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Peter Geist

 

Reprisen, Übermalungen, Anverwandlungen  - Konstruktion von DDR-Erfahrung in Gedichten jüngerer und junger Ostdeutscher

 

Gerade in diesen Tagen wächst sich in deutschen Literaturzeitschriften die Diskussion um eine Lyrikanthologie der unter 35-jährigen mit dem Titel „Lyrik von jetzt“ zu einem veritab­len Streit um Maßstäbe der Lyrikkritik aus[1]. Selten war sich die Literaturkritik so einig im Ver­reißen immerhin eines kompletten Generationsauftritts. Die Herausgeber hatten das Wag­nis eingegangen, jedem ihrer 74 Kombattanten den gleichen Raum von genau vier Gedichten einzuräumen, und es war klar, dass eine so strukturierte Anthologie in ästhetischer Hinsicht sehr differierend sein musste. Und noch ein eher geschichtsphilosophisches Moment erregte den Unmut der Kritik:  Die Verunmöglichung von Zukunft. „Ich bin eine geräuschlose Ma­schine / Und werde gewartet mit dem Versprechen auf Zeit“, heißt es etwa bei Tom Schulz, und: „Die Zukunft ist ein Kind der Diagnostiker“[2]. Volker Sielaff endigt sein Gedicht „Briefe, innen und außen“ mit den Versen: „Vergangenheit /und Zukunft existieren nicht, sagt / im Fernsehn der Physiker, man könnte da nur / von einer Folge von Augenblicken sprechen.“[3] Die Kritikerin Dorothea von Törne schlussfolgert als „kleinsten gemeinsamen Nenner der Anthologie“ die Behandlung des Gedichts „als eine Folge von Augenblicken, in denen die reale Welt nur Bausteine für Sprachwelten liefert“[4]. Abgesehen davon, dass dies wohl insge­samt für jede fiktionale literarische Darstellung gilt, fällt in dieser und in anderen Kritiken auf, dass sie sich nicht die Mühe machen, die in den Gedichten geronnenen Wahrnehmungs- und Befindlichkeitssignale ernst zu nehmen und nach den Verhältnissen zu fragen, in die sie gebettet sind. Statt dessen erscheint die Verabschiedung von Zukunftsvorstellungen als Frage des individuellen Sprach- und Antizipationsvermögens. Genau dagegen wendet sich zu Recht eine heftige Atta­cke, die der Bevorworter der Anthologie, der Lyriker Gerhard Falkner, in der ndl 2 / 2004 ge­gen eine im Oberflächlichen verbleibende Lyrikkritik focht[5].

Symptomatisch für die generelle Situation, in der sich die jungen Lyrikerinnen und Lyriker bewegen, ist das Ende eines „Beat-Gedichts“ von Rainer Stolz:

„...

Da sah ich die Kunst: ein Turm aus Schrott.

Drumherum lungerten Warengruppen.

Ich sah wie Kontrakte sich schlossen.

Ich ging gespenstisch um in vertrauten Ketten.

Wieder trat die Utopie hart ein.

Happyendverbraucher sah ich

und ging rasch zum Bäcker.“[6]

 

Der Kurzschluss von Zitatresten ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen und Wort­neubildungen - „Happyendverbraucher“ – generiert eine Lässigkeitsattitüde, die jedoch kaum über die Beschreibung eines Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische Geste, noch jedes Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung der Wa­rengesellschaft scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. Um so schwieriger erscheint dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn: „in den dunklen boutiquen der ichbildung / finden wir kinder, gefahren und penisse vor / sag vorhang, sag dingdong, sag deutung“, entfährt es Monica Rinck beim „shopping mit melanie klein“[7], bei Björn Kuhligk ist „die Ich-Funktion ... einkaufen gegangen“[8].

Und doch fällt auf, dass die lyrischen Zukunftsabsagen, hinter denen ja weniger Sarkasmus als verhüllter Schmerz stecken, dezidiert von Lyrikern vorgebracht werden, die im Osten Deutschlands aufgewachsen sind. Während ihre weiter westlich aufgewachsenen Altersge­nossen sich seit den achtziger Jahren in die Atmosphäre scheinbarer Diskursbeliebigkeit, me­dialer Zerstreuung und Alternativlosigkeit des ökomischen Systems einüben konnten, bezeu­gen bei ihnen die im Gedicht angesprochenen kindheits- und jugendfernen Folienreste eine eigentümliche Angespanntheit (oder Spannung?) des Sprechens.

Wie diese „Folienreste“ beschaffen sind, welche Funktion sie in der lyrischen Selbstverstän­digung haben, soll im folgenden untersucht werden. Dabei geben nach Sichtung des Materials vier unterschiedliche Funktionstypologien die Stichworte für die Binnengliederung der Ana­lyse:

 

a) DDR-Erfahrung als symbolische Partikel-Streuung

 

Platz der Befreiung

 

An diesem Platz, der Befreiung

oder Freundschaft hieß und mehr

an ein Rollfeld bei Nebel erinnert,

ist ein Handy der kleinste

gemeinsame Nenner für ein Hallo.

Die Wahl deiner Nummer klingt

wie Für Elise auf einer Triola.

Und nimmst du ab und sprichst oder

atmest dann, stelle ich mir vor,

wie du dich dabei im Spiegel erkundest

 

... eine Karo anzündend. Deine Stimme

macht noch immer dieses Abrakadabra,

an Wunder wie Super‑8‑Streifen zu erinnern.

Doch jene Rückblende läuft

auf das gleiche hinaus

wie die Masche am Strumpf...

dir wird dunkel vor Augen und

Mund: Anstelle eines Seufzers,

Besetztzeichen zu vernehmen,

ist ein Quasi‑Bescheid, dein Trumpf.[9]

 

Hauke Hückstädts Gedicht „Platz der Befreiung“ ist dem Gedichtband „Neue Heiterkeit“ – eine Anspielung auf de Bruyns Roman „Neue Herrlichkeit“, auf die Schrödersche „Neue Mitte“? - entnommen, der 2001 in dem renommierten „zu Klampen Verlag“ erschien. Der Band ist in drei Abteilungen gegliedert: Die dritte Abteilung „Ende der Legislaturperiode“ sieht den lyrischen Sprecher ganz in seine mehr oder weniger banalen Gegenwartsverstri­ckungen, der zweite Part „Hopper in Düsseldorf“ bindet Kunstsituationen /-erlebnisse an kleine Epiphanien des Alltags, der ganze erste Teil mit dem Titel „Ostelbische Briefmarke“ widmet sich der Auseinandersetzung mit DDR-Erfahrung. Der Autor, geboren 1969 in Schwedt an der Oder, reiste als Fünfzehnjähriger in die Bundesrepublik aus, studierte Germa­nistik und Geschichte in Hannover und lebt heute als Autor in Göttingen. Man darf davon ausgehen, dass der Staatenwechsel in der Pubertät einen Erfahrungsbruch bedeutete, der die frühen Erlebnisse gleichsam verkapselte und damit konservierte. Dass den Kindheits- und Ju­genderfahrungen in der DDR ein hoher Stellenwert zukommt, belegt allein die Entscheidung, sie immerhin in einem Drittel des Bandes zu zentrieren.

Hückstädts Gedicht ist deshalb so aufschlussreich, weil es eine dreifache Schwierigkeit, sich als DDR-Spätgeborener – im Gegensatz zu den „Hineingeborenen“ (Uwe Kolbe) - der DDR-spezifischen Prägungen des Gewordenseins zu versichern, evident macht:

Erstens behindert die Zerstreuungskultur der Gegenwart, die ständige Konstruktion medialer Bilder, das Anfluten industriell gefertigter Zeichenströme per se den Versuch der Kontempla­tion. Hier ist es das Handy mit seinen digital vorgefertigten Simulations-Scheußlichkeiten klassisch-originärer Melodien, das lebendige Kontaktnahme zur Vergangenheit behindert. Der Gegensatz der Signalworte „Handy“ und „Super 8“-Film ist ein symbolisch konstruierter, ebenso wir das „Besetztzeichen“: Die Erinnerungszeichen erscheinen immer schon besetzt durch die immer gleichen, immer ideologisch konnotierten Archivbilder von Mauer, Stasi, Stacheldraht. Der Versuch des Freischaufelns unverwechselbarer, an das erinnernde Ich ge­bundener Bilder bestimmt den Gestus der meisten Gedichte Hückstädts. Mal gelingt es ihm halbwegs, wie in „Seepferdchen, Hotel Seestern“[10], doch in den meisten Gedichten lädt er be­kannte Signalworte mit den vorgestanzten „Besetztzeichen“ selbst auf: Symptomatisch etwa in dem Gedicht „Erinnerung an Plätze“[11], in dem Nomina von Disziplinierung und Massenagita­tion gereiht werden – „Wunschchoräle / einer Liederbewegung“, „Fahnenmas­ten“, „Scherenschnitt Potjomkins“, „Fanfaren bellten./ Nelken raschelten“ etc. - , um dann mit dem überladenen Satz zu schließen: „Wollte das erhitzte Mädchen / einmal den geschmückten Traktor sehen / oder schwenkte sie mit Wimpelfähnchen / nur den Schnee vom Ordnerman­tel“. Abgesehen davon, dass der Text als Gedicht gründlich missglückt ist, bleibt die deutliche Vermutung, hier sollten geläufige Erwartungsbilder bestätigt werden, die exotische Kindeits­bilderreste aus dem Osten westdeutsch kompatibel machen. Nicht wirkliche Spurensuche scheint den Duktus zu prägen, sondern der Wunsch nach kommunikativer Zugehörigkeit zu den neuen, westdeutsch dominierten Echoräumen.

Das fällt um so leichter, als zweitens eine gesellschaftliche Identitätsstiftung in der DDR für die „nachgeborenen“ Generationen, d.h. die in den achtziger Jahren sozialisierten, kaum mehr möglich war. Rituale, Symbole und Ideologeme waren in den achtziger Jahren bereits so weit entleert, dass es, anders als noch in den sechziger oder frühen siebziger Jahren, kaum mehr einen Gruppendruck unter Gleichaltrigen – und der ist maßgeblicher für Sozialisationskon­flikte als alle Bemühungen von Elternhaus und Schule - gegeben haben dürfte, sich ernst­haft mit ihnen auseinanderzusetzen. Angesagt war eher die kollektive Exilierung in westlich geprägte Jugendkulturen, egal, ob sich das jugendliche Begehren nun den Punkern, Poppern, New-Age-Adepten oder anderen Jugend-Moden zuwandte. Das Verlachen der ideologischen Herrschaftsfolklore hingegen musste nicht einmal die Form von organisiertem Widerstand annehmen, den es auch, aber nur selten gab und der immer noch drastisch geahndet wurde, etwa mit Verweis von der Erweiterten Oberschule. Der Normalfall war eher das maulende Sich-Schicken – gleichsam als Spaltungs-Figur: Sich-Schicken  – in die Spielformen vorgeb­lichen Einverständnisses, ob sie nun Wandzeitungsverfertigung, FDJ-Versammlung oder Protestresolution gegen Nato-Doppelbeschluss hießen. In den frühen achtziger Jahren hatte die Generationsverweigerung gegenüber staatlich verordneten Zwängen vom Fahnenappell über die vormilitärische Ausbildung bis zum Blauhemdtragen bei Staatsfeiertagen ein Aus­maß erreicht, das noch in den letzten Provinzen kulturell dominant wurde. Da die Staatsmacht zwar weiter auf die Erfüllung von Ritualleistungen bestand, aber das System offener Repres­sion im Verweigerungsfalle längst durch das System umfassender verdeckter Überwachung ersetzt hatte, war das Risiko kalkulierbar und das wirkliche Konfliktpotential im existentiellen Sinne begrenzt. Die sich abzeichnende Agoniesituation in den achtziger Jahren, verbunden mit der allgegenwärtigen diffusen Apokalypse-Stimmung angesichts der aus westlicher Sicht letztlich erfolgreichen Hochrüstung, vermochte nicht nur wenig dramatische Geschichten zu produzieren, sondern hinterließ auch wenig „einleuchtende“ (Brecht) originäre Bilder von wirklichen, nicht im Nachhinein konstruierten Konfliktsituationen – eine nicht unbeträchtli­che Hürde für spannungsreiche Poetisierung des Erfahrungsmaterials.

Und doch werden in die Gedichte der Nach- und Nachgeborenen immer wieder auratische Benennungen geschaufelt, die mit der DDR untergegangen sind. Der Gedichttitel „Platz der Befreiung“ erinnert an einen Platz, der vielleicht heute nicht mehr so heißt, er sucht aber auch einen „Platz der Befreiung“ für das sprechende Ich, sich von lastenden, konfliktträchtigen Erinnerungen zu lösen. Die aber dürften weniger mit Stasi und FDJ als vielmehr mit den ersten Liebeserlebnissen zu tun haben. Die sind dann verbunden mit „Super – 8-Streifen“ und der legendären „Karo“-Zigarette. Deshalb ist drittens die dezidierte Hineinzitierung von un­widerruflich verschwundenen Dingen, die Menschen umgeben haben, konstitutionell für viele Gedichte. Natürlich, auch im Westen ist die LP und die Beta-Video-Cassette längst zum Sammlerstück geheiligt, nur: im Osten ist eine ganze Konsumweltpalette von Produkten vi­netahaft verschwunden und feiert nur mehr in Filmen wie „Good bye Lenin“, Ost-Pro-Messen oder raffinierten Produkt-Fakes bzw. Replacements (das Waschmittel „Spee“, Spreewaldgurken oder „Rotkäpp­chen-Sekt“) marktwirtschaftliche Auferstehung. Und da sich Verschwundenheiten bestens zur sekundären Mythologisierung (nach Roland Barthes) eignen, nimmt es nicht wunder, dass sie als vorzüglich zur poetischen Aufladung dienlich erscheinen. Ihr Wirkungskreis dürfte be­grenzt sein, im schlechtesten Falle dienen sie als Codewörter, die nur den ostelbisch Ein­gewohnten verständlich sind.

Diese drei Schwierigkeiten beim poetischen Abrufen von DDR-Erfahrung in den Gedichten jüngerer Lyriker sind zugleich Anzeigen für funktionale Bestimmungen, die sich ähnlich auch in Gedichten etlicher Generationsgefährten finden. Die begabte, leider im Alter von nur 28 Jahren verstorbene Lyrikerin Beatrix Haustein nimmt in ihrem Gedicht „Einen Tag in Mor­genröte Rautenkranz der Himmel schwarz die Sonne gelb“ - wie vor ihr schon Lutz Seiler, Barbara Köhler oder Kathrin Schmidt - einen der wenigen östlichen Superstars ins Gedicht und konfrontiert ähnlich wie Barbara Köhler den Mythos Gagarin mit dem „Vaterunser“ und dem Bild des „Im-Kreis-Gehens“, Topos für die Langeweile am Gängelband im begrenzten Land:

[...]

sahen gagarin an vaterunser der du bist

im himmel das war

ein foto wir fragten

nach dem glück die sonne

im genick drehten wir

im kreis eigentlich wollten wir doch

alle kosmonauten werden

und deine augen blau wir

[...][12]

Bedeutsamer als das eher mittelmäßige Gedicht ist die Tatsache, dass die Verfasserin es für nötig hielt, dem Gedicht noch einige erläuternde Sätze hinterherzuschicken; sie vertraut of­fenbar nicht mehr darauf, dass der Leser Kontexte selbst erschließen kann:

 

Morgenröte Rautenkranz ist ein Ort im Vogtland, wo 1937 S. Jähn geboren wurde. Es existiert dort ein Kosmonautenmuseum. Als Kinder im Ferienlager Schönheide mussten wir jeden Sommer nach Morgen­röte Rautenkranz wandern, manchmal fuhren wir auch mit dem Bus.[13]

 

Maik Lippert, 1966 in Erfurt geboren, ruft in seinem Gedicht „z.b. Bananen“ die frugale Sehnsuchtskonnotierung zu DDR-Zeiten ab, muss freilich mit zeittypischen Vokabeln wie „Nylontasche“ und „verkaufsstellenleiterin“ der zeitlichen Verortung nachhelfen, was, vor­sichtig gesagt, der Poetizität des Textes nicht gerade zuträglich ist:

 

z.b. bananen

esse ich noch immer

am liebsten überreif

wie damals

fruchtkörper

mit geborstenen schalen

gestrandete boote

am boden der nylontasche

mutter noch in der schürze der verkaufsstellenleiterin

gestärkte kragenflügel

im küchenhimmel

[...][14]

 

Ein Zwischenfazit: Die symbolische Partikelstreuung von DDR-Erfahrungsresten bleibt fast immer unbefriedigend, weil symbolische Kongruenzen allgemeine Wertungs-Erwartungen immer nur bestätigen und nicht irritieren, weil sie zumeist an Gegenstände und Tatbestände gebunden sind, deren Poetizität bestenfalls aus ihrem Verschwundensein gezogen werden kann, und schließlich, weil sie mit einer begrenzten Geltungsweite inhärenter Codes rechnen muss.

 

b) DDR-Erfahrung als Spür- und Spurensuche

 

Wie aber kann der Dichter dem Dilemma medialer und konvergenter neuideologischer Überformung, das weite Teile der Lyrik und fast vollständig die neonaturalistische Prosa der Mittdreißiger bestimmt, entgehen? Poetisches Sprechen, dieser Gedanke ist seit Schiller unzählige Male variiert worden, erinnert in der Freistellung der Worte aus ihrem instrumen­tellen Gebrauch an die Freiheit kindlicher Wahrnehmung, vermag die Dinge unbefangen und in ihrer auratischen Einzelheit zu erfassen, bevor sich der abstrahierende Mehltau der begriff­lichen Einordnung über sie legt. Egal, ob dabei „Gedichte als Nervensysteme der Erinnerung“ (Joachim Sartorius) oder als Gleichnisorte inkommensurablen Überschusses ihre Sogkraft entfalten. Ein solches Sensorium zu entwickeln bedarf des Mutes, sich ins Ungesagte zu be­wegen. Dass es geht, führen etwa die Gedichte Lutz Seilers, Christian Lehnerts oder Uwe Tellkamps vor.

Zwei Drittel der Gedichte des Bandes „pech & blende“[15] von Lutz Seiler beziehen sich auf Herkunftslandschaft und frühe Erfahrungen: das Aufwachsen in einer vom Uranabbau ver­sehrten Landschaft und in einer Kultur, in der Verhaltensnormen, Umgangsformen, familiäre Gepflogenheiten hochgradig verquickt worden waren mit dem alles beherrschenden Bergbau im Dienste der Militärs. Seilers Geburtsort gibt es heute nicht mehr; das Dorf Culmitzsch bei Selingstädt fiel 1968 dem Vortrieb des Uranbergbaus zum Opfer. Ein Erfahrungsgrund mehr, sich der Herkünfte zu versichern, um das eigene, eher unheimliche Gewordensein zu begrei­fen, mit Bloch mithin „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. Die aber konnte späterhin nur noch in der Sprache gesucht werden.

Das Insistieren auf das Eigenleben des Gedichts gründet eine poetologische Verwandtschaft im Namen der sich entfernenden Kindheit: In das Gedicht „gravitation“ von Seiler ist eine vergleichbare Auffassung eingeschrieben, die auf den kreatürlichen Urgrund körperlicher Er­fahrung ebenso verweist wie auf das eigene Leben des Gedichts: „jedes gedicht geht langsam/ von oben nach unten, von unten nach oben... jedes gedicht / geht auf ameisenstrassen/ durch die schallbezirke seiner glocke. ... das ICH / liest den eisernen zähler, der/ dir in den adern hängt: jedes gedicht nagt am singenden knochen, es/ ist auf kinderhöhe abgegriffen/ und er­zählt“[16].

„der eiserne zähler“, „der singende knochen“ – was vordergründig eine interessante Bildspan­nung verspricht, hat einen schaurigen Hintergrund: das Ticken der Geigerzähler. Lutz Seiler führte in seiner Wiener Poetik-Vorlesung Januar 2001 aus, dass die Dörfer seiner Kindheit im Volksmund „müde Dörfer“ genannt wurden, ein Beobachtungsausdruck für die dauernde Müdigkeit, über die die Leute klagten: Ursache war die niedrigdosierte Strahlenbelastung, die sich auf Menschen, Getier und Flora in der Gegend um Ronneburg legte. „Abwesenheit, Mü­digkeit und Schwere waren die prägenden Zustände dieser Zeit. Wahrnehmungszustände der Kindheit, die später wie affine Medien wirken, in denen man sich der Welt am unmittelbars­ten verbunden meint.“[17] Diese Körperworte bildeten den Grundstock eines von Seiler so be­zeichneten „Wörterbuchs des diffusen Daseins“[18], der ersten Kristallisation poetologischer Vorstellungen, die dem Begehren, sich im Gedicht zu ertasten, reflexiven Halt geben konnten. Zum Textideal gehörte und gehört der Versuch, „große Bewegungen im Gedicht auf ihren grotesken Höhepunkt zu treiben, wo sie zum Stillstand kommen und augenblicklich viel Ab­wesenheit frei wird.“ Diese Stillstellung ist Teil des Konzepts, die Würde des Einzeldings aufleuchten zu lassen, und das heißt auch, „das lange verachtete Schwere, das heißt auch Langsame, Müde, Sperrige usw. als Qualitäten der Dinge und des Daseins neu zu entdecken und `Stellen schlichter Materialität auszugrenzen` (Joseph Hanimann, Vom Schweren)  aus dem Bedeutungskreislauf der Datenflüsse.“[19]  Wer bei „Würde des Einzeldings“ an vergleich­bare Überlegungen Elke Erbs in „Der Faden der Geduld“ oder an Francis Ponge, bei  „Abwe­senheit“ auch an Wolfgang Hilbig denkt, liegt richtig – die präpoetischen Entwürfe fanden späterhin Beistand durch die intensive Auseinandersetzung mit der Lyrik und Poetik vor­nehmlich von Dichtern und Dichterinnen der Hochmoderne, von Benn bis T.S. Eliot, von Dylan Thomas bis Peter Huchel.

Seiler erinnert die unter das „Erziehungsziel“ „Freundschaft zur Sowjetunion“ subsummierten „Lerninhalte“ in einem Erinnerungskontext, in dem sich einfühlende Sehnsuchtsbindung und Lehrer-Drohgebärde, neugierige Öffnung und Rückzug in das Innere zu jenem Gemisch des Nichtverbalisierbaren diffundiert, aus dem der Stoff für ein poetisches Verhalten in der Welt sich absetzen kann: „bis / sachalin stand/ ich zur wand, dass/ amurdarja & syrdarja flossen, beschrieb / bei djamila das weinen, erkläre/ wie hättest / du selber geweint“[20]. In seiner Wie­ner Poetik-Vorlesung schreibt Seiler: „Dinge, Materialien und Geräusche sind die Erinnerun­gen dieser Zeit. Nicht, was gedacht und gesagt wurde, von mir oder anderen; überhaupt: kaum Verbal-Erinnerungen, höchstens an ein paar Zeilen, Lieder, die gesungen wurden oder nach denen wir marschierten. Brecht z.B.: `Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke be­steht...` Als Kind glaubte ich, meine Deutschlehrerin selbst hätte diese Zeilen geschrieben. Wer aus meiner mit den `Teppichwebern von Kujan-Bulak` weichgeklopften Schulklasse nicht zufällig auch andere Erfahrungen machte, hat vielleicht nie wieder freiwillig Gedichte gelesen.(...) Die Dinge selbst sind nicht in ihrer vergangenen Realität von Bedeutung, sondern als Bestandteil meines Hörens oder Sehens, das sie geprägt haben. Die Dinge der Herkunft gehören zu jener unklaren Zahl von Vermittlern, Transmissionen, Passagen und Irrwegen zum Gedicht.“[21] Die Lieder der Kindheit und Jugend, auf die Seiler in etlichen Gedichten zurück­kommt, werden als sinnenkräftige Engramme erinnert, die etwas mit dem eigenen Geworden­sein zu tun haben und die nicht beliebig zurückstutzbar sind in bloß naive Peinlichkeiten von Indoktrination. Das ist eine herauszuhebende Leistung dieser Gedichte. Statt dessen bindet Seiler sie ein in auffällig konkret situierte Empfindungslagen und vermag so unaufwendige Minigrotesken zu zeichnen: „durchs gebirge, durch die steppen zog// unsre kühne division aber wir/ standen wie abgehustet/ vor jedem ehrenmal des unbekannten.“[22]; „ein winter bis/ du schwarz wirst kleiner/ erstens schnauze alle singen/ zweitens auf der mauer auf/ der lauer drittens lauter & // wir sangen wurden / lauter kleiner schwarz verschwanden“[23]; „es sang von seinem bleichen/ kopf aus styropor so leise/ lieder loreleyn es sang/ man müßte nochmal/ zwanzig seyn“[24] usw. Das groteske Moment entspringt fast immer der Konfrontation zwi­schen Kollektivgesang und Einzelstimme. Dieses Moment der Verlorenheit des einzelnen in staatlichen Kollektivdrücken thematisieren auch Gedichte von Uwe Tellkamp[25] und Christian Lehnert, die in weit ausgreifenden Langtexten ihre Armeezeit erinnern, „wo/ der zwangsläufig fol­gende gleichschritt/ mich nur immer wieder von neuem/ in der uniform meines nachbarn wie­derholt...;“[26] (Lehnert). Lehnert entwickelt „rasende formeln / der melancholie“[27] aus einem „biotop aus schlick und schrott“[28], setzt floral-animalischeVerflüssigungsbilder gegen die „Ge­stelle“ von Technik, Zurüstungserfahrungen durch staatliche Brachial-Macht und Erzie­hung. Die Anfang / Mitte der neunziger Jahre zu Papier gebrachten Erinnerungsgänge beto­nen das Qualvolle des Erinnerungsprozesses, an dessen Ende nur neue Worte für Heimatlo­sigkeit stehen:

           ... teilweise

hielt die mittlere entfernung mich, eine europäische

namensform, vergessen oder wenig beachtet, wieder‑

 

gefunden im geräusch des pfeifenden stahlspints

aus dem fenster, wiederverloren, von neuem war

 

die zusammengesetzte elblandschaft ein manöverfeld

aufblitzender laute (vorwärts deutsche jugend!),

 

starrten weite pupillen auf einen masten-

­wald wie auf brennstäbe, das schwemmland,

 

auf dem ich anwesend sei, mich verästle in allem

für niemanden, in zeitlosen plattenzeilen,

 

inmitten der zeit, lehnen sich stacheldrahtzäune

an den kopf, erklären betreten verboten,

 

so fühlte ich durch die hageldecke hindurch,

daß es friert, stummer wortschatz,

 

welche verzweifelten partikel einer heimat?[29]

 

c)      DDR-Erfahrung als Gegenstand von Generalbetrachtung

 

Einen entgegengesetzten Weg zur Bildung eines eng an die Sehweite des sprechenden Ich ge­bundenen Aufbaus von Bilder-Innenwelten schlagen junge Lyriker ein, die in Gedichten eine systemische, geschichtsphilosophisch beladene Überschau veranschlagen. Solche Kon­struktionsverfahren, für die etwa Gedichte von Volker Braun oder Heiner Müller Pate gestan­den haben mögen, haben in Zeiten postmoderner Diskursegalität nicht gerade Konjunktur, zumal die Einnahme eines überschauenden Standortes für den Sprecher immer ein Autorisie­rungsproblem birgt. Ron Winklers Generalrückschau „deutsche demokratische R.“ mag hierfür als Beispiel gelten:

 

exquisit war dein Leben hier, delikat

in der finalen Gesellschaft zur Rettung des Menschen

die Geburt bereits eine übererfüllung

zum wohle des volkes der Gattung Genosse

 

dein verheimlichtes Ich galt als Projekt

im Sinne der Zukunft und Lenins, meister von morgen

auf der überholspur wie Heimleiter Ulbricht

seit an seit mit den Klassikern ohne zeitverlust

 

die neue zeit, die weiter gesteigert werden konnte

von Planjahr zu Planjahr, volkseigen und souverän

wie die Kuba-Orange, Vitamin für den Frieden,

der Richtung Westen marschierte, im Keller feinfrost

 

in den Adern das Ringen der Lehren – coca cola,

Biermann und der schwarze kanal – bis (Jahre später)

nicht mehr zu übersehen war: diese aufgehende Sonne

wird nie eine aufgegangene Sonne sein[30]

 

Das Gedicht ist erkennbar von der Schlusspointe her gebaut, ansonsten reiht es Schlagwort an Schlagwort, Phrase an Phrase. Die Überzeichnungen wirken schon wieder unfreiwillig komisch, es geht erkennbar nicht um Auseinandersetzung oder Standortbestimmung, sondern vielleicht um Einschreibübungen in einen Gestus. Hier schlägt eine frei flottierende Wut zu Buche, die eher psychologisch erklärbar ist: Die Generation Winklers ist weitgehend um die notwendigen pubertären Ablösungskonflikte betrogen worden, die zu einer stabilen Ich-Findung in der ersten Lebenskrise auf dem Lebensweg unabdingbar sind. Winkler, Jahrgang 73 und in Jena aufgewachsen, erlebte „systemnahe“ Erwachsene in der mittleren Adoleszenz nicht als ernsthafte Konfliktgegner, sondern als in der Wendezeit zutiefst verunsicherte, dann gedemütigte Gestalten. Die narzisstische Kränkung, die aus nicht ausgetragenen Konflikten herrührt, sollte nicht unterschätzt werden. Der Pioniergruß „immer bereit“ konnte so auf den Lippen gefrieren und sich neuen, diffuseren Autoritäten anzudienen versuchen. In der Prosa von Jana Hensel[31] bis Claudia Rusch ist diese Eilfertigkeit, sich den neuen Machtdiskursen pseudonaiv und clever zugleich zu unterwerfen, bei aller Vernebelungsenergie evident, in Gedichten wie dem von Winkler in der Speisung von den ideologischen Leitdiskursen der neunziger Jahre schlaglichtartig einsichtig. Und anzubieten hat der Lyriker, wie er in einem Gedicht „dt. demokr. Relikt“ mit Referenz auf Gabi Kacholds Gedichtband „zügellos“ offeriert, letztlich nur die übliche „ich bin ich“-Folklore.

 

[...]

der visionäre Realismus aus dem Geist der Schwielen –

bis das durch Spruchband und Asche gegangene Volk

zu sich selbst kam und blieb, sanft rebellierend

 

aus der Deckung potemkinscher Sprache heraus

die gelackmeierten Zungen zügel los in die Zukunft

behauptend: ich bin das Ich, und ohne mich geht es nicht[32]

 

Ron Winkler gehört übrigens zu den begabtesten Dichtern seiner Generation, und in den letzten zwei Jahren versucht er mit hoher Sensibilität, den neuen Ideologiefallen wieder zu entkommen[33]. So  versucht er in einem Langgedicht „Höhentraining, Hundsgeschichte“[34] sei­nen frühen Prägungen auf ebenso persönlicher wie labyrinthischer Erkundungsreise in die Erinnerung auf die Spur zu kommen.

Das Gedicht „August“ von Renatus Deckert, 1977 in Dresden geboren, macht noch einmal die Schwierigkeiten anschaulich, mit Generaltopoi sinnvoll und sinnlich zu operieren:

 

August

 

Ein Mauersegler über dem Todesstreifen, ein

Aufschwung hart an der Grenze,

dort, wo Gott jetzt die Rotweinreste

in den Himmel gießt. Die Schatten der Masten dringen ein in die verbotenen

Horizonte von gestern.

Ränder,

verstrickt zu Nähten von ungeübter Hand.

Raketen und Korken,

scharf geschossen,

sind aus dem Himmel zurück.

Stimmknötchen

haben sich ausgewachsen zu Knoten

in der Zunge,

die sich nachts entwirren,

wenn die Konturen verschwimmen und alle Hunde

grau sind.

Ihr Anschlagen ein Nachhall in den Ohren

der Grenzgänger von einst.

Über die Rostspur der Stacheldrähte wächst Gras.[35]

 

Das Gedicht thematisiert die Schwierigkeit des genauen Erinnerns, wie die Schlußsequenz überdeutlich nahelegt. Die das Gedicht durchziehende Toposkette „Grenze“ (August – Todesstreifen – verbotene Horizonte – Hunde – Rostspur der Stacheldrähte) ist einem so oft strapazierten semantischen Feld zugehörig, dass die dagegengehaltenen Poetisierungen von Gegenwartsmomenten nicht hinreichen, um dem Text mehr Substanz zu verleihen. Etwas raffinierter verfährt der Berliner Lyriker Tom Schulz, der die DDR-Erinnerung ins Groteske wendet und sich leicht zu habender Didaktik enthalten kann:

[...]

Erinnerung an die 70er Jahre.

Ente Lippens. Vati und Mutti, die ihr Land

Nicht verkaufen werden, nicht jetzt.

Alle unsere träume haben wir

Mit der D-Mark bezahlt.

Im Cafe Bandscheibenvorfall

Schlagen die Hinterköpfe

Ein letztes Mal im Küchenbüffet auf.

Die Kellnerinnen mit den Altersflecken:

Entführt in den Serail.

[...]

 

Deckert, Winkler und Schulz sind Protagonisten einer lebendigen Berliner Lyrikszene, die durchaus ein waches Gespür für eine geschichtssatte Großstadtlyrik-Tradition in dieser Stadt besitzt, für die Georg Heym und Gottfried Benn, Heiner Müller und Volker Braun, Durs Grünbein und Bert Papenfuß. An ihnen will sich ihr eigener Anspruch messen lassen. Wenn sie sich im Überschau-Versuch noch dann und wann überheben, so ist doch das Bemühen unverkennbar, die Gedichte zu den Welt-Rissen und Geschichts-Katakomben hin zu öffnen.

 

 

d) DDR-Erfahrung als Leerstelle

 

Eine vierte Umgehensweise mit DDR-Erfahrung sei hier umrissen, die, für den Lyrikspezialisten von hohem Interesse, für den Soziologen und Kulturhistoriker wenig ergiebig sein dürfte:

Die seit Mitte der neunziger Jahre veröffentlichten Gedichtbände junger, vornehmlich ostdeut­scher Lyriker tragen so seltsame Titel wie „Die Rosen zitieren die Adern“[36] (Jörg Schieke), „tage in wirrschraffur“[37] (André Schinkel), „die innenwände des horns“[38] (Ralf Meyer), „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“[39] (Thomas Kunst), „Ein Stück Schnee verteidigen“[40] (Udo Grashoff). Das Abdriften von einigermaßen festen Benennungen zu geheimnisumwit­terten, phantasmagorischen Entgrenzungsmetaphern schon in der Titelgebung deutet auf pa­radigmatische Verschiebungen poetischer Aufmerksamkeit und der Traditionsbindungen. Li­terarische Orientierungsfiguren finden sie, wie aus Widmungen zu ersehen, in Autoren wie Ernst Meister, Peter Huchel, e.e.cummings oder Gerhard Falkner. Wieder einmal werden die Frühromantiker entdeckt, vornehmlich Novalis und Brentano. Das verwundert nun so sehr nicht. Denn vergleichbar den Frühromantikern sehen sich die jungen Dichter nach DDR-Tristesse und möglicherweise kurzer Wende-Euphorie in einer Situation, in der alles besser und nichts gut wird. Sie sind verheißungslos auf sich geworfen. Anders als die etwas Älteren wie Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Kurt Drawert oder Kathrin Schmidt war für sie - Ausnahme Lutz Seiler - die Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Sozialisation kein Thema mehr, denn in ihrer Kindheit und Jugendzeit bot das „langweiligste Land der Welt“ (Volker Braun 1965) ihnen offenbar wenig an sinnvollen Orientierungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, und die überall spürbaren Auflö­sungserscheinungen verhinderten wohl auch allzu rigide Erfahrungen mit der Staatsmacht, die traumatisierend hätten wirken können. Die pseudohedonistischen 80er sind lange vorüber, die Ruinen-Parties Geschichte, bei verhagelten Zukünften bieten sich Gangbarkeiten in rigiden Ästhetizismus, in die Mythologien, in ziselierte Innenweltbilder der Beziehungsfallen und narzißtischen Allmachtsphantasien an: „Dionysische Winterspiele“ benannte Wilhelm Bartsch in einem Nachwort zu André Schinkels erstem Gedichtband „durch ödland nachts“ dieses Treiben[41]. Kaum ein überindividueller Einsatz, der lohnte, keine Utopien wenigstens aus dem wittgensteinschen Geist der Sprachkritik, keine spürbare Empörung aber auch über die Erbärmlichkeit von Lebensumständen und -aussichten. Um so mehr bewahrt das Gedicht die Kostbarkeiten sprachlicher Funde, soll den leichten Taumel oder die stille Verzückung evozieren, die bisweilen von kühnen Metaphern ausgehen. Nach dem Ende der Avantgarden knüpft man eher an die Hochmoderne der Jahrhundertmitte an, für die Namen wie T.S. Eliot, Gottfried Benn, William Butler Yeats, Dylan Thomas oder Paul Celan stehen mögen. Deren Lyrik war in der DDR verlegt worden, wie es überhaupt zu den frühen Erfahrungen dieser Dichter gehört hat, daß in der sowieso wortfixierten DDR-Gesellschaft die große Dichtung dieses Jahrhunderts in den einschlägigen „Szenen“ junger, suchender Intellektueller große Aufmerksamkeit erfuhr. Nicht zuletzt die Genauigkeitsansprüche im „Handwerklichen“, egal ob von Karl Mickel oder Elke Erb weitergegeben, waren auch bei den Jüngeren noch ver­bindlichkeitsstiftend. Denn hochartifiziell kommt die Lyrik der jüngeren Dichter allemal da­her.

Geschichte wird mythologisiert und/oder als gleichsam archäologisch zu entziffernde Ge-Schichtung in das lyrische Bild genommen, wie beim Hallenser Lyriker André Schinkel:

 

wotan

 

flüsternd ist aller welt die zeit gestohlen

der klärungen sind genug an uns vorbeigesegelt

die Jahre vertrödelt

wehrlos liegen zwei abendländer

besoffen und erdwärts genagelt

trunken vor geld- und wortnot

nur noch die aggression eines

bettlers zeugt von der kraft

...damals als atlantis überbraust ward

von den göttern warf wotan seine flüche

weiter höher schneller sicherer als

heute nach der entkrampfung in der

wir menschenbündel uns ruhe gönnten

im flur und unterm rock der anstalt.[42] 

 

Der Berliner Hendrik Gericke baut kosmogonisch angedunkelte Legenden nach dem Prinzip des „auto-reverse“ - so auch der Titel seines Gedichtbandes - und erzeugt so die Endlos­schleife einer Stimme, deren Rede immer wieder knochig durch technisch-mathematische In­terventionen durchstört wird. Der Sprecher versucht diesen „zustand zwischen den zuständen“ in der Wiederkehr des Gleichen als durchaus magischen Entrückungsakt heraufzuführen, wie man ihn aus dem Schamanismus oder der kirchlichen Liturgie kennt. Der Zyklus „nocebo“ endet bezeichnend:

[...]

schwarzlicht herrschte vor,

daß der himmel unterkellert schien.

wir liefen im kreis,

blieben nicht stehen,

unserem schatten

aus dem licht zu gehen.[43]

 

Geperlte Metaphorik, Wellenbewegung von Motivübergleitungen, Synkopie erotisierender Verhaltenheit kennzeichnen die Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst. Die taktvolle Inszenierung dieser raffinierten Stücke ereignet sich als Wortlust, die Körperzeichen so zu umfließen vermag, dass das Magische taktil wird und den Leser anfasst. Viele von ihnen  ver­führen an südliche Gestade, in „lachsrosa Nächte“[44] mediterraner Hafenstädte etwa. Sprache löst sich so in verführerische Wortmusik auf.

Keine Frage, hier steht eine Tradition von Mallarmé bis Poethen Pate, die in den letzten drei­ßig Jahren eher an den Rand der oft geschmäcklerischen Aufmerksamkeit von Lyrik-Liebha­bern gewandert war. Wichtig ist „ein warmes Wort, (...) nichts weiter als eine gebogene, glückselige Form“, wie es in den „Horn-Stücken“[45] Ralf Meyers programmatisch heißt. Doch auch dort, wo reale Orte, Begebenheiten, Kindheitserinnerungen Eingang ins Gedicht finden, erscheinen sie oft in der eigentümlichen Verwaistheit symbolischer Kennung. Andreas Alt­mann zeichnet seine „wortebilden“[46] elliptisch um die Fixpunkte „worte“ und „bilder“, was zur Folge hat, dass die Konkreta von Benennungen oftmals zum Vehikel selbstreferentieller Brechung im Prisma des Schreibens selbst fungieren. Damit verlieren sie die Aura des Sin­gulären und authentisch in die Sprache Erinnerten, aus dem etwa die Lyrik Wulf Kirstens ih­ren Reiz zu ziehen versucht. Poetizität wird hingegen eher über überraschende Verban­schlüsse, Metaphernbildungen aus Abstrakta, über die schnörkellose Syntax und den schein­objektivierenden Gestus des Berichtens gezogen. „nur in/ den bildern fragen wir die augen wach bevor/ das letzte blatt den himmel offen hält.“[47] Das alles ist nicht reizlos und erinnert ein wenig an die seriellen Produktionen eines so monomanischen Dichters wie Lothar Walsdorf, aber das Verfahren ist relativ leicht einsehbar und hält dann doch nicht so sehr viele Überraschungen feil.

Kein Fazit, aber ein Eindruck nach der Lektüre der Gedichtbände: Die Erlesenheit der Ge­dichte, ihre ernste Nekro-Romantik oder die luzide Leichtigkeit, mit der Bildperlen gefädelt werden - das alles hat weniger mit „Trümmer-Expressionismus“ (Iris Radisch) zu tun als mit dem Drahtseilakt, eine Gedichtsprache mit Neuigkeitsanspruch finden zu wollen. Sie betrei­ben eine Art „Schadenzauber“[48], wie Jörg Schieke eines seiner gelungensten Gedichte überti­telte.

 

d)     Aussichten

 

Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Aufmerksamkeit des Literaturmarktes und seiner mas­senmedialen Agenten in den letzten Jahren dezidiert den dreißigjährigen Prosa-Newcomern aus Ostdeutschland zuwandte. Egal, ob zu Ostbefindlichkeit und Ostalgiewelle, zu Erfurter Schulmassaker oder zum Widerstand im DDR-System Auskünfte erwünscht werden, sie gel­ten seltsamerweise mit einmal als Experten und gern gesehene Talkshow-Gäste. Während sich eine Minderheit von Lyrikern den Marktbegehren trotzig zu entziehen versucht, haben sich viele Protagonisten mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen vertraut gemacht und sich mit den Vorgaben der Herrschaftsdiskurse arrangiert. Wiewohl dabei die Lyrik eher eine Randrolle spielt, haben vermutete Öffentlichkeitsbedürfnisse jedoch auch hier längst die Produktionsästhetiken durchweicht. Dies zeigt sich insbesondere in der weitgehenden Abwe­senheit von Sprachexperiment und Gesellschaftskritik im Gedicht, es zeigt sich in der Mei­dung strenger Formen und intertextueller Komplexität, die dem Eingängigen Widerstand bö­ten. Es ist vielleicht überzogen, von dieser Dichtergeneration als von den „Jungen Milden“ zu sprechen, die gut in die allgemeine Biedermeierisierung der Literatur sich einfügen, wie sie in Restaurationszeiten üblich ist. Lenkt man den Blick jedoch dezidiert auf die jüngere ostdeutsche Lyrik, widersprechen viele Gedichte dem allgemeinen Bild. Sicher, je jünger die Autoren sind, desto mehr sind DDR-Embleme zum Zitat geronnen, das Erinnerung bestenfalls streifen kann. Doch kann das sprachempfindliche Hereinsehen von Erinnerungssplittern aus DDR-Zeiten in das zeitgenössische Gedicht gar nicht so paradoxerweise ein Stück weit Immunisierungsarbeit leisten gegen den Uniformisierungsdruck globalkapitalistischer Industrialisierung der Sinne, Welthaltungen und Sehgewohnheiten. Und die Einübung gerade junger Dichter und Dichterinnen in eine komplexe Welt- und Geschichtserfassung im Gedicht, wie sie Heiner Müller, Karl Mickel oder Volker Braun exemplarisch vorführten, lässt noch einiges an Überraschungen gewärtigen, wenn sich ihre dichterische Spürfähigkeit und vorhandenes Handwerkskönnen mit einer deutlicheren Empörung gegen die Unzumutbarkeit der Herrschaftsverhältnisse gegenüber der menschlichen Würde verbünden werden. Was zu hoffen bleibt.

 



[1] Vgl. Sebastian Kiefer, Was dürfen wir hoffen? Eine neue Dichtergeneration drängt auf den Markt., in: Kolik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 24; Michael Braun, Wenn der Dichter im Tiefkühlfach die Biere explodieren lässt, Baseler Zeitung vom 25.7.2003; Peter Geist, Süddeutsche Zeitung vom 31. 12. 2003; Gerhard Falkner, neue deutsche literatur 2/ 2004.

[2] Tom Schulz, Ich bin eine geräuschlose Maschine, in: Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner, Köln 2003, S. 349.

[3] Volker Sielaff, Briefe, innen und außen, in: Ebenda, S. 227f.

[4] Dorothea von Törne, Wie man Leser killt. Der verpasste große Wurf – die chaotische Lyrikanthologie „Lyrik von Jetzt“, in: neue deutsche literatur 1 / 04, S. 179.

[5] Gerhard Falkner, Baumfällen. Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik  am Beispiel Michael Brauns und des Bandes „Lyrik von Jetzt“, in: neue deutsche literatur 2 / 2004, S. 121ff.

[6] Rainer Stolz, Beat-Gedicht, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 59.

[7] Monica Rinck, shopping mit melanie klein, in: Ebenda, S. 22.

[8] Björn Kuhligk, Der Stoff, aus dem die Welt, in: Ebenda, S. 157.

[9] Hauke Hückstädt, Platz der Befreiung, in: Hückstädt, Neue Herrlichkeit, Lüneburg 2001, S. 8.

[10] Hauke Hückstädt, Seepferdchen, Hotel Seestern, in: Ebenda, S. 14.

[11] Hauke Hückstädt, Erinnerung an Plätze, in: Ebenda, S. 8.

[12] Beatrix Haustein, Einen Tag in Morgenröte Rautenkranz der Kimmel schwarz die Sonne gelb, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 276f.

[13] Ebenda.

[14] Maik Lippert, z.b. bananen, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 34.

[15] Lutz Seiler, pech & blende, Frankfurt a.M. 2000.

[16] Lutz Seiler, gravitation, in: Seiler, pech & blende, a.a.O., S. 80.

[17] Lutz Seiler, Heimaten, Göttingen 2001, S. 10.

[18] Ebenda, S. 12.

[19] Lutz Seiler, Wiener Poetik-Vorlesung, Manuskript.

[20] Lutz Seiler, neunundsechzig, altes jahrhundert, in: Seiler, pech & brende, a.a.O., S. 85.

[21] Lutz Seiler, Wiener Poetik-Vorlesung, Manuskript.

[22] Lutz Seiler, durchs gebirge, durch die steppe zog, in: Seiler, pech & blende, a.a.O., S. 47.

[23] Lutz Seiler, wanzen, in: Ebenda, S. 44.

[24] Lutz Seiler, müde bin ich, in: Ebenda, S. 66.

[25] Vgl. Uwe Tellkamp, (der tauchergott: utopia), in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 230ff.

[26] Christian Lehnert, objekt h, in: Lehnert, Der gefesselte Sänger, Frankfurt a.M. 1997, S. 29

[27] Christian Lehnert, ohne ausgang, in: Ebenda, S. 27.

[28] Christian Lehnert, spaziergang in übigau, in: Ebenda, S. 21.

[29] Christian Lehnert, bei nahendem Gewitter, in: Ebenda, S. 32f.

[30] Ron Winkler, Deutsche Demokratische R., Manuskript.

[31] Vgl. Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek 2002; Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, Berlin 2003

[32] Ron Winkler, dt. demokr. Relikt, Manuskript.

[33] Siehe etwa: Ron Winkler, Vereinzelt Passanten. Gedichte, Berlin 2004.

[34] Ron Winkler, Höhentraining, Hundsgeschichte, Manuskript

[35] Renatus Deckert, August, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 211.

[36] Jörg Schieke, Die Rosen zitieren die Adern, Berlin 1995.

[37] André Schinkel, tage in wirrschraffur, Halle-Zürich 1996.

[38] Ralf Meyer, die innenwände des horns, Halle-Saale 1996.

[39] Thomas Kunst, Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Berlin 1998.

[40] Udo Grashoff, Ein Stück Schnee verteidigen, Halle an der Saale 2001.

[41] Wilhelm Bartsch, Nachwort, in: André Schinkel, durch ödland nachts, Halle-Zürich 1994.

[42] André Schinkel, wotan, in: Schinkel, durch ödland nachts, a.a.O., S. 62.

[43] Henryk Gericke, nocebo, in: Gericke, autoreverse, Berlin 1996.

[44] Thomas Kunst, Ein von der Stadt verlassenes Meer, in: Kunst, Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Berlin 1998.

[45] Ralf Meyer, Horn-Stücke, in: Meyer, die innenwände des horns, Halle 1996, S. 33.

[46] Andreas Altmann, wortebilden, Berlin 1997.

[47] Andreas Altmann, tiere im novemberpark, in: Ebenda, S. 86.

[48] Jörg Schieke, Schadenzauber, in: Schieke, Die Rosen zitieren die Adern, Berlin 1995, S. 9.