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Peter Geist

 

Wenn die Tiefenschärfe fehlt, verschwimmen die Hintergründe

 

Zu Werner Mittenzwei: „Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000“, Verlag Faber & Faber Leipzig, 2001

 

Der „geschlossene Handelsstaat“ (Johann Gottlieb Fichte) DDR war ein überschaubares Gebilde, das unbemerkt zu verlassen nach 1961 ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber auch in ihr zu verschwinden dürfte einem Kunststück geglichen haben. Daß dies 1983 für Wochen ausgerechnet einem gelang, der für seine amusischen Qualitäten berüchtigt war, hielt die Buschfunk-Informierten in Atem. Schließlich fand man ihn nach Wochen währender Suchaktion erhängt im Thüringer Wald. Es handelte sich um Professor Hans Koch, den omnipräsenten und scheinbar allgewaltigen Direktor des ZK-Institutes für Kultur- und Kunstwissenschaften, der alljährlich seine Zensuren für DDR-Schriftsteller über die „gebildete Nation“ verteilte, wobei die wichtigen Autorinnen und Autoren in der Regel nicht besonders gut wegkamen. Wochen zuvor hatte er noch in seiner Festrede zum 30. Gründungsjubiläum der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ mit wenig Erfolg die Elite der Literaturwissenschaftler auf Linie zu bringen versucht.  „Im Hochwald hängt Herr Koch / In unästhetischem Zustand“, dichtete Volker Braun, und traf in seinem fulminanten Gedicht „Die dunklen Orte“ die Stimmung im Land: Der Selbstmord Hans Kochs offenbarte auf makabere Weise das ganze Ausmaß der Hilf- und Ratlosigkeit der Ideologiewächter in den achtziger Jahren, die keine kulturpolitische Strategie mehr erkennen ließen und höchstens noch die alten Stereotype reflexhaft wiederholen konnten. Noch 1982 hatten sie auf einer „Kulturkonferenz der FDJ“ durch den Mund des Musterkarrieristen Hartmut König ein letztes Mal versucht, „abweichenden“ Autoren wie Heiner Müller, Franz Fühmann, Volker Braun, Uwe Kolbe die Instrumente zu zeigen. Aber sie hatten schon keine Kraft mehr, dem darob anschwellenden Empörungsgrummeln unter Autoren, Verlagsleuten, selbst Universitätsprofessoren noch etwas entgegenzusetzen. Und als das ZK in Person ihrer Wissenschaftsbeauftragten Hannelore Virus 1986 zum Halali auf Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“ unter den Gesellschaftswissenschaftlern zu blasen anhub, schlug ihr auch schon mal verächtliches Gelächter entgegen, ehe die immer dienstbare Anneliese Löffler sich mit einer versuchten Abstrafung im „Neuen Deutschland“ lächerlich machte. In dieser Gemengelage waren einzelne Persönlichkei­ten auch für uns noch relativ unbedarfte Nachwuchswissenschaft­ler kenntlich geworden, konnten sie sich doch immer weniger hinter „der Sache“ oder Parteizwängen verstecken. Und einigermaßen überschaubar war die Gilde der Literaturwissenschaftler und Kritiker, die an Universitäten und Instituten, seltener in Redaktionen am Wirken war, in Leipzig, Jena, Halle, Rostock, Dresden und in Berlin allemal. Man lernte sie schnell zu unterscheiden, die Garde der mehr oder minder überforderten Erfüllungsgehilfen aus Gläubigkeit und / oder Kalkül von denjenigen Wissenschaftlern, die nicht nur ein intellektuelles Profil aufweisen konnten, sondern auch bereit waren, für „ihre“ Autoren etwas zu riskieren. Mittenzwei gehörte da eher zu den Großkoryphäen der DDR-Literaturwissenschaft, die in verantwortlichen Positionen strategisch agierten und sich im „Tagespolitischen“ eher bedeckt hielten. Er hatte sich insbesondere mit seinen Arbeiten zu Brecht und Lukács seit den sechziger Jahren als ein Wissenschaftler ausgewiesen, der Paradigmenverschiebungen in der literaturwissenschaftlichen Diskussion mitinitiieren konnte – sein Begriff der „ästhetischen Emanzipation“ der DDR-Literatur seit den sechziger Jahren wurde zu einem Standardtopos, um die Veränderungen in der DDR-Literaturlandschaft in dieser Zeit auf den Begriff zu bringen. Allerdings teilte er auch das tiefgehende Unverständnis vieler Literaturwissenschaftler seiner Generation gegenüber avantgardistischen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts wie dem Surrealismus oder dem Absurden Theater – ein Unverständnis, das leider auch im vorliegenden Band (vgl. S. 521f.) in aller Deutlichkeit durchschlägt. Er leitete eine Arbeitsgruppe für Exilliteratur an der Akademie der Wissenschaften, deren Ergebnisse seit 1978 in mehreren Bänden im Leipziger Reclam-Verlag erschienen. 1986 legte er eine zweibändige Brecht-Biographie vor, die die schwierigen Auseinandersetzungen Brechts mit der Kulturbürokratie keineswegs aussparte. Sein nächstes Projekt, „Der Untergang der Akademie“ wandte sich den nationalkonservativen Schriftstellern in der Preußischen Akademie der Künste zu, ein Unterfangen, das  wertvolle Forschungsaufschlüsse u.a. über Details der Säuberungen 1933 und das Verhalten der Akademiemitglieder erlaubte. An diese kultur- und institutionengeschichtliche Arbeit konnte Mittenzwei in gewisser Weise anknüpfen, als er es unternahm, die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Politik, Literaten und Politikern in Ostdeutschland von 1945 bis zum Jahr 2000 zu untersuchen. Seitdem die Studie unter dem Obertitel „Die Intellektuellen“ im Herbst 2001 bei „Faber & Faber“ erschien, drängelten sich bei Lesungen insbesondere in den „neuen“ Bundesländern Hunderte, um mit dem Autor zu diskutieren. Der Grund ist schnell erfasst: Stand doch zu erwarten, daß sich Mittenzwei als ein in die DDR-Geschichte involvierter Literaturhistoriker bei der Rekonstruktion von Beziehungen zwischen Personen, Gruppen, Institutionen jene Sorgfältigkeitspflicht auferlegt, die eine notwendige Differenziertheit in Darstellung und Wertung ermöglicht, die in den DDR-Nachvernichtungen vorzüglich von Totalitarismusspezialisten unter die Räder kam. Und weil seither ostdeutsche Stimmen, die nicht in die Deutungshoheiten passen, freundlich gesagt marginalisiert worden sind, gibt es für viele Menschen kaum noch Medien, in denen dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung des Herkommens abseits von einerseits Totalverdammung, andererseits folkloristischer Ostalgie bzw. des verdrängungsbeladenen Aufpolierens „schöner“ Erinnerungen ein Ort der Verständigung gegeben werden könnte. Um es gleich zu sagen: Diese Anmutung der Sorgfalt erfüllt Mittenzweis Buch ebensowenig wie den Anspruch, den es erhebt. Leider.

