraxis nicht nur nicht erfüllt haben, sondern sich vielfach als Sackgasse erwiesen: War etwa nicht vielerorten ein verhaltenes Aufstöhnen  ob einer Textflut vernehmbar, die sich auszeichnete durch:  Unsinnlichkeit (in der Überfrachtung des Gedichts mit Zitaten und Theoremen), Beliebigkeit (die für die gedichtnotwendige Dichte verheerende Entlastung genauer Formgebung, nun nicht mehr im Namen von Ursprünglichkeit, sondern der Vermengung von Diskursen), Geschichtsvergessenheit (der Irrtum, mit dem Abweis der „großen“ Erzählungen habe sich das Problem erledigt, wie das Einzelleben in den Gang des Allgemeinen verwoben, wie Lyrik in Geschichte eingesenkt ist). Ich gehe allerdings nicht so weit wie Alexander von Bormann, der resümiert, Seilers Gedichte nähmen „den hohen Ton der fünfziger Jahre wieder auf, der in der deutschen Lyrik etwas zu leichtsinnig, etwas zu schnell preisgegeben wurde.“ Wohl knüpft Seiler an diesen Ton an, jedoch ohne noch die Sicherheit kanonischer Berufung auf symbolistische oder surrealistische Tradition zu haben, ohne ein Gegenvertrauen in die Kraft des poetischen Wortes im Sinne eines „Artistenevangeliums“ zumindest projizieren zu können, ohne auf den abendländischen Bruchfeldern der Mythologie sich so selbstverständlich bedienen zu können, wie es noch die Benn, Meister und Huchel unternehmen konnten. Seilers Lyrik ist wenig kohärent, sondern lebt vom ständigen Bruch, dem Anakoluth, der Aphasie in der Sprachsuche, der Ellipse und der Irritation als Kompositionsprinzip, noch bis in die eigenwillige Auseinanderschreibung von Komposita. Es ist eine hochmoderne Lyrik, die durch die Dekonstruktionsorgien der Postmoderne bereits hindurchgeangen ist. Sie ist allerdings nicht, wie zu zeigen versucht wurde, von einem willkürlichen Manierismus getragen, der zugunsten rhythmisch-klanglicher Effekte semantische Nachvollziehbarkeiten opfert. Sebastian Kiefer ist in seiner ansonsten sehr präzise analysierenden Besprechung in der „neuen deutschen literatur“ 6/2000 zu sehr auf Thesen von einer „Poetik der klanglich halluzinatorischen Selbsttätigkeit“ und einem „bewusstseinserweiternden Kontrollverlust“ fixiert, als dass dem Geflecht semantischer Motivverknüpfungen kritische Gerechtigkeit widerfahren könnte. Bettina Schulte (Badische Zeitung, 12. 9. 2000)  ist zuzustimmen, wenn sie resümiert, dass „Seilers Gedichte erzählen, ohne sich ans Erzählte zu verlieren. Sie haben ihren Ort und verrücken ihn doch auch leichthin ins Surreale.. Man möchte nach ihnen greifen, aber das lassen sie nicht zu. So lassen sie einen nicht los – wie es sich für große Kunst gehört.“ 

- Wie so oft, wenn eine Gedichtüberschrift den Titel für den Band hergibt, ist „pech & blende“ in den Rezensionen ausführlich gewürdigt worden. Es ist dies ein Gedicht, das im Sinne des Wortes unter die Haut geht, denn es zeigt in banger Gedrängtheit, wie das strahlende Erz die Menschen inwendig zerstörte: „...wenn vater/ nachts umherging und schrie/ den knochen das weiss das waren die knochen/ mit russischen ölen und erzen/ so sagten wir uns, er wittert das erz, es ist der knochen, ja/ er hatte die halden bestiegen/ die bergwelt gekannt, die raupenfahrt, das wasser, den schnaps/ so rutschte er heimwärts, erfinder des abraums/ wir hören es ticken, es ist die uhr, es ist/ sein geiger zähler herz“. Allein, wie in der letzten Verszeile das mythische Motiv des Geige spielenden Gevatters Tod eingezogen wird, ist ein Kabinettstück. Die Einschreibungen der Fort-Schrott-Geschichte des 20. Jahrhunderts in die Körper und Seelen, die in/ auf ihren Knochen ausgetragenen Vergewaltigungen der Natur, nicht zuletzt der Natur des Menschen, diese Engführungen bergen Menetekel, die weit über die historischen Realien hinausreichen und deshalb ihre Wirkung im Gedicht entfalten können: Sie verweisen auf den rasanten Verlust an Lebendigkeit und Entscheidungsfreiräumen individueller Lebensgestaltung, der momentan die sich globalisierenden Zivilisationsprozesse bestimmt. Die anonymen Marktkräfte bemächtigen sich der Körper, besetzen sie, bauen sie um, bald bis in die Mikrobausteine hinein, ohne dass dieses Zerstörungsgeschehen die bewusste Reflexion erreichen müsste und ausreichend Schutzmöglichkeiten gegeben wären.  In diesem Sinne sind die Seiler-Gedichte, durch die ja  die unsichtbare Verstrahlung und Vergiftung der ausgelieferten Körper geistert, hochaktuell, ohne dass die biologischen und technischen Vokabeln der neunziger Jahre bemüht werden müssen.

- In kaum einer Rezension wird verabsäumt, die Dunkelheit der Verse, Motive des Dunklen in den Gedichten mit Projektionen auf den „dunklen“ Osten zu verknüpfen. Ursula Krechel erkennt darin ein „Phänomen der Bedürftigkeit. Der Bedürftigkeit und der Scham, viel zu wenig zu wissen über den poetischen Untergrund der untergegangenen Deutschen  Demokratischen Republik. Wenn die Dichtung einer Sprache das Gedächtnis dieser Sprache ist, dann ist sie ein schützenswertes Gut. Schützenswert nicht im Sinne einer melancholischen Reflexion, sondern als eine Energie, als eine Strahlkraft, die Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwärtigkeit des Lesevorgangs verbindet. Gute Gedichte haben immer sowohl eine Sprache vorangetrieben als auch vergangenes, vom Untergang bedrohtes Sprachmaterial aufbewahrt.“ Angelika Overath schrieb in der „Neuen Züricher Zeitung“ vom 28.12.2000: „Seiler (macht) im Westen bisher ungehörte Vokabeln zu Fixsternen seines Kosmos....Seilers Gedichte bleiben schockierend keusch.“, Alexander von Bormann: „Die Intensität der Gedichte rührt gutteils daher, daß Seiler von den Ungleichzeitigkeiten, welche die DDR kennzeichneten, hochpoetisch Gebrauch macht.“ (radio kultur, 19.9.2000) Und Dieter M. Gräf befindet knapp: „Seine Hermetik ist östlich geerdet.“  Nein, es ist eben weniger die von Katrin Hillgruber vermutete „erschöpfende Abrechnung mit der sozialistischen Utopie“ (Tagesspiegel 10. 5. 2000)  sondern das Faszinosum ist vielmehr, dass es Seiler vermag, den Wörtern seines Herkommens Geruch und Geschmack zu verleihen, ohne in den Kitsch einer Heimatdichtung abzugleiten. Sie stehen im Kontrast zu einem „allgemeine(n) Verlust lebendiger Erinne­rung in der zeitgenössischen Gesellschaft, dem ein gigantischer Ersatz durch Speiche­rung entgegensteht, sich jedoch nicht nur auf den Ort der Poesie im Gedächtnis des einzelnen auswirkt. Dieser Verlust lockert die Verbindung zur Sprache im Allgemeinen“ (Ursula Krechel) In diesem Kontext wirft im übrigen das deutlicher zutage tretende Scheitern der deutschen Vereinigungsideologien um so grellere Schlaglichter auf die Ost-West-Differenzen, die auch die Literatur betreffen, auch wenn Iris Radischs Unterscheidung 1996 von der postmodernen Oberflächenliteratur West und der existenziell ernsten Literatur Ost nur eine grobkörnige Hilfskonstruktion sein sollte. Wie auch immer, offenbar hat ein bis 1989 „auf besondere Weise resistentes und bis dahin von Moden, Moderne und Lifestyle weitgehend unbedrohtes, archaisches Ich“ (Lutz Seiler in Heimaten) an Anziehungskraft eher hinzugewonnen. Denn Seilers Gedichte sind heute in andere Zeit-Kontexte eingesponnen. Deutlicher als noch vor wenigen Jahren dämmert heute das Bild der neuen globalen Weltordnung herauf: als ein Empire der totalen Beherrschung des Einzelnen, seiner Unterwerfung durch Märkte, der gleichschaltenden Vernichtung seiner Individualität in der kapitalistischen Pseudo-Individualisierung. Seilers Gedichte lassen sich eben auch lesen als unaufdringliches Beispiel, die Herrschaft über das eigene Leben, die biographischen Verästelungen wiederzugewinnen. Und darin leistet diese Dichtung etwas, wovon sich weite Teile der Kunst, der Literatur in ihrer Marktgängigkeit längst schon verabschiedet haben.

 

Lutz Seiler, berührt / geführt, Oberbaum Verlag GmbH 1995

Lutz Seiler, pech & blende, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000

Lutz Seiler / Anne Duden / Farhad Showghi, Heimaten, Göttinger Sudelblätter, Wallstein Verlag Göttingen 2001