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Peter Geist

Das Innere des Aktenschrankes

Die Anthologie „Lyrik von Jetzt zwei“ kann nicht an den Erfolg ihrer Vorgängerin anknüpfen.

(erschienen in: Freitag 15 / 2009)

Als 2003 die Anthologie „Lyrik von Jetzt“ erschien, war die Kritik am Präsentationsprinzip unüberhörbar, nämlich allen Lyrikerinnen und Lyrikern ein gleich großes „Fenster“ von genau vier Gedichten einzuräumen. Als Hauptargument war zu vernehmen, die Herausgeber scheuten vor wertender Differenzierung zurück und ebneten künstlich Rangunterschiede ein. Nach dem durchschlagenden Erfolg der Sammlung veränderte sich die Wahrnehmung der Anthologie als Gesamtkomposition. Nun wurde einsichtiger, was von Anfang an beabsichtigt war: In den „74 Stimmen“ einen lyrischen Generationsauftritt zu organisieren. Was Wunder, dass nun die Nachfolgeanthologie am Grundmuster festhält. Heraufgesetzt wurde die Altersscheide der Geburtsdaten von 1965 auf 1975, reduziert die Teilnehmerschar von 74 auf 50. Ansonsten betont bereits die Umschlaggestaltung den inneren Zusammenhang beider Anthologien.

„Lyrik von Jetzt zwei“ zeigt allerdings, wie sich in einem geradezu atemverschlagenden Tempo ein zentraler, nicht aber beherrschender Duktus in der jungen deutschen Lyrik zum mainstream verbreitert hat. Das ist erhellend und macht ob vereinheitlichender Tendenzen auch erschrocken. Wer nach sprachraffinierter „stimmschur“ (Thomas Kling) in der Nachfolge eines Prießnitz oder einer Mayröcker fahndet, sucht lange ebenso vergebens wie etwa nach expressiver Bildlichkeit oder prosodischer Ausgefallenheit – erst schlusshin gibt es mit Ann Cotten und Carl-Christian Elze ein kleines Aufatmen. Stattdessen dominieren lyrismendurchsetzte Nahumgebungsnotate, Naturaufnahmen und Kindheitsengramme, oft verhalten verrückt ins Mythenhafte oder Surreale. Inflationär sind  Billigmünzen der Verskunst – etwa Kleinschreibung, Enjambment und Alliteration („geiles gras grapschen“ etc.) - in Umlauf gebracht worden, während komplexere Bauformen der Poesie geradezu gemieden werden. Hier zeigt sich die Kehrseite der netzwerkgestützten Kommunikationsschnelligkeit innerhalb der jungen Lyrikszene: sie produziert in ihrer Verlinkungskultur Rückkopplungsphänomene, die zum Gruppensound tendieren.  Der tönt, wie im Gedicht „archiv“ von Nadja Küchenmeister, dann so: „(...) und einmal hielt ich selbst den apparat am waldrand / wo der vater stand, er hielt den kinderwagen, sah mich an. / das alles gleitet wieder durch die hände, wie der waggon der / eisenbahn, darin wir schliefen tief und fest, doch ich bin traurig / von den vielen bildern, weil das archiv sich niemals öffnen lässt.