Der Verfasser entschied sich für ein Verfahren, das – in gewollter Abweisung einer isolierten Konstruktion von Geistesgeschichte – die hochgradige Verflochtenheit der Literatur in die machtpolitischen, institutionellen und ökonomischen Konstellationen betont. Aufgeführt wird eine Tragödie, die zwischenzeitlich über die Tragikomödie zur Komödie und schlußhin wieder zur Tragödie - oder zur Groteske?  -  sich wenden konnte.   Die Tragödie der Haßliebe deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller zur politischen Führung in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR. Diesem Beziehungsdrama spürt er im Agieren von Personen, Zirkeln, Zeitschriften- und Verlagsredaktionen, ja Versammlungen nach und stellt es in den Kontext von Veränderungen auf der politischen Königsebene und von gesellschaftlichen Mentalitätsverschiebungen. Deshalb referiert Mittenzwei allzu gerne mit Seitenblick auf den offensichtlich beneideten Eric Hobsbawm die politische Geschichte per se, die ja unter anderem Gelegenheit bietet, die eigene Sicht der Dinge mit Sottisen zu würzen, etwa gegen Scharlatan Günter Krause, der in den Verhandlungen der Bundesrepublik mit sich selbst zum Einigungsvertrag den Clown gab. Diese Vorliebe für die Königsebene ist für den Historiker opportun, für den Literaturhistoriker problematisch, und sie wird es um so mehr, je weniger die Königsebene an Glanz abstrahlt. Deshalb wirken dutzende von Seiten, die Mittenzwei etwa der Einschätzung Gorbatschows widmet, der Eitelkeit geschuldet, als Insider der Zeitgeschichte ein Mitspracherecht über ihre Interpretation zu erschreiben. Mitnichten eine vergleichbare Aufmerksamkeit aber erfahren die Texte, die das Nachdenken seiner eigentlichen Protagonisten beglaubigen: Gedichte, Essays, Romanauszüge, Stücksequenzen spielen kaum eine Rolle. Eine verkehrte Welt: Weiß ich doch genau, welche Strahlkraft Gedichte von Volker Braun, Adolf Endler, Wolfgang Hilbig, Sarah Kirsch, Uwe Kolbe, Karl Mickel, Bert Papenfuß entfalteten, welche Aufregung mit Essays von Franz Fühmann, Peter Hacks, Christoph Hein, Günter Kunert, Christa Wolf in den siebziger / achtziger Jahren verbunden war. Mittenzwei vermeidet es konsequent, sich auf die hochinteressanten Angebote der Autoren zum Diskurs überhaupt einzulassen; wo er es nicht vermeiden kann, sind seine Einschätzungen oft floskelhaft oder hilflos. 

Die Stärke des Buches liegt zweifellos in der Ausleuchtung von Feldern des Agierens und Reagierens und der Beschreibung der in ihnen verfangenen Akteure. Hier kann man Mittenzwei dankbar sein: Wie er die kulturpolitischen Debatten, Weichenstellungen und Entscheidungsfindungen in den fünfziger, sechziger Jahren darbietet, liest sich über lange Passagen ausgesprochen spannend, zumal er es vermag, das Ineinander von Handlungszwängen und persönlichen Spielräumen plastisch nachzuvollziehen. Historische Marksteine der DDR-Kulturgeschichte wie Formalismus-Streit, Harich-Janka-Prozess, 1. Bitterfelder Konferenz, 11. Plenum oder Biermann-Ausbürgerung, werden in ihrem Verlauf und in ihren Konsequenzen einsichtig gemacht. Mittenzwei entwirft konzise Kurzporträts von Protagonisten dieser Kämpfe, etwa von Johannes R. Becher, Wolfgang Harich, Stephan Hermlin, Robert Havemann, die die Komplexität und Widersprüchlichkeiten dieser Persönlichkeiten zu erfassen vermögen. Bemerkenswert differenziert sind auch die Skizzen der Politiker, von Alfred Kurella, Alexander Abusch, Kurt Hager, Walter Ulbricht oder Erich Honecker. Daß der stalinistische Widergänger des kalten Kriegers Konrad Adenauer, Walter Ulbricht, in den sechziger Jahren auf ökonomischem Gebiet zu respektablen Reformansätzen (Stichwort: Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung, kurz NÖSPL) befähigt war, bevor er von der Honecker-Riege ausgebootet wurde, ist zwar insbesondere durch die Forschungen Monika Kaisers („Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962-72“. Berlin 1998) detailliert belegt worden, in der vorherrschenden Geschichtsschreibung wird dies aber zumeist wohlweislich für akzidentiell gehalten.

Mittenzwei liefert mit seinem Buch die Saga für den historischen Versuch, beim Aufbau einer alternativen Gesellschaft zu der des Kapitalismus ein anderes Verhältnis zwischen literarischer Intelligenz und politisch Herrschenden ins Werk zu setzen. Der Autor konzentriert sich deshalb auf jene Intellektuelle, die sozialistischen Idealen im weitesten Sinne verbunden waren. In den ersten Jahren nach dem Krieg waren dies vor allem aus dem Exil heimgekehrte Autorinnen und Autoren, die anders als im Westen im Osten Deutschlands zunächst mit offenen Armen empfangen wurden. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und des in der Menschheitsgeschichte bis dato einmaligen industriellen Mordens trug der gemeinsame Wille, etwas anderes als die Profitmaschinen anzuwerfen, noch lange durch alle Ent-Täuschungen auf beiden Seiten. Für die östliche Siegermacht war die Sowjetische Besatzungszone und später die DDR vor allem ein  Faustpfand im Kalten Krieg. Im Teil-Land selbst hatte die Aufgabe, etwas grundlegend Neues als Gesellschafts-Kunstwerk zu schaffen, für die daran verantwortlich Beteiligten etwas ungemein Faszinierendes, zumal es auf einer humanistischen Grundlage entstehen sollte. So schien Johannes R. Bechers Vision 1947 von der "Großmachtstellung der Literatur" in der künftigen Gesellschaft sowohl materiell  - von der Sonderversorgung von Künstlern bis zur großzügigen Theaterförderung – als auch ideell in einer klassikorientierten Kulturdidaktik, marxistisch begründeter Zukunftserwartung einer emanzipierten Gesellschaft aus emanzipierten Individuen und in der Formel der „Einheit von Geist und Macht“ ihren Rückhalt zu haben. Rückblickend läßt sich vor diesem Erwartungshorizont diese Geschichte selbstredend als Kette von Mißverständnissen, Desillusionierungen und als abnehmende Sinuskurve der Erwartungen schreiben – nur sollte auch mitbedacht werden, daß der emanzipatorische Anspruch des Marxismus noch bis in die siebziger Jahre hinein eine starke Kompensationskraft gegen alle gegenlaufende Erfahrungswirklichkeit entfalten konnte, abgesehen davon, daß es in der DDR-Gesellschaft realiter Ansätze eines anderen Miteinander-Umgehens von Menschengruppen gegeben hat. Der Soziologe Wolfgang Engler hat den sich herausbildenden Gesellschaftstyp als „arbeiterliche Gesellschaft“ beschrieben, in der der Arbeiter von der politischen Macht ausgeschlossen war, aber das soziale Zepter in der Hand hielt: „ Er musste nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden, um etwas zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens. Er war ökonomisch unabhängig, existentiell von vornherein gesichert und wusste vom Kampf um soziale Anerkennung nur vom Hörensagen.“ (Die Ostdeutschen. Berlin 1999. S. 205). Von Brecht über Bloch und Eisler bis zu Rudolf Bahro und Volker Braun wurde hier noch das protosozialistische „Larvenstadium“ (Bahro /Braun) erblickt, dessen Entwicklungsoffenheit es wert war, verteidigt zu werden. „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, resümierte Volker Braun 1990, als alles gelaufen war, in seinem berühmten Gedicht „Das Eigentum“. Doch während diese DDR-Intellektuellen den Emanzipations-Anspruch des Marxismus als Widerspruchs-Kraft begriffen, hatte sich die Mehrheit der gut bezahlten Funktionseliten längst auf einen Diskurs der persönlichen Machtsicherung in den Institutionen verständigt, der eine Diskussion über neuralgische Grundfragen gar nicht mehr zuließ: Die Mythen von der „führenden Kraft der Arbeiterklasse“ und vom „Volkseigentum“ etwa wurden seit den sechziger Jahren nicht mehr befragt, nachdem die von Ernst Fischer und Roger Garaudy initiierte Diskussion über „Entfremdung“ im Sozialismus unmißverständlich abgewürgt worden war. Der vorgebliche Pragmatismus hatte dann mehr mit beschämender Feigheit, wie sie noch im endachtziger Gemurmel von der „biologischen Lösung“ aufschien, zu tun als mit der Verpflichtung zu selbstständigem Denken. Die wichtige Frage, warum die Mehrheit der DDR-Philosophen, Geschichtswissenschaftler, Germanisten etc. nicht „historisch-materialistisch-dialektisch“ die offenkundigen Diskrepanzen zwischen der von ihnen verkündeten Theorie und alltäglichen Wahrnehmungen zum Thema gemacht hat und zumeist stillschweigend noch die gröbsten Beleidigungen des Denk- und Wahrnehmungsvermögens verdrängte, bleibt auch nach der Lektüre Mittenzweis weitgehend offen. Auch wenn man konzedieren muß, dass sich Mittenzwei bemüht, getrieben von der untergründigen Frage, ob der Untergang dieser Art von Gemeinwesen von vornherein zwangsläufig war, die widerstreitenden Faktoren, die Hoffnungen wie die Fallen, im Blick zu behalten.

Die Geschichte der „Hoffnungsfallen“ beginnt denn auch mit einem Paukenschlag - im Kurzdurchlauf: Der Formalismusstreit, wiewohl vordergründig auf die Bildende Kunst und die Musik konzentriert, bewirkte in seiner Rabiatheit einen nachhaltigen Ernüchterungsschock. Die bereits damals absurden Argumentationsmuster mussten jeden verstören, der halbwegs mit der europäischen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts vertraut war. Mittenzwei hat akribisch die Transportwege dieses sowjetischen Exportartikels recherchiert und wartet mit überraschenden Erkenntnissen auf: Jener berüchtigte Kunstkritiker Orlow, der in der „Täglichen Rundschau“ mit einer Reihe von Artikeln über „Wege und Irrwege in der modernen Kunst“ den Transmissionar gab und über dessen Identität viel spekuliert worden war, war niemand anderes als der Prokonsul Stalins in der DDR, Wladimir S. Semjonow, übrigens später Botschafter der Sowjetunion in Bonn. Und es ging in der Tat nicht um ästhetische Positionen. Die Formalismus-Diskussion offenbarte vielmehr den strukturellen Grundkonflikt, der alle weiteren Auseinandersetzungen bis zum Verlust des Machtmonopols der SED im Spätherbst 1989 im Kern bestimmte: Das Werben um die Gunst der Intellektuellen war stets noch mit dem tiefen Misstrauen der Führungsschicht verbunden, diese könnten ihr Macht- und Ideologiemonopol in Frage stellen und breitere Gesellschaftsschichten „unterwandern“. Diese Angst als Kehrseite der Machtarroganz ist bereits bei Lenin – es sei an seinen Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ oder an seinen Briefwechsel mit Maxim Gorki erinnert – voll ausgeprägt und durchzieht die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Während in der Formalismus-Debatte gleichsam nur die Instrumente vorgezeigt wurden, statuierte man im Harich-Janka-Prozeß schon das Exempel, das lange nachwirken sollte. Wenn man allerdings mitbedenkt, daß für vergleichsweise geringere „Staatsvergehen“ als die Harichschen Umsturzpläne in den fünfziger Jahren gegen nicht durch ihre Prominenz geschützte Menschen etliche Todesurteile verhängt wurden, zeigt sich noch hier die Grundambivalenz der Beziehungen zwischen Führungskadern und Intellektuellen. Erst im Gefolge des Chrustschowschen Tauwetters und nach dem Mauerbau, als eine neue literarische Generation die Bühne betrat und ihren „Anspruch“ (Volker Brauns gleichnamiges Gedicht beginnt mit der Zeile: „Kommt uns nicht mit Fertigem!“) artikulierte, spitzte sich Mitte der sechziger Jahre der Konflikt wiederum zu und kulminierte in den Angriffen des 11. Plenums. Zu Recht resümiert Mittenzwei: „Merkwürdig war, daß die Dichter in keiner anderen Phase so konsequent die Losungen der Partei aufgriffen, die gesellschaftlichen Umwälzungen bejahten und dennoch von offizieller Seite brüsk abgewiesen wurden.“ Besonders die zweite Hälfte der sechziger Jahre, als die Schriftsteller aufgefordert waren, die „Sicht des Planers und Leiters“ in der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ einzunehmen, erwies sich als Härtetest in den familiaren Beziehungen zwischen Künstlern und Politik, zumal etliche Bücher an ihrem Erscheinen gehindert worden waren. Das Ende der tschechoslowakischen Sozialismus-Erneuerung ließ bei ersten sozialistisch geprägten Autoren die Skepsis in Verachtung umschlagen, so bei Reiner Kunze. Kleine Anmerkung am Rande: Mittenzwei schreibt: „Reiner Kunze, der zunehmend Schwierigkeiten hatte, seine Gedichte zu veröffentlichen und der mit einer Tschechin verheiratet war, trat aus Protest aus der SED aus und verließ die Republik.“ (S.251) Nur lagen zwischen Partei- und Republikaustritt noch etwa acht Jahre, das hätte dem Lektor schon auffallen dürfen. Der Machtwechsel zu Honecker begrub endgültig die halbherzigen ökonomischen Reformansätze unter Ulbricht, brachte paradoxerweise auf dem Feld der Kulturpolitik eine Phase der Entspannung, zumal Honecker wenig Ambitionen zeigte, die Schriftsteller fortwährend belehren zu wollen wie sein Vorgänger. Mittenzwei bezeichnet die erste Hälfte der siebziger Jahre zu Recht als „Hoch-Zeit der DDR-Literatur“. Die Illusion allmählicher Verfreundlichung des „real existierenden“ Sozialismus zerstob mit der Biermann-Ausbürgerung, mit der die Niedergangsphase der DDR schlaglichtartig evident wurde. Mittenzwei zeichnet genau die auch psychologisch dramatische Situation nach, als es zu einem Treffen Werner Lamberz mit den Unterzeichnern der Biermann-Petition im Haus von Manfred Krug kam, bei dem klar wurde, daß die Hoffnung auf einen marxistisch grundierten Dialog über die Verkehrsformen der Macht mit ihren eigentlich verbündeten Kritikern illusionär war. Die Folgen waren gravierend: Der Aderlaß an Intellektuellen, die das Land verließen, nahm von Jahr zu Jahr zu, ein Mehltau von surrealer Atmosphäre senkte sich in den  achtziger Jahren über das Land. Mittenzwei attestiert den machtnahen Intellektuellen in dieser Zeit einen „nützlichen Pragmatismus“, der allerdings auch dazu führte, daß „konzeptionelle und strategische Alternativen ausblieben“ (S. 285). Dafür erstarkte in den achtziger Jahren eine unabhängige Friedensbewegung, entstanden oppositionelle Gruppen, die sich einer demokratischen Reformierung der DDR verschrieben hatten. Zu Recht moniert Mittenzwei, daß die geistige Opposition nach einem Wort des Philosophen Gerd Irrlitz zwar „ein zauberisches Orchester (bildete), das immer zu hören, nie zu erblicken war“ (S. 338), aber bis 1989 nicht den offenen Bruch riskierte und 1990 rasch abgedrängt wurde, als andere Melodie und Takt angaben. Fragt sich nur, aus welchem Blickwinkel nichts zu sehen war. „Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.“ (Karl Mickel)

Insgesamt ist der Lektüreeindruck ein zwiespältiger. Dabei geht es weniger um Details und sachliche Fehler, als vielmehr um methodologische Vorentscheidungen bzw. eingeschränkte Wahrnehmungsweisen des Wissenschaftlers. Hätte Mittenzwei sein  Buch essayistisch „Meine Intellektuellen“ genannt, wären die nachfolgenden Einwände obsolet; da er aber den Anspruch erhebt, die Geschichte der Beziehungen zwischen Literaten und der Politik in Ostdeutschland zwischen 1945 und 2000 geschrieben zu haben, muss er sich an seinem selbst angelegten Maßstab messen lassen. Und hier sind denn doch Einwände zu erheben, die über Details und geschmäcklerische Interpretationsstreitigkeiten hinausgehen.

Bereits auf den ersten Seiten trifft Mittenzwei eine fatale Vorentscheidung, die er pikanterweise in einer Fußnote unterbringen zu müssen glaubt: In der Anmerkung 3 im Einführungskapitel heißt es:  „In diesem Buch wird zwischen den Begriffen `Intellektuelle` und `Intelligenz` kein Unterschied gesehen, den einige Theoretiker aus verschiedenen Gründen meinen machen zu müssen.“ Was Mittenzwei durch die Blume sagt: Hier schlagen die Verletzungen der Nachwende-Denunziationen auf eine Weise durch, die erklärbar, aber nicht hinnehmbar ist. Wolfgang Engler berichtete von einem Düsseldorfer Soziologentag, auf dem es "eine deutsch-deutsche Diskussion über die Lage und Funktion von Intellektuellen in Gesellschaften wie der vormaligen DDR (gab). Sie plätscherte unter allerlei Freundlichkeiten und interessierten Nachfragen dahin, bis ein westdeutscher Gesprächsteilnehmer das Wort ergriff. Schon das Thema, hob er an , sei eine einzige Beschönigung der Tatsachen. Es unterstelle, was erst zu beweisen sei. Überhaupt müsse man sich hüten, den Begriff des Intellektuellen derart zu ermäßigen, daß sich jeder dazu zählen könnte, der einige Erfahrungen mit dem Lesen und Schreiben von Texten habe. Was schließlich die DDR im besonderen anginge - hier wandte er sich an die von dort stammenden Kollegen -, so sei man besser beraten, vom Fehlen als vom Vorhandensein des Gesprächsgegenstands auszugehen. Und um den letzten Zweifel an seiner Meinung auszuräumen, schloß er mit den Worten: Intellektuelle - die gab es bei Ihnen doch gar nicht!' Es folgte, was folgen mußte: betretenes Schweigen ringsum". (Wolfgang Engler: Die ungewollte Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S.144.) Wo Engler in die Offensive geht, gibt Mittenzwei den Beleidigten, was einem ziemlich egal sein  könnte, wenn er damit nicht zweierlei offenbarte: zum einen die prinzipielle Unlust, den Beleidigern auf theoretischer Ebene etwas entgegenzusetzen und sich auf die Diskurse seiner Kontrahenten überhaupt einzulassen, zum zweiten die „Arroganz der Ohnmacht“ – leider stammt dieses Zitat von einem hochklugen Szene-IM vom Prenzlauer Berg, Rainer Schedlinski – in einem Behauptungswillen fortzuschreiben, der viele ehemalige Deutungsmächtige erfasst hat, nichtdestotrotz wenig hilfreich ist für weitere Diskussionsansätze. Denn natürlich gab es in der DDR etliche Intellektuelle, die diesen Namen im Zolaschen Sinne verdienen, nur gab es eine nicht unbedeutende Schicht von Universitätsprofessoren, Dozenten, Mittelbauern im akademischen Betrieb, Schriftstellern, Lehrern usw., die eher dem Typus der Funktionselite, der aus dem Russischen übernommenen „Intelligenzia“ entsprach: Ergeben noch den größten Blödsinnigkeiten parteioffizialer Verlautbarungen, stolz auf den eigenen sozialen Aufstieg, der mit der Eliminierung des außerscholastischen Denkvermögens erkauft wurde, militant, wenn es galt, Abweichler insbesondere aus der nächsten „Kadergeneration“ zu disziplinieren. Kein Wort wird verschwendet auf die ja auch in der medialen DDR-Öffentlichkeit präsenten Ausdeuter der jeweils aktuellen Parteilinie von Gerhart Eisler bis Karl-Eduard von Schnitzler, von „Sonntag“-Chefredakteur und Chef des Fernseh-Professorenkollegiums Hans Jacobus über die Staatsphilosophen Buhr, Reinhold, Hahn oder Eichhorn bis zu stets treu ergebenen Schriftsteller-Funktionären wie Uwe Berger, Helmut Preißler oder Gisela Steineckert.

In Mittenzweis Eingangskapitel unter dem Titel „Der Typus des literarischen Intellektuellen“ ist schon eine allzu schwammige Definition des Intellektuellen, angelehnt an Edward E. Said, wenig hilfreich: "Man könnte den literarischen Intellektuellen als einen Signalisten der Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen, des Mentalitätspotentials einer Nation, Klasse oder sozialen Gruppe bezeichnen. Auf diese Weise nimmt der Intellektuelle eine 'repräsentative Gestalt' an." (S.18/19) Die eher passive Widerspiegelungsfunktion  (der Intellektuelle als „Signalist“) wird im folgenden wieder relativiert, wenn er davon spricht, daß dieser Typus sich einmische, am kollektiven Gedächtnis, der öffentlichen Meinung modelliere, wobei er sich vom Journalisten durch seine Langzeitwirkung unterscheide. (S. 19). Verwunderlich ist es schon, daß Mittenzwei, der sich sein ganzes Wissenschaftlerleben mit den Schicksalen deutscher Intellektueller im 20. Jahrhundert beschäftigte, oberflächlich und zuweilen sichtlich genervt mit der in Fülle vorliegenden Literatur umgeht. Wie er Julien Bendas oder Pierre Bordieus komplexe Theorien über die Stellung und Funktion des Intellektuellen referiert, streift in den Verkürzungen fast schon das Satirische. Ausgerechnet Bordieu wird vorgeworfen, „mit seinen Vorschlägen innerhalb einer Welt , in der, wie er selbst sagt, `die Tyrannei der Profitrate` alles bestimmt, (zu bleiben), nicht auf eine neue Welt, nicht einmal auf einen erneuerten Sozialismus“ zu orientieren und zu den „Zerrissenen“ (S. 16) zu gehören. Daß Intellektuelle zwischen Wahrheitssuche und politischem Engagement zerrissen werden können - eine andere Grund-Botschaft haben im folgenden natürlich auch Mittenzweis Geschichten nicht. Zunächst aber stellt er das Diktum auf, daß der Intellektuelle, der an den Problemen der Zeit nicht vorbeigehen und der leidenden Menschheit ein Helfer sein will, keine andere Wahl (hat), als auf dem Kampfplatz zu erscheinen.“ (S. 16). Man staunt schon ein wenig, daß solche Allgemein-Sätze auf den Leser des Jahres 2002 kommen. Von den Jakobinern bis zu den neoliberalen Ideologen, sie alle berufen sich gern auf die „leidende Menschheit“, der zu helfen, sagt Milton Friedman, man nur alles der unsichtbaren, heilenden Hand der Marktkräfte überlassen müsse. Wann immer von „neuer Welt“ und „Menschheit“ Diskurslegitimation geholt wird, ist eine gehörige Portion Mißtrauen angebracht. Diejenigen Philosophen und Soziologen, die sich erst einmal mit der ihnen vertrauten näheren Lebenswelt im Realsozialismus ins Vernehmen gesetzt haben, sind offenbar für die Mittenzweische Intellektuellendefinition von minderem Interesse.  György Konrád, Leszek Kołakowski, Rudolf Bahro, Jens Reich u.a., die ausführlich über die Rolle von Eliten im Staatssozialismus nachgedacht haben, werden keinerlei Erwähnung für würdig gefunden.

Daß die letztgenannten, sämtlich in großer Abständigkeit zu den damaligen Offizialdiskursen schreibenden Autoren im Eingangskapitel unterschlagen wurden, kann nach der Lektüre des ganzen Opus kein Versehen mehr genannt werden. Es offenbart sich eine ziemlich fundamentale Wahrnehmungsblendung, die den wissenschaftlichen Wert der ganzen Untersuchung erheblich schmälert. Daß sich der Autor den sozialistisch orientierten Autoren und Autorinnen am meisten verbunden fühlt, kann nicht überraschen und zeigt sich auch in seinen Wertungen. Daß aber andere Autorinnen und Autoren, zumal jene, die die DDR verließen, entweder überhaupt nicht erwähnt werden oder mit ein paar Nebensätzen abgespeist werden, überschreitet die Grenze zur Unredlichkeit. Um ein paar Namen derer zu nennen, die ausgesprochen stiefmütterlich mit Aufmerksamkeit bedacht werden: Horst Bienek, Thomas Brasch, Jürgen Fuchs, Peter Huchel, Uwe Johnson, Alfred Kantorowicz, Walter Kempowski, Sarah Kirsch, Katja Lange-Müller, Erich Loest, Frank-Wolf Matthies, Helga Maria Novak, Hans-Joachim Schädlich, Stefan Schütz, Gerhard Zwerenz. Von den ganzen 16 Zeilen, die Uwe Johnson zugestanden werden, erzählen zwölf die mißglückte Drucklegungsgeschichte seines Erstlings „Ingrid Babendererde“, die weiteren vier werden auf den Rest dieses Schriftstellerlebens verwandt. Kein Wort über „Mutmaßungen über Jakob“, kein Wort über die Essays, kein Wort über die späteren Treffen mit ostdeutschen Kollegen, kein Wort über den Einfluß, den Johnson auf Erzählstrategien etlicher Kollegen hatte. Alfred Kantorowicz, der 1957 die DDR verließ, wird knapp als Direktor des Germanistischen Institutes an der Humboldt-Universität und als Lehrer Hermann Kants erwähnt, nicht aber das für das Thema eminent wichtige „Deutsche Tagebuch“. All die Bücher mit verarbeiteten DDR-Erfahrungen von den oben genannten Autorinnen und Autoren, von „Vogel Federlos“ (Helga M. Novak) über Stefan Schütz´ „Medusa“ oder die „Gedächtnisprotokolle“ von Jürgen Fuchs – sie alle spielen in Mittenzweis Recherchen über die ostdeutschen Intellektuellen keine Rolle. Sollte hier dem in Fleisch und Blut übergegangenen Verdikt, Renegaten, Verräter und Überläufer durch Nichterwähnung zu ächten, ein weiteres Mal Tribut gezollt worden sein?  Oder ist es die nach 1990 zu erwarten gewesene Aufwertung übrigens nicht aller dieser Autoren (man denke an Thomas Brasch, Frank-Wolf Matthies oder Stefan Schütz, die wenig dienstbar sich zeigten für Rache- oder Triumphgesänge) gegenüber den zuvor hofierten „kritisch-loyalen“ AutorInnen seitens des „linksliberalen“ Feuilletons im Westen? So vergibt Mittenzwei die Chance, nicht nur ein Spektrum möglicher Haltungen vorzuführen, sondern auch ihre wechselseitigen Verflochtenheiten genauer ins Auge zu fassen. Die Ausdifferenzierung innerhalb der oppositionellen Zirkel, die Publikationsformen in einer zweiten, nichtstaatlich gelenkten Öffentlichkeit, die Verbindungen zwischen Ansätzen einer politischen Opposition und Literaten – all dies wird entweder gar nicht oder verfälscht dargestellt. Gerd Poppe, mit seiner Frau Ulrike und Wolfgang Templin Mitinitiator der Gruppe „Initiative für Frieden und Menschenrechte“, veranstaltete beispielsweise in seiner Wohnung in den achtziger Jahren regelmäßig Lesungen, die zu den Gästen z. B. Heiner Müller oder Adolf Endler zählte. Alles dies ist gut dokumentiert, Mittenzwei hätte sich informieren können. Ein weiteres Beispiel: So treffend er das Schicksal von „Sinn und Form“ in den sechziger Jahren schildert, so unangenehm stößt auf, daß er ihre Rolle in den achtziger Jahren völlig unterschlägt. Die Nietzsche- Diskussion 1988, in der sich der Held seines zweiten Kapitels, Wolfgang Harich, als Dogmatiker zeigte, wird ebenso wenig erwähnt wie die Rolle Sebastian Kleinschmidts, der immerhin die Zeitschrift über die Wendewirren rettete.

Werner Mittenzwei deutet bereits im Eingangskapitel an, daß sein Hauptinteresse denjenigen Literaten, Literaturwissenschaftlern, Publizisten gilt, die sich „in die Hölle der Widersprüche“ begeben hätten. In seiner Sicht den gelebten Widersprüchen der intellektuellen Verpflichtung auf Selbständigkeit des Denkens, der Suche nach Wahrheiten und der daraus sich zwangsläufig ergebenden Kritikfähigkeit einerseits und andererseits einem jedenfalls zeitweisen Engagement für die sozialistische Umgestaltung der Verhältnisse. Pragmatischer gesagt: Die Akteure hatten immer wieder Entscheidungen zu treffen zwischen Anpassung und Widerstand. Jene Generation wird in den Mittelpunkt gestellt, die die DDR essentiell mit aufgebaut hatte und mit ihrem Untergang in Rente ging. Es ist also wesentlich ein Buch über Weg- und Generationsgefährten. Ob er anhand unterschiedlicher Gelehrtentypen einprägsame Memorials seiner eigenen Lehrer wie Hans Mayer oder Werner Krauss setzt, ob er die Auseinandersetzungen an der Akademie der Künste in den sechziger Jahren nachzeichnet – hier kann der Autor sein Insiderwissen gewinnbringend noch im Anekdotischen einsetzen, hier überzeugen seine sozialpsychologischen Erklärungen der Prägemuster seiner Generation: Aufbruchsstimmung bis in die sechziger Jahre hinein, Etablierung in Positionskämpfen bei Beibehaltung der Hoffnung auf evolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft bis in die siebziger, Desillusionierungen in den achtziger Jahren – die Einblicke in eine gesellschaftliche Gruppenpsyche entsprechen auf geschichtlich einmalige Weise ontologisch-altersspezifischen Verfaßtheiten des Verhältnisses von Lebenserfahrung und Erwartungshorizont. Daß diese Koinzidenz den wissenschaftlichen Blick auf andere Generationseinsätze trüben kann, zeigt sich im Fortgang der Unternehmung. Freilich sinkt die Aufmerksamkeit selbst gegenüber den näheren Alterskohorten rapide mit abnehmender örtlicher und sozialer Entfernung von den Berliner Zentralen von Literatur und Politik. Was außerhalb Berlins geschah, musste schon mit Hans Mayer oder Ernst Bloch zu tun haben, um Erwähnung zu finden. Daß sich etwa in Leipzig über Jahrzehnte ein bürgerstolzes und in Dresden ein eher kulturkonservatives Intellektuellenbiotop erhielt und weiterentwickelte, aus dem Autoren wie Horst Drescher, Kurt Drawert, Thomas Rosenlöcher oder Durs Grünbein hervorgingen, entgeht Mittenzwei völlig. Doch auch, was z.B. Berliner Theaterleute wie Adolf Dresen, Einar Schleef, Friedrich Dieckmann oder Thomas Brasch in den späten sechziger/ siebziger Jahren an politischen, poetischen, philosophisch-ästhetischen Vorstellungen entwickelten und über Gruppendiskussionen in bestimmte Kreise der Gesellschaft trugen, wird nicht weiter eruiert. Dabei sind die Zeugnisse dieser Autoren inzwischen zugänglich, und sie belegen, wie in dieser Zeit intensiv um nichtorthodoxe marxistische Ansätze einer komplexen Gesellschaftsanalyse in Kreisen von Künstlern, Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Publizisten gestritten wurde, man denke nur an Adolf Dresens Auseinandersetzung mit der Marxschen Politischen Ökonomie. Oder an die Anziehungskraft, die ein Philosoph wie Wolfgang Heise nicht nur auf jüngere Wissenschaftler, sondern gerade auch auf Autoren wie Heiner Müller, Richard Pietraß oder Volker Braun ausstrahlte. Heise wird in dem Buch gerade einmal einer Fußnotenerwähnung für würdig befunden. Einzig Robert Havemann wird in seinem Engagement für einen demokratischen Umbau der Gesellschaft mit sozialistischer Orientierung einigermaßen angemessen gewürdigt. Gewiß, die eben Genannten standen weitab von den Zentren möglicher Einflußnahme auf politische Entscheidungen, wurden größtenteils von der Staatssicherheit observiert und hatten weniger Möglichkeiten öffentlicher Artikulation als die im Schutz von Verbänden und Akademien agierenden „Autoritäten“. Hier zeigt sich im besonderen eine Schwachstelle der Mittenzweischen Methodenentscheidung, die geistigen Hervorbringungen seiner Protagonisten nur kursorisch zu referieren bzw. illustrierend zu gegenwärtigen. Da sein Blick stets auf das Getöse der Haupt- und Staatsaktionen beschränkt bleibt, hat er kein Gespür für die „homöopathische“ (R. Kirsch) Wirkung von Literatur, die ein Literaturwissenschaftler stets nur sehr eingeschränkt erhellen kann, die er aber im Hinterkopf haben muß, will er denn Phänomene wie Bewußtseinsumschwünge, die sich nur sehr ungefähr ankündigen, dