Peter Geist Reprisen, Übermalungen, Anverwandlungen - Konstruktion von DDR-Erfahrung in Gedichten jüngerer und junger Ostdeutscher Gerade in diesen Tagen wächst sich in deutschen Literaturzeitschriften die Diskussion um eine Lyrikanthologie der unter 35-jährigen mit dem Titel „Lyrik von jetzt“ zu einem veritablen Streit um Maßstäbe der Lyrikkritik aus[1]. Selten war sich die Literaturkritik so einig im Verreißen immerhin eines kompletten Generationsauftritts. Die Herausgeber hatten das Wagnis eingegangen, jedem ihrer 74 Kombattanten den gleichen Raum von genau vier Gedichten einzuräumen, und es war klar, dass eine so strukturierte Anthologie in ästhetischer Hinsicht sehr differierend sein musste. Und noch ein eher geschichtsphilosophisches Moment erregte den Unmut der Kritik: Die Verunmöglichung von Zukunft. „Ich bin eine geräuschlose Maschine / Und werde gewartet mit dem Versprechen auf Zeit“, heißt es etwa bei Tom Schulz, und: „Die Zukunft ist ein Kind der Diagnostiker“[2]. Volker Sielaff endigt sein Gedicht „Briefe, innen und außen“ mit den Versen: „Vergangenheit /und Zukunft existieren nicht, sagt / im Fernsehn der Physiker, man könnte da nur / von einer Folge von Augenblicken sprechen.“[3] Die Kritikerin Dorothea von Törne schlussfolgert als „kleinsten gemeinsamen Nenner der Anthologie“ die Behandlung des Gedichts „als eine Folge von Augenblicken, in denen die reale Welt nur Bausteine für Sprachwelten liefert“[4]. Abgesehen davon, dass dies wohl insgesamt für jede fiktionale literarische Darstellung gilt, fällt in dieser und in anderen Kritiken auf, dass sie sich nicht die Mühe machen, die in den Gedichten geronnenen Wahrnehmungs- und Befindlichkeitssignale ernst zu nehmen und nach den Verhältnissen zu fragen, in die sie gebettet sind. Statt dessen erscheint die Verabschiedung von Zukunftsvorstellungen als Frage des individuellen Sprach- und Antizipationsvermögens. Genau dagegen wendet sich zu Recht eine heftige Attacke, die der Bevorworter der Anthologie, der Lyriker Gerhard Falkner, in der ndl 2 / 2004 gegen eine im Oberflächlichen verbleibende Lyrikkritik focht[5]. Symptomatisch für die generelle Situation, in der sich die jungen Lyrikerinnen und Lyriker bewegen, ist das Ende eines „Beat-Gedichts“ von Rainer Stolz: „... Da sah ich die Kunst: ein Turm aus Schrott. Drumherum lungerten Warengruppen. Ich sah wie Kontrakte sich schlossen. Ich ging gespenstisch um in vertrauten Ketten. Wieder trat die Utopie hart ein. Happyendverbraucher sah ich und ging rasch zum Bäcker.“[6] Der Kurzschluss von Zitatresten ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen und Wortneubildungen - „Happyendverbraucher“ – generiert eine Lässigkeitsattitüde, die jedoch kaum über die Beschreibung eines Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische Geste, noch jedes Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung der Warengesellschaft scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. Um so schwieriger erscheint dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn: „in den dunklen boutiquen der ichbildung / finden wir kinder, gefahren und penisse vor / sag vorhang, sag dingdong, sag deutung“, entfährt es Monica Rinck beim „shopping mit melanie klein“[7], bei Björn Kuhligk ist „die Ich-Funktion ... einkaufen gegangen“[8]. Und doch fällt auf, dass die lyrischen Zukunftsabsagen, hinter denen ja weniger Sarkasmus als verhüllter Schmerz stecken, dezidiert von Lyrikern vorgebracht werden, die im Osten Deutschlands aufgewachsen sind. Während ihre weiter westlich aufgewachsenen Altersgenossen sich seit den achtziger Jahren in die Atmosphäre scheinbarer Diskursbeliebigkeit, medialer Zerstreuung und Alternativlosigkeit des ökomischen Systems einüben konnten, bezeugen bei ihnen die im Gedicht angesprochenen kindheits- und jugendfernen Folienreste eine eigentümliche Angespanntheit (oder Spannung?) des Sprechens. Wie diese „Folienreste“ beschaffen sind, welche Funktion sie in der lyrischen Selbstverständigung haben, soll im folgenden untersucht werden. Dabei geben nach Sichtung des Materials vier unterschiedliche Funktionstypologien die Stichworte für die Binnengliederung der Analyse: a) DDR-Erfahrung als
symbolische Partikel-Streuung Platz
der Befreiung An
diesem Platz, der Befreiung oder
Freundschaft hieß und mehr an
ein Rollfeld bei Nebel erinnert, ist
ein Handy der kleinste gemeinsame
Nenner für ein Hallo. Die
Wahl deiner Nummer klingt wie
Für Elise auf einer Triola. Und
nimmst du ab und sprichst oder atmest
dann, stelle ich mir vor, wie
du dich dabei im Spiegel erkundest ... eine Karo anzündend. Deine
Stimme macht noch immer dieses Abrakadabra, an Wunder wie
Super‑8‑Streifen zu erinnern. Doch jene Rückblende läuft auf das gleiche hinaus wie die Masche am Strumpf... dir wird dunkel vor Augen und Mund: Anstelle eines Seufzers, Besetztzeichen zu vernehmen, ist ein Quasi‑Bescheid, dein
Trumpf.[9] Hauke Hückstädts Gedicht „Platz der Befreiung“ ist dem Gedichtband „Neue Heiterkeit“ – eine Anspielung auf de Bruyns Roman „Neue Herrlichkeit“, auf die Schrödersche „Neue Mitte“? - entnommen, der 2001 in dem renommierten „zu Klampen Verlag“ erschien. Der Band ist in drei Abteilungen gegliedert: Die dritte Abteilung „Ende der Legislaturperiode“ sieht den lyrischen Sprecher ganz in seine mehr oder weniger banalen Gegenwartsverstrickungen, der zweite Part „Hopper in Düsseldorf“ bindet Kunstsituationen /-erlebnisse an kleine Epiphanien des Alltags, der ganze erste Teil mit dem Titel „Ostelbische Briefmarke“ widmet sich der Auseinandersetzung mit DDR-Erfahrung. Der Autor, geboren 1969 in Schwedt an der Oder, reiste als Fünfzehnjähriger in die Bundesrepublik aus, studierte Germanistik und Geschichte in Hannover und lebt heute als Autor in Göttingen. Man darf davon ausgehen, dass der Staatenwechsel in der Pubertät einen Erfahrungsbruch bedeutete, der die frühen Erlebnisse gleichsam verkapselte und damit konservierte. Dass den Kindheits- und Jugenderfahrungen in der DDR ein hoher Stellenwert zukommt, belegt allein die Entscheidung, sie immerhin in einem Drittel des Bandes zu zentrieren. Hückstädts Gedicht ist deshalb so aufschlussreich, weil es eine dreifache Schwierigkeit, sich als DDR-Spätgeborener – im Gegensatz zu den „Hineingeborenen“ (Uwe Kolbe) - der DDR-spezifischen Prägungen des Gewordenseins zu versichern, evident macht: Erstens behindert die Zerstreuungskultur der Gegenwart, die ständige Konstruktion medialer Bilder, das Anfluten industriell gefertigter Zeichenströme per se den Versuch der Kontemplation. Hier ist es das Handy mit seinen digital vorgefertigten Simulations-Scheußlichkeiten klassisch-originärer Melodien, das lebendige Kontaktnahme zur Vergangenheit behindert. Der Gegensatz der Signalworte „Handy“ und „Super 8“-Film ist ein symbolisch konstruierter, ebenso wir das „Besetztzeichen“: Die Erinnerungszeichen erscheinen immer schon besetzt durch die immer gleichen, immer ideologisch konnotierten Archivbilder von Mauer, Stasi, Stacheldraht. Der Versuch des Freischaufelns unverwechselbarer, an das erinnernde Ich gebundener Bilder bestimmt den Gestus der meisten Gedichte Hückstädts. Mal gelingt es ihm halbwegs, wie in „Seepferdchen, Hotel Seestern“[10], doch in den meisten Gedichten lädt er bekannte Signalworte mit den vorgestanzten „Besetztzeichen“ selbst auf: Symptomatisch etwa in dem Gedicht „Erinnerung an Plätze“[11], in dem Nomina von Disziplinierung und Massenagitation gereiht werden – „Wunschchoräle / einer Liederbewegung“, „Fahnenmasten“, „Scherenschnitt Potjomkins“, „Fanfaren bellten./ Nelken raschelten“ etc. - , um dann mit dem überladenen Satz zu schließen: „Wollte das erhitzte Mädchen / einmal den geschmückten Traktor sehen / oder schwenkte sie mit Wimpelfähnchen / nur den Schnee vom Ordnermantel“. Abgesehen davon, dass der Text als Gedicht gründlich missglückt ist, bleibt die deutliche Vermutung, hier sollten geläufige Erwartungsbilder bestätigt werden, die exotische Kindeitsbilderreste aus dem Osten westdeutsch kompatibel machen. Nicht wirkliche Spurensuche scheint den Duktus zu prägen, sondern der Wunsch nach kommunikativer Zugehörigkeit zu den neuen, westdeutsch dominierten Echoräumen. Das fällt um so leichter, als zweitens eine gesellschaftliche Identitätsstiftung in der DDR für die „nachgeborenen“ Generationen, d.h. die in den achtziger Jahren sozialisierten, kaum mehr möglich war. Rituale, Symbole und Ideologeme waren in den achtziger Jahren bereits so weit entleert, dass es, anders als noch in den sechziger oder frühen siebziger Jahren, kaum mehr einen Gruppendruck unter Gleichaltrigen – und der ist maßgeblicher für Sozialisationskonflikte als alle Bemühungen von Elternhaus und Schule - gegeben haben dürfte, sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen. Angesagt war eher die kollektive Exilierung in westlich geprägte Jugendkulturen, egal, ob sich das jugendliche Begehren nun den Punkern, Poppern, New-Age-Adepten oder anderen Jugend-Moden zuwandte. Das Verlachen der ideologischen Herrschaftsfolklore hingegen musste nicht einmal die Form von organisiertem Widerstand annehmen, den es auch, aber nur selten gab und der immer noch drastisch geahndet wurde, etwa mit Verweis von der Erweiterten Oberschule. Der Normalfall war eher das maulende Sich-Schicken – gleichsam als Spaltungs-Figur: Sich-Schicken – in die Spielformen vorgeblichen Einverständnisses, ob sie nun Wandzeitungsverfertigung, FDJ-Versammlung oder Protestresolution gegen Nato-Doppelbeschluss hießen. In den frühen achtziger Jahren hatte die Generationsverweigerung gegenüber staatlich verordneten Zwängen vom Fahnenappell über die vormilitärische Ausbildung bis zum Blauhemdtragen bei Staatsfeiertagen ein Ausmaß erreicht, das noch in den letzten Provinzen kulturell dominant wurde. Da die Staatsmacht zwar weiter auf die Erfüllung von Ritualleistungen bestand, aber das System offener Repression im Verweigerungsfalle längst durch das System umfassender verdeckter Überwachung ersetzt hatte, war das Risiko kalkulierbar und das wirkliche Konfliktpotential im existentiellen Sinne begrenzt. Die sich abzeichnende Agoniesituation in den achtziger Jahren, verbunden mit der allgegenwärtigen diffusen Apokalypse-Stimmung angesichts der aus westlicher Sicht letztlich erfolgreichen Hochrüstung, vermochte nicht nur wenig dramatische Geschichten zu produzieren, sondern hinterließ auch wenig „einleuchtende“ (Brecht) originäre Bilder von wirklichen, nicht im Nachhinein konstruierten Konfliktsituationen – eine nicht unbeträchtliche Hürde für spannungsreiche Poetisierung des Erfahrungsmaterials. Und doch werden in die Gedichte der Nach- und Nachgeborenen immer wieder auratische Benennungen geschaufelt, die mit der DDR untergegangen sind. Der Gedichttitel „Platz der Befreiung“ erinnert an einen Platz, der vielleicht heute nicht mehr so heißt, er sucht aber auch einen „Platz der Befreiung“ für das sprechende Ich, sich von lastenden, konfliktträchtigen Erinnerungen zu lösen. Die aber dürften weniger mit Stasi und FDJ als vielmehr mit den ersten Liebeserlebnissen zu tun haben. Die sind dann verbunden mit „Super – 8-Streifen“ und der legendären „Karo“-Zigarette. Deshalb ist drittens die dezidierte Hineinzitierung von unwiderruflich verschwundenen Dingen, die Menschen umgeben haben, konstitutionell für viele Gedichte. Natürlich, auch im Westen ist die LP und die Beta-Video-Cassette längst zum Sammlerstück geheiligt, nur: im Osten ist eine ganze Konsumweltpalette von Produkten vinetahaft verschwunden und feiert nur mehr in Filmen wie „Good bye Lenin“, Ost-Pro-Messen oder raffinierten Produkt-Fakes bzw. Replacements (das Waschmittel „Spee“, Spreewaldgurken oder „Rotkäppchen-Sekt“) marktwirtschaftliche Auferstehung. Und da sich Verschwundenheiten bestens zur sekundären Mythologisierung (nach Roland Barthes) eignen, nimmt es nicht wunder, dass sie als vorzüglich zur poetischen Aufladung dienlich erscheinen. Ihr Wirkungskreis dürfte begrenzt sein, im schlechtesten Falle dienen sie als Codewörter, die nur den ostelbisch Eingewohnten verständlich sind. Diese drei Schwierigkeiten beim poetischen Abrufen von DDR-Erfahrung in den Gedichten jüngerer Lyriker sind zugleich Anzeigen für funktionale Bestimmungen, die sich ähnlich auch in Gedichten etlicher Generationsgefährten finden. Die begabte, leider im Alter von nur 28 Jahren verstorbene Lyrikerin Beatrix Haustein nimmt in ihrem Gedicht „Einen Tag in Morgenröte Rautenkranz der Himmel schwarz die Sonne gelb“ - wie vor ihr schon Lutz Seiler, Barbara Köhler oder Kathrin Schmidt - einen der wenigen östlichen Superstars ins Gedicht und konfrontiert ähnlich wie Barbara Köhler den Mythos Gagarin mit dem „Vaterunser“ und dem Bild des „Im-Kreis-Gehens“, Topos für die Langeweile am Gängelband im begrenzten Land: [...] sahen gagarin an
vaterunser der du bist im himmel das war ein foto wir fragten nach dem glück die sonne im genick drehten wir im kreis
eigentlich wollten wir doch alle kosmonauten werden und deine
augen blau wir [...][12] Bedeutsamer als das eher mittelmäßige Gedicht
ist die Tatsache, dass die Verfasserin es für nötig hielt, dem Gedicht noch
einige erläuternde Sätze hinterherzuschicken; sie vertraut offenbar nicht
mehr darauf, dass der Leser Kontexte selbst erschließen kann: Morgenröte Rautenkranz ist ein Ort im Vogtland, wo 1937 S. Jähn geboren
wurde. Es existiert dort ein Kosmonautenmuseum. Als Kinder im Ferienlager Schönheide
mussten wir jeden Sommer nach Morgenröte Rautenkranz wandern, manchmal fuhren
wir auch mit dem Bus.[13] Maik Lippert, 1966 in Erfurt geboren, ruft in seinem Gedicht „z.b. Bananen“ die frugale Sehnsuchtskonnotierung zu DDR-Zeiten ab, muss freilich mit zeittypischen Vokabeln wie „Nylontasche“ und „verkaufsstellenleiterin“ der zeitlichen Verortung nachhelfen, was, vorsichtig gesagt, der Poetizität des Textes nicht gerade zuträglich ist: z.b.
bananen esse ich noch immer am liebsten überreif wie damals fruchtkörper mit geborstenen schalen gestrandete boote am boden der nylontasche mutter noch in der schürze der
verkaufsstellenleiterin gestärkte kragenflügel im küchenhimmel [...][14] Ein Zwischenfazit: Die symbolische Partikelstreuung von DDR-Erfahrungsresten bleibt fast immer unbefriedigend, weil symbolische Kongruenzen allgemeine Wertungs-Erwartungen immer nur bestätigen und nicht irritieren, weil sie zumeist an Gegenstände und Tatbestände gebunden sind, deren Poetizität bestenfalls aus ihrem Verschwundensein gezogen werden kann, und schließlich, weil sie mit einer begrenzten Geltungsweite inhärenter Codes rechnen muss. b) DDR-Erfahrung als Spür-
und Spurensuche Wie aber kann der Dichter dem Dilemma medialer und konvergenter neuideologischer Überformung, das weite Teile der Lyrik und fast vollständig die neonaturalistische Prosa der Mittdreißiger bestimmt, entgehen? Poetisches Sprechen, dieser Gedanke ist seit Schiller unzählige Male variiert worden, erinnert in der Freistellung der Worte aus ihrem instrumentellen Gebrauch an die Freiheit kindlicher Wahrnehmung, vermag die Dinge unbefangen und in ihrer auratischen Einzelheit zu erfassen, bevor sich der abstrahierende Mehltau der begrifflichen Einordnung über sie legt. Egal, ob dabei „Gedichte als Nervensysteme der Erinnerung“ (Joachim Sartorius) oder als Gleichnisorte inkommensurablen Überschusses ihre Sogkraft entfalten. Ein solches Sensorium zu entwickeln bedarf des Mutes, sich ins Ungesagte zu bewegen. Dass es geht, führen etwa die Gedichte Lutz Seilers, Christian Lehnerts oder Uwe Tellkamps vor. Zwei Drittel der Gedichte des Bandes „pech & blende“[15] von Lutz Seiler beziehen sich auf Herkunftslandschaft und frühe Erfahrungen: das Aufwachsen in einer vom Uranabbau versehrten Landschaft und in einer Kultur, in der Verhaltensnormen, Umgangsformen, familiäre Gepflogenheiten hochgradig verquickt worden waren mit dem alles beherrschenden Bergbau im Dienste der Militärs. Seilers Geburtsort gibt es heute nicht mehr; das Dorf Culmitzsch bei Selingstädt fiel 1968 dem Vortrieb des Uranbergbaus zum Opfer. Ein Erfahrungsgrund mehr, sich der Herkünfte zu versichern, um das eigene, eher unheimliche Gewordensein zu begreifen, mit Bloch mithin „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. Die aber konnte späterhin nur noch in der Sprache gesucht werden. Das Insistieren auf das Eigenleben des Gedichts gründet eine poetologische Verwandtschaft im Namen der sich entfernenden Kindheit: In das Gedicht „gravitation“ von Seiler ist eine vergleichbare Auffassung eingeschrieben, die auf den kreatürlichen Urgrund körperlicher Erfahrung ebenso verweist wie auf das eigene Leben des Gedichts: „jedes gedicht geht langsam/ von oben nach unten, von unten nach oben... jedes gedicht / geht auf ameisenstrassen/ durch die schallbezirke seiner glocke. ... das ICH / liest den eisernen zähler, der/ dir in den adern hängt: jedes gedicht nagt am singenden knochen, es/ ist auf kinderhöhe abgegriffen/ und erzählt“[16]. „der eiserne zähler“, „der singende knochen“ – was vordergründig eine interessante Bildspannung verspricht, hat einen schaurigen Hintergrund: das Ticken der Geigerzähler. Lutz Seiler führte in seiner Wiener Poetik-Vorlesung Januar 2001 aus, dass die Dörfer seiner Kindheit im Volksmund „müde Dörfer“ genannt wurden, ein Beobachtungsausdruck für die dauernde Müdigkeit, über die die Leute klagten: Ursache war die niedrigdosierte Strahlenbelastung, die sich auf Menschen, Getier und Flora in der Gegend um Ronneburg legte. „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere waren die prägenden Zustände dieser Zeit. Wahrnehmungszustände der Kindheit, die später wie affine Medien wirken, in denen man sich der Welt am unmittelbarsten verbunden meint.“[17] Diese Körperworte bildeten den Grundstock eines von Seiler so bezeichneten „Wörterbuchs des diffusen Daseins“[18], der ersten Kristallisation poetologischer Vorstellungen, die dem Begehren, sich im Gedicht zu ertasten, reflexiven Halt geben konnten. Zum Textideal gehörte und gehört der Versuch, „große Bewegungen im Gedicht auf ihren grotesken Höhepunkt zu treiben, wo sie zum Stillstand kommen und augenblicklich viel Abwesenheit frei wird.“ Diese Stillstellung ist Teil des Konzepts, die Würde des Einzeldings aufleuchten zu lassen, und das heißt auch, „das lange verachtete Schwere, das heißt auch Langsame, Müde, Sperrige usw. als Qualitäten der Dinge und des Daseins neu zu entdecken und `Stellen schlichter Materialität auszugrenzen` (Joseph Hanimann, Vom Schweren) aus dem Bedeutungskreislauf der Datenflüsse.“[19] Wer bei „Würde des Einzeldings“ an vergleichbare Überlegungen Elke Erbs in „Der Faden der Geduld“ oder an Francis Ponge, bei „Abwesenheit“ auch an Wolfgang Hilbig denkt, liegt richtig – die präpoetischen Entwürfe fanden späterhin Beistand durch die intensive Auseinandersetzung mit der Lyrik und Poetik vornehmlich von Dichtern und Dichterinnen der Hochmoderne, von Benn bis T.S. Eliot, von Dylan Thomas bis Peter Huchel. Seiler erinnert die unter das „Erziehungsziel“ „Freundschaft zur Sowjetunion“ subsummierten „Lerninhalte“ in einem Erinnerungskontext, in dem sich einfühlende Sehnsuchtsbindung und Lehrer-Drohgebärde, neugierige Öffnung und Rückzug in das Innere zu jenem Gemisch des Nichtverbalisierbaren diffundiert, aus dem der Stoff für ein poetisches Verhalten in der Welt sich absetzen kann: „bis / sachalin stand/ ich zur wand, dass/ amurdarja & syrdarja flossen, beschrieb / bei djamila das weinen, erkläre/ wie hättest / du selber geweint“[20]. In seiner Wiener Poetik-Vorlesung schreibt Seiler: „Dinge, Materialien und Geräusche sind die Erinnerungen dieser Zeit. Nicht, was gedacht und gesagt wurde, von mir oder anderen; überhaupt: kaum Verbal-Erinnerungen, höchstens an ein paar Zeilen, Lieder, die gesungen wurden oder nach denen wir marschierten. Brecht z.B.: `Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht...` Als Kind glaubte ich, meine Deutschlehrerin selbst hätte diese Zeilen geschrieben. Wer aus meiner mit den `Teppichwebern von Kujan-Bulak` weichgeklopften Schulklasse nicht zufällig auch andere Erfahrungen machte, hat vielleicht nie wieder freiwillig Gedichte gelesen.(...) Die Dinge selbst sind nicht in ihrer vergangenen Realität von Bedeutung, sondern als Bestandteil meines Hörens oder Sehens, das sie geprägt haben. Die Dinge der Herkunft gehören zu jener unklaren Zahl von Vermittlern, Transmissionen, Passagen und Irrwegen zum Gedicht.“[21] Die Lieder der Kindheit und Jugend, auf die Seiler in etlichen Gedichten zurückkommt, werden als sinnenkräftige Engramme erinnert, die etwas mit dem eigenen Gewordensein zu tun haben und die nicht beliebig zurückstutzbar sind in bloß naive Peinlichkeiten von Indoktrination. Das ist eine herauszuhebende Leistung dieser Gedichte. Statt dessen bindet Seiler sie ein in auffällig konkret situierte Empfindungslagen und vermag so unaufwendige Minigrotesken zu zeichnen: „durchs gebirge, durch die steppen zog// unsre kühne division aber wir/ standen wie abgehustet/ vor jedem ehrenmal des unbekannten.“[22]; „ein winter bis/ du schwarz wirst kleiner/ erstens schnauze alle singen/ zweitens auf der mauer auf/ der lauer drittens lauter & // wir sangen wurden / lauter kleiner schwarz verschwanden“[23]; „es sang von seinem bleichen/ kopf aus styropor so leise/ lieder loreleyn es sang/ man müßte nochmal/ zwanzig seyn“[24] usw. Das groteske Moment entspringt fast immer der Konfrontation zwischen Kollektivgesang und Einzelstimme. Dieses Moment der Verlorenheit des einzelnen in staatlichen Kollektivdrücken thematisieren auch Gedichte von Uwe Tellkamp[25] und Christian Lehnert, die in weit ausgreifenden Langtexten ihre Armeezeit erinnern, „wo/ der zwangsläufig folgende gleichschritt/ mich nur immer wieder von neuem/ in der uniform meines nachbarn wiederholt...;“[26] (Lehnert). Lehnert entwickelt „rasende formeln / der melancholie“[27] aus einem „biotop aus schlick und schrott“[28], setzt floral-animalischeVerflüssigungsbilder gegen die „Gestelle“ von Technik, Zurüstungserfahrungen durch staatliche Brachial-Macht und Erziehung. Die Anfang / Mitte der neunziger Jahre zu Papier gebrachten Erinnerungsgänge betonen das Qualvolle des Erinnerungsprozesses, an dessen Ende nur neue Worte für Heimatlosigkeit stehen:
... teilweise hielt
die mittlere entfernung mich, eine europäische namensform,
vergessen oder wenig beachtet, wieder‑ gefunden
im geräusch des pfeifenden stahlspints aus
dem fenster, wiederverloren, von neuem war die
zusammengesetzte elblandschaft ein manöverfeld aufblitzender
laute (vorwärts deutsche jugend!), starrten
weite pupillen auf einen masten- wald
wie auf brennstäbe, das schwemmland, auf
dem ich anwesend sei, mich verästle in allem für
niemanden, in zeitlosen plattenzeilen, inmitten
der zeit, lehnen sich stacheldrahtzäune an
den kopf, erklären betreten verboten, so
fühlte ich durch die hageldecke hindurch, daß
es friert, stummer wortschatz, welche
verzweifelten partikel einer heimat?[29] c)
DDR-Erfahrung als Gegenstand
von Generalbetrachtung Einen entgegengesetzten Weg zur
Bildung eines eng an die Sehweite des sprechenden Ich gebundenen Aufbaus von
Bilder-Innenwelten schlagen junge Lyriker ein, die in Gedichten eine
systemische, geschichtsphilosophisch beladene Überschau veranschlagen. Solche
Konstruktionsverfahren, für die etwa Gedichte von Volker Braun oder Heiner Müller
Pate gestanden haben mögen, haben in Zeiten postmoderner Diskursegalität
nicht gerade Konjunktur, zumal die Einnahme eines überschauenden Standortes für
den Sprecher immer ein Autorisierungsproblem birgt. Ron Winklers Generalrückschau
„deutsche demokratische R.“ mag hierfür
als Beispiel gelten: exquisit
war dein Leben hier, delikat in der finalen Gesellschaft zur
Rettung des Menschen die Geburt bereits eine übererfüllung zum wohle
des volkes der Gattung Genosse dein verheimlichtes Ich galt als
Projekt im Sinne der Zukunft und Lenins, meister
von morgen auf der überholspur wie Heimleiter Ulbricht seit an seit mit den Klassikern ohne zeitverlust die neue
zeit, die weiter gesteigert
werden konnte von Planjahr zu Planjahr, volkseigen
und souverän wie die Kuba-Orange, Vitamin für
den Frieden, der Richtung Westen marschierte, im
Keller feinfrost in den Adern das Ringen der Lehren
– coca cola, Biermann und der
schwarze kanal – bis (Jahre später) nicht mehr zu übersehen war: diese
aufgehende Sonne wird nie eine aufgegangene Sonne
sein[30] Das
Gedicht ist erkennbar von der Schlusspointe her gebaut, ansonsten reiht es
Schlagwort an Schlagwort, Phrase an Phrase. Die Überzeichnungen wirken schon
wieder unfreiwillig komisch, es geht erkennbar nicht um Auseinandersetzung oder
Standortbestimmung, sondern vielleicht um Einschreibübungen in einen Gestus.
Hier schlägt eine frei flottierende Wut zu Buche, die eher psychologisch erklärbar
ist: Die Generation Winklers ist weitgehend um die notwendigen pubertären Ablösungskonflikte
betrogen worden, die zu einer stabilen Ich-Findung in der ersten Lebenskrise auf
dem Lebensweg unabdingbar sind. Winkler, Jahrgang 73 und in Jena aufgewachsen,
erlebte „systemnahe“ Erwachsene in der mittleren Adoleszenz nicht als
ernsthafte Konfliktgegner, sondern als in der Wendezeit zutiefst verunsicherte,
dann gedemütigte Gestalten. Die narzisstische Kränkung, die aus nicht
ausgetragenen Konflikten herrührt, sollte nicht unterschätzt werden. Der
Pioniergruß „immer bereit“ konnte so auf den Lippen gefrieren und sich
neuen, diffuseren Autoritäten anzudienen versuchen. In der Prosa von Jana
Hensel[31]
bis Claudia Rusch ist diese Eilfertigkeit, sich den neuen Machtdiskursen
pseudonaiv und clever zugleich zu unterwerfen, bei aller Vernebelungsenergie
evident, in Gedichten wie dem von Winkler in der Speisung von den ideologischen
Leitdiskursen der neunziger Jahre schlaglichtartig einsichtig. Und anzubieten
hat der Lyriker, wie er in einem Gedicht „dt. demokr. Relikt“ mit
Referenz auf Gabi Kacholds Gedichtband „zügellos“ offeriert, letztlich nur
die übliche „ich bin ich“-Folklore. [...] der visionäre Realismus aus dem
Geist der Schwielen – bis das durch Spruchband und Asche
gegangene Volk zu sich selbst kam und blieb, sanft
rebellierend aus der Deckung potemkinscher
Sprache heraus die gelackmeierten Zungen zügel
los in die Zukunft behauptend: ich bin das Ich, und
ohne mich geht es nicht[32] Ron
Winkler gehört übrigens zu den begabtesten Dichtern seiner Generation, und in
den letzten zwei Jahren versucht er mit hoher Sensibilität, den neuen
Ideologiefallen wieder zu entkommen[33].
So versucht er in einem Langgedicht
„Höhentraining, Hundsgeschichte“[34]
seinen frühen Prägungen auf ebenso persönlicher wie labyrinthischer
Erkundungsreise in die Erinnerung auf die Spur zu kommen. Das
Gedicht „August“ von Renatus Deckert, 1977 in Dresden geboren, macht noch
einmal die Schwierigkeiten anschaulich, mit Generaltopoi sinnvoll und sinnlich
zu operieren: August Ein
Mauersegler über dem Todesstreifen, ein Aufschwung
hart an der Grenze, dort,
wo Gott jetzt die Rotweinreste in
den Himmel gießt. Die Schatten der Masten dringen ein in die verbotenen Horizonte
von gestern. Ränder,
verstrickt
zu Nähten von ungeübter Hand. Raketen
und Korken, scharf
geschossen, sind
aus dem Himmel zurück. Stimmknötchen
haben
sich ausgewachsen zu Knoten in
der Zunge, die
sich nachts entwirren, wenn
die Konturen verschwimmen und alle Hunde grau
sind. Ihr
Anschlagen ein Nachhall in den Ohren der
Grenzgänger von einst. Über
die Rostspur der Stacheldrähte wächst Gras.[35] Das Gedicht thematisiert die Schwierigkeit des genauen Erinnerns, wie die Schlußsequenz überdeutlich nahelegt. Die das Gedicht durchziehende Toposkette „Grenze“ (August – Todesstreifen – verbotene Horizonte – Hunde – Rostspur der Stacheldrähte) ist einem so oft strapazierten semantischen Feld zugehörig, dass die dagegengehaltenen Poetisierungen von Gegenwartsmomenten nicht hinreichen, um dem Text mehr Substanz zu verleihen. Etwas raffinierter verfährt der Berliner Lyriker Tom Schulz, der die DDR-Erinnerung ins Groteske wendet und sich leicht zu habender Didaktik enthalten kann: [...] Erinnerung an die 70er Jahre. Ente
Lippens. Vati und Mutti, die ihr Land Nicht verkaufen werden, nicht jetzt. Alle unsere träume haben wir Mit der D-Mark bezahlt. Im Cafe Bandscheibenvorfall Schlagen die Hinterköpfe Ein letztes Mal im Küchenbüffet auf. Die Kellnerinnen mit den Altersflecken: Entführt in den Serail. [...] Deckert, Winkler und Schulz sind Protagonisten einer lebendigen Berliner Lyrikszene, die durchaus ein waches Gespür für eine geschichtssatte Großstadtlyrik-Tradition in dieser Stadt besitzt, für die Georg Heym und Gottfried Benn, Heiner Müller und Volker Braun, Durs Grünbein und Bert Papenfuß. An ihnen will sich ihr eigener Anspruch messen lassen. Wenn sie sich im Überschau-Versuch noch dann und wann überheben, so ist doch das Bemühen unverkennbar, die Gedichte zu den Welt-Rissen und Geschichts-Katakomben hin zu öffnen. d)
DDR-Erfahrung als Leerstelle Eine
vierte Umgehensweise mit DDR-Erfahrung sei hier umrissen, die, für den
Lyrikspezialisten von hohem Interesse, für den Soziologen und Kulturhistoriker
wenig ergiebig sein dürfte: Die seit Mitte der neunziger
Jahre veröffentlichten Gedichtbände junger, vornehmlich ostdeutscher Lyriker
tragen so seltsame Titel wie „Die Rosen zitieren die Adern“[36]
(Jörg Schieke), „tage in wirrschraffur“[37]
(André Schinkel), „die innenwände des horns“[38]
(Ralf Meyer), „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“[39]
(Thomas Kunst), „Ein Stück Schnee verteidigen“[40]
(Udo Grashoff). Das Abdriften von einigermaßen festen Benennungen zu
geheimnisumwitterten, phantasmagorischen Entgrenzungsmetaphern schon in der
Titelgebung deutet auf paradigmatische Verschiebungen poetischer
Aufmerksamkeit und der Traditionsbindungen. Literarische Orientierungsfiguren
finden sie, wie aus Widmungen zu ersehen, in Autoren wie Ernst Meister, Peter
Huchel, e.e.cummings oder Gerhard Falkner. Wieder einmal werden die Frühromantiker
entdeckt, vornehmlich Novalis und Brentano. Das verwundert nun so sehr nicht.
Denn vergleichbar den Frühromantikern sehen sich die jungen Dichter nach
DDR-Tristesse und möglicherweise kurzer Wende-Euphorie in einer Situation, in
der alles besser und nichts gut wird. Sie sind verheißungslos auf sich
geworfen. Anders als die etwas Älteren wie Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Kurt
Drawert oder Kathrin Schmidt war für sie - Ausnahme Lutz Seiler - die
Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Sozialisation kein Thema mehr, denn in ihrer
Kindheit und Jugendzeit bot das „langweiligste Land der Welt“ (Volker Braun
1965) ihnen offenbar wenig an sinnvollen Orientierungsmöglichkeiten in der
Gesellschaft, und die überall spürbaren Auflösungserscheinungen
verhinderten wohl auch allzu rigide Erfahrungen mit der Staatsmacht, die
traumatisierend hätten wirken können. Die pseudohedonistischen 80er sind lange
vorüber, die Ruinen-Parties Geschichte, bei verhagelten Zukünften bieten sich
Gangbarkeiten in rigiden Ästhetizismus, in die Mythologien, in ziselierte
Innenweltbilder der Beziehungsfallen und narzißtischen Allmachtsphantasien an:
„Dionysische Winterspiele“ benannte Wilhelm Bartsch in einem Nachwort zu
André Schinkels erstem Gedichtband „durch ödland nachts“ dieses Treiben[41].
Kaum ein überindividueller Einsatz, der lohnte, keine Utopien wenigstens aus
dem wittgensteinschen Geist der Sprachkritik, keine spürbare Empörung aber
auch über die Erbärmlichkeit von Lebensumständen und -aussichten. Um so mehr
bewahrt das Gedicht die Kostbarkeiten sprachlicher Funde, soll den leichten
Taumel oder die stille Verzückung evozieren, die bisweilen von kühnen
Metaphern ausgehen. Nach dem Ende der Avantgarden knüpft man eher an die
Hochmoderne der Jahrhundertmitte an, für die Namen wie T.S. Eliot, Gottfried
Benn, William Butler Yeats, Dylan Thomas oder Paul Celan stehen mögen. Deren
Lyrik war in der DDR verlegt worden, wie es überhaupt zu den frühen
Erfahrungen dieser Dichter gehört hat, daß in der sowieso wortfixierten
DDR-Gesellschaft die große Dichtung dieses Jahrhunderts in den einschlägigen
„Szenen“ junger, suchender Intellektueller große Aufmerksamkeit erfuhr.
Nicht zuletzt die Genauigkeitsansprüche im „Handwerklichen“, egal ob von
Karl Mickel oder Elke Erb weitergegeben, waren auch bei den Jüngeren noch verbindlichkeitsstiftend.
Denn hochartifiziell kommt die Lyrik der jüngeren Dichter allemal daher. Geschichte wird mythologisiert
und/oder als gleichsam archäologisch zu entziffernde Ge-Schichtung in das
lyrische Bild genommen, wie beim Hallenser Lyriker André Schinkel:
wotan flüsternd ist aller welt die zeit gestohlen der klärungen sind genug an uns vorbeigesegelt die Jahre vertrödelt wehrlos liegen zwei abendländer besoffen und erdwärts genagelt trunken vor geld- und wortnot nur noch die aggression eines bettlers zeugt von der kraft ...damals als atlantis überbraust ward von den göttern warf wotan seine flüche weiter höher schneller sicherer als heute nach der entkrampfung in der wir menschenbündel uns ruhe gönnten im flur und unterm rock der anstalt.[42]
Der
Berliner Hendrik Gericke baut kosmogonisch angedunkelte Legenden nach dem
Prinzip des „auto-reverse“ - so auch der Titel seines Gedichtbandes - und
erzeugt so die Endlosschleife einer Stimme, deren Rede immer wieder knochig
durch technisch-mathematische Interventionen durchstört wird. Der Sprecher
versucht diesen „zustand zwischen den zuständen“ in der Wiederkehr des
Gleichen als durchaus magischen Entrückungsakt heraufzuführen, wie man ihn aus
dem Schamanismus oder der kirchlichen Liturgie kennt. Der Zyklus „nocebo“
endet bezeichnend: [...] schwarzlicht herrschte vor, daß der himmel unterkellert
schien. wir liefen im kreis, blieben nicht stehen, unserem schatten aus dem licht zu gehen.[43] Geperlte Metaphorik, Wellenbewegung von Motivübergleitungen, Synkopie erotisierender Verhaltenheit kennzeichnen die Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst. Die taktvolle Inszenierung dieser raffinierten Stücke ereignet sich als Wortlust, die Körperzeichen so zu umfließen vermag, dass das Magische taktil wird und den Leser anfasst. Viele von ihnen verführen an südliche Gestade, in „lachsrosa Nächte“[44] mediterraner Hafenstädte etwa. Sprache löst sich so in verführerische Wortmusik auf. Keine Frage, hier steht eine Tradition von Mallarmé bis Poethen Pate, die in den letzten dreißig Jahren eher an den Rand der oft geschmäcklerischen Aufmerksamkeit von Lyrik-Liebhabern gewandert war. Wichtig ist „ein warmes Wort, (...) nichts weiter als eine gebogene, glückselige Form“, wie es in den „Horn-Stücken“[45] Ralf Meyers programmatisch heißt. Doch auch dort, wo reale Orte, Begebenheiten, Kindheitserinnerungen Eingang ins Gedicht finden, erscheinen sie oft in der eigentümlichen Verwaistheit symbolischer Kennung. Andreas Altmann zeichnet seine „wortebilden“[46] elliptisch um die Fixpunkte „worte“ und „bilder“, was zur Folge hat, dass die Konkreta von Benennungen oftmals zum Vehikel selbstreferentieller Brechung im Prisma des Schreibens selbst fungieren. Damit verlieren sie die Aura des Singulären und authentisch in die Sprache Erinnerten, aus dem etwa die Lyrik Wulf Kirstens ihren Reiz zu ziehen versucht. Poetizität wird hingegen eher über überraschende Verbanschlüsse, Metaphernbildungen aus Abstrakta, über die schnörkellose Syntax und den scheinobjektivierenden Gestus des Berichtens gezogen. „nur in/ den bildern fragen wir die augen wach bevor/ das letzte blatt den himmel offen hält.“[47] Das alles ist nicht reizlos und erinnert ein wenig an die seriellen Produktionen eines so monomanischen Dichters wie Lothar Walsdorf, aber das Verfahren ist relativ leicht einsehbar und hält dann doch nicht so sehr viele Überraschungen feil. Kein Fazit, aber ein Eindruck nach der Lektüre der Gedichtbände: Die Erlesenheit der Gedichte, ihre ernste Nekro-Romantik oder die luzide Leichtigkeit, mit der Bildperlen gefädelt werden - das alles hat weniger mit „Trümmer-Expressionismus“ (Iris Radisch) zu tun als mit dem Drahtseilakt, eine Gedichtsprache mit Neuigkeitsanspruch finden zu wollen. Sie betreiben eine Art „Schadenzauber“[48], wie Jörg Schieke eines seiner gelungensten Gedichte übertitelte. d)
Aussichten Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Aufmerksamkeit des Literaturmarktes und seiner massenmedialen Agenten in den letzten Jahren dezidiert den dreißigjährigen Prosa-Newcomern aus Ostdeutschland zuwandte. Egal, ob zu Ostbefindlichkeit und Ostalgiewelle, zu Erfurter Schulmassaker oder zum Widerstand im DDR-System Auskünfte erwünscht werden, sie gelten seltsamerweise mit einmal als Experten und gern gesehene Talkshow-Gäste. Während sich eine Minderheit von Lyrikern den Marktbegehren trotzig zu entziehen versucht, haben sich viele Protagonisten mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen vertraut gemacht und sich mit den Vorgaben der Herrschaftsdiskurse arrangiert. Wiewohl dabei die Lyrik eher eine Randrolle spielt, haben vermutete Öffentlichkeitsbedürfnisse jedoch auch hier längst die Produktionsästhetiken durchweicht. Dies zeigt sich insbesondere in der weitgehenden Abwesenheit von Sprachexperiment und Gesellschaftskritik im Gedicht, es zeigt sich in der Meidung strenger Formen und intertextueller Komplexität, die dem Eingängigen Widerstand böten. Es ist vielleicht überzogen, von dieser Dichtergeneration als von den „Jungen Milden“ zu sprechen, die gut in die allgemeine Biedermeierisierung der Literatur sich einfügen, wie sie in Restaurationszeiten üblich ist. Lenkt man den Blick jedoch dezidiert auf die jüngere ostdeutsche Lyrik, widersprechen viele Gedichte dem allgemeinen Bild. Sicher, je jünger die Autoren sind, desto mehr sind DDR-Embleme zum Zitat geronnen, das Erinnerung bestenfalls streifen kann. Doch kann das sprachempfindliche Hereinsehen von Erinnerungssplittern aus DDR-Zeiten in das zeitgenössische Gedicht gar nicht so paradoxerweise ein Stück weit Immunisierungsarbeit leisten gegen den Uniformisierungsdruck globalkapitalistischer Industrialisierung der Sinne, Welthaltungen und Sehgewohnheiten. Und die Einübung gerade junger Dichter und Dichterinnen in eine komplexe Welt- und Geschichtserfassung im Gedicht, wie sie Heiner Müller, Karl Mickel oder Volker Braun exemplarisch vorführten, lässt noch einiges an Überraschungen gewärtigen, wenn sich ihre dichterische Spürfähigkeit und vorhandenes Handwerkskönnen mit einer deutlicheren Empörung gegen die Unzumutbarkeit der Herrschaftsverhältnisse gegenüber der menschlichen Würde verbünden werden. Was zu hoffen bleibt.
[1] Vgl. Sebastian Kiefer, Was dürfen wir hoffen? Eine neue Dichtergeneration drängt auf den Markt., in: Kolik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 24; Michael Braun, Wenn der Dichter im Tiefkühlfach die Biere explodieren lässt, Baseler Zeitung vom 25.7.2003; Peter Geist, Süddeutsche Zeitung vom 31. 12. 2003; Gerhard Falkner, neue deutsche literatur 2/ 2004. [2] Tom Schulz, Ich bin eine geräuschlose Maschine, in: Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner, Köln 2003, S. 349. [3] Volker Sielaff, Briefe, innen und außen, in: Ebenda, S. 227f. [4] Dorothea von Törne, Wie man Leser killt. Der verpasste große Wurf – die chaotische Lyrikanthologie „Lyrik von Jetzt“, in: neue deutsche literatur 1 / 04, S. 179. [5] Gerhard Falkner, Baumfällen. Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes „Lyrik von Jetzt“, in: neue deutsche literatur 2 / 2004, S. 121ff. [6] Rainer Stolz, Beat-Gedicht, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 59. [7] Monica Rinck, shopping mit melanie klein, in: Ebenda, S. 22. [8] Björn Kuhligk, Der Stoff, aus dem die Welt, in: Ebenda, S. 157. [9] Hauke Hückstädt, Platz der Befreiung, in: Hückstädt, Neue Herrlichkeit, Lüneburg 2001, S. 8. [10] Hauke Hückstädt, Seepferdchen, Hotel Seestern, in: Ebenda, S. 14. [11] Hauke Hückstädt, Erinnerung an Plätze, in: Ebenda, S. 8. [12] Beatrix Haustein, Einen Tag in Morgenröte Rautenkranz der Kimmel schwarz die Sonne gelb, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 276f. [13] Ebenda. [14] Maik Lippert, z.b. bananen, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 34. [15] Lutz Seiler, pech & blende, Frankfurt a.M. 2000. [16] Lutz Seiler, gravitation, in: Seiler, pech & blende, a.a.O., S. 80. [17] Lutz Seiler, Heimaten, Göttingen 2001, S. 10. [18] Ebenda, S. 12. [19] Lutz Seiler, Wiener Poetik-Vorlesung, Manuskript. [20] Lutz Seiler, neunundsechzig, altes jahrhundert, in: Seiler, pech & brende, a.a.O., S. 85. [21] Lutz Seiler, Wiener Poetik-Vorlesung, Manuskript. [22] Lutz Seiler, durchs gebirge, durch die steppe zog, in: Seiler, pech & blende, a.a.O., S. 47. [23] Lutz Seiler, wanzen, in: Ebenda, S. 44. [24] Lutz Seiler, müde bin ich, in: Ebenda, S. 66. [25] Vgl. Uwe Tellkamp, (der tauchergott: utopia), in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 230ff. [26] Christian Lehnert, objekt h, in: Lehnert, Der gefesselte Sänger, Frankfurt a.M. 1997, S. 29 [27] Christian Lehnert, ohne ausgang, in: Ebenda, S. 27. [28] Christian Lehnert, spaziergang in übigau, in: Ebenda, S. 21. [29] Christian Lehnert, bei nahendem Gewitter, in: Ebenda, S. 32f. [30] Ron Winkler, Deutsche Demokratische R., Manuskript. [31] Vgl. Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek 2002; Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, Berlin 2003 [32] Ron Winkler, dt. demokr. Relikt, Manuskript. [33] Siehe etwa: Ron Winkler, Vereinzelt Passanten. Gedichte, Berlin 2004. [34] Ron Winkler, Höhentraining, Hundsgeschichte, Manuskript [35] Renatus Deckert, August, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 211. [36] Jörg Schieke, Die Rosen zitieren die Adern, Berlin 1995. [37] André Schinkel, tage in wirrschraffur, Halle-Zürich 1996. [38] Ralf Meyer, die innenwände des horns, Halle-Saale 1996. [39]
Thomas Kunst, Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Berlin 1998. [40] Udo Grashoff, Ein Stück Schnee verteidigen, Halle an der Saale 2001. [41] Wilhelm Bartsch, Nachwort, in: André Schinkel, durch ödland nachts, Halle-Zürich 1994. [42] André Schinkel, wotan, in: Schinkel, durch ödland nachts, a.a.O., S. 62. [43] Henryk Gericke, nocebo, in: Gericke, autoreverse, Berlin 1996. [44] Thomas Kunst, Ein von der Stadt verlassenes Meer, in: Kunst, Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Berlin 1998. [45] Ralf Meyer, Horn-Stücke, in: Meyer, die innenwände des horns, Halle 1996, S. 33. [46] Andreas Altmann, wortebilden, Berlin 1997. [47] Andreas Altmann, tiere im novemberpark, in: Ebenda, S. 86. [48] Jörg Schieke, Schadenzauber, in: Schieke, Die Rosen zitieren die Adern, Berlin 1995, S. 9.
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