“ Einmal abgesehen von der schlichten Diktion dieser Verse, so binden sie doch Signalements, die sich im Dutzend auch bei anderen Beiträgern finden: Dass in vielen Gedichten Gerätschaften des Bilder- und Filmemachens eine Rolle spielen, kann wenig überraschen, leben wir doch in einer bilddominanten Kultur. Dass aber die technische Aufrüstung um so weniger Gewähr für verlässliche Archivierung bietet, weil Realität, Simulation, Täuschung und Fiktion immer weniger klar zu trennen sind und Seinsgewissheiten tendentiell verunmöglichen, ist - Stichpunkt „apparat“ / „archiv“ - prägende Erfahrung geworden. So wird unentwegt ferngesehen, fotografiert und gefilmt in den Gedichten, aber zumeist verbunden mit Bewegungen wie entgleiten, flüchten, abbrechen. „das alles gleitet durch die hände“ (Küchenmeister), „gefühlte freiheit / in der nahaufnahme: dann / streikt die robocam. /.../ das wegschwemmen / der vernunft unterm kolonialen blick / des nachrichtensprechers“ (Tom Bresemann). So sieht sich denn das sprechende Ich „traurig von den vielen bildern“ (Küchenmeister) oder bei Benjamin Maack „erst beim Abspann weinen“. Bei soviel schlimme Gefühle produzierender Sekundärwahrnehmung erweist sich das „Ich“ als fragile Konstruktion, flüchtig, unscharf, bedroht. „ich verrate: ich bin ein gespinst, man kann mir jederzeit / noch eine silbe wegnehmen und eine bestimmte anhängen / wie schuld“, beginnt ein Gedicht von Katharina Schultens, das nicht minder originell ausklingt: „ ich wispere ach / wissen Sie – eigentlich bin ich das innere / des aktenschrankes, wenn er schließt.“ Ich war ein wenig erstaunt darob, wie oft „Herz“-Verbindungen gestiftet werden: „ein herz so groß wie ein postauto“ heißt es da, oder auch: „Sprunghaft wie ich bin, / weiß mein Herz morgens nie, in welcher Brust es abends / zur Ruhe kommt“. Doch Findungen wie „dein ungefähres herz“, „minotaurenherz“ oder auch knapp „restherz“ binden sich ein in die Figurationen diffuser, beschädigter, eingeengter Gefühlslagen: „lieben ist leider unmöglich geworden, heißt es in / schlaueren büchern über postmoderne“ (Marius Hulpe). Auch die Natur als romantischer Trostort bietet keine Gewähr, wiewohl sie als Zeichenreservoir reichlich zuhanden ist. Aber, „der frühling ist ein videoclip“ (Tom Bresemann), aber, „ich dachte, Natur, / wie komme ich wieder raus“ (Stephan Turowski). Erschwerend kommt hinzu, dass die nähere soziale Umgebung, falls sie denn überhaupt einmal in den Fokus der lyrischen Aufmerksamkeit gerät, durch „die zwei-/kämpfe zwanzigjähriger nervenkrisenübungs-/veteranen“ (Stephan Schmitzer) grundiert wird. Gewiß, indirekt spiegeln viele Gedichte die Verheerungen wider, mit der uns die schöne neue Welt im Geiste des Neoliberalismus beschenkt hat, und die jetzt Dreißigjährigen betrifft das mit brutaler Wucht.

Fatal nur, dass die lyrischen Updates extremer Entfremdungs- und Kolonialisierungsverhältnisse zur inneren und äußeren Natur bereits vor fünf Jahren originell und verstörend etwa von Marion Poschmann, Monika Rinck oder Ron Winkler in den Vers gebracht wurden. Den Schalheitsgeschmack, den Top-Autoren von „Lyrik von Jetzt“ irgendwie nachschreiben zu wollen, können die neuen Gedichte neuer Autoren zu wenig entkräften. Ihre kurzatmigen Adaptionsversuche tragen eher dazu bei, den Gesamteindruck bei der Lektüre dieser Anthologie zu bestärken, dass nicht kraftvolle Selbstauftritte, sondern zögerndes Tasten und Stochern im Nebel des Ungefähren den Grundgestus des Bandes bestimmt. Die dabei zu beobachtenden Lockerungen lyrikgeschichtlicher Bezugnahmen befördern zusätzlich die weitgehende Fixierung auf ein „Jetzt“, die Existenzdimensionen ja immer auch abschneidet. So wenig Empörung, so wenig Vision war nie – das sagt ebensoviel über die Autoren aus wie über gesellschaftliche Verfasstheiten.

2003 gab es einen Überdruck, der daher rührte, dass eine junge, quicklebendige Lyrikszene auf den  herkömmlichen Literaturpodien nicht präsent war. „Lyrik von Jetzt“ zeitigte deshalb nicht zufällig eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte. Die Gemengelage hat sich seither grundlegend verändert. Qualitativ einschneidende Eruptionen der Lyriklandschaft sind aber gewiß nicht alle fünf Jahre zu erwarten, welche strukturelle Kopieunternehmen dann wirklich rechtfertigen könnten. Nach den „Maßgaben der Kunst“ (Peter Hacks) ist  demnach kaum wiederholbar, was den Herausgebern damals gelang. Sie hätten nach Analyse der neuen Situation und der eingegangenen Texte besser daran getan, die Zahl der Beiträger um die Hälfte zu reduzieren und aufschlussreicher jeden Autor mit sieben oder acht Gedichten vorzustellen. Ron Winkler entschied sich in seiner Parallelanthologie unter dem gewöhnungsbedürftigen Titel „Neubuch. Neue junge Lyrik“ genau dafür. 16 seiner 25 Autorinnen und Autoren sind in beiden Sammlungen vertreten, sie lassen sich also durchaus vergleichen. Bei Winkler erweist es sich als Vorteil, genauer Bekanntschaft schließen zu können mit den neuen Stimmen, und die Reduktion der Beiträgerzahl wirkt ähnlich wie die von Balsamico: der Geschmack wird intensiver.

Und doch gibt es selbstredend auch in „Lyrik von Jetzt zwei“ Gedichte, die den konstatiertenTrends  widersprechen. Mara Genschel etwa entwickelt in ihren Gedichten faszinierende Verfahren, aus der Reibung von Euphonie und Rhythmus mit semantischen Ausfaltungen poetische Funken zu schlagen. Mal greift sie beherzt in die Wortkörper selbst, um die Sprache blank zu reiben, mal fungiert die Verszeile als Durchlauferhitzer in die Expression. Carl-Christian Elzes „fötotomische ballade“ entfaltet Brachialszenerien in Bennscher Tradition, die durch vorwärtspeitschenden Rhythmus, Reim und genaue Bilder ihren drive bekommen. Genauigkeit und Sprachwitz wären auch Stichworte für die Texte Ann Cottens. Ulrike Almut Sandigs rätselhafte Gebilde beeindrucken durch das Changieren zwischen minutiöser Realitätseinholung und Imagination. Und manchmal sind es nur einige Verse, die beglücken, weil sie unter die Haut gehen. So Herbert Hindringer: „als ich das dritte mal hinfiel, blieb ich liegen / es war ein so schöner tag / für die, die mich betraten / manche stellten ihre uhr auf mir eine stunde zurück (...)“. Hier ist endlich auch mal ein Enjambment sinnreich gesetzt worden. Oder Benjamin Maack: „(...) Es ist spät geworden. / Die Sonne fängt schon an, / die Schatten der Hochhäuser / ins All zu schießen.“ Oder Christophe Fricker: „(..) und sag mir, ob der schlanke Vogel / ohne Federn, ohne Augen// nicht ein Stein ist, / der seit Tagen fliegt.“

Doch diese schönen Ausnahmen entschädigen nur teilweise für die Mühsal, die Halbwüsten mittelmäßiger Kargflora queren zu müssen. Da der Lyrik gesamtgesellschaftliche Krisen wie die jetzige, in der Sinngebäude massenhaft einzustürzen pflegen, gemeinhin gut bekommen, wird man in wenigen Jahren erneut genauer sehen können, inwiefern Poesie der Jungen als Seismograph und Widerstand gegen Unzumutbarkeiten etwas taugt. Den Herausgebern Björn Kuhligk und Jan Wagner ist nach ihrer Schimäre „Lyrik von Jetzt zwei“ zu wünschen, dass sie dann erneut einen großen Wurf wagen.

 

„Lyrik von Jetzt zwei. 50 Stimmen“, herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner, Berlin Verlag 2008

„Neubuch. Neue junge Lyrik“, herausgegeben von Ron Winkler, yedermann Verlag 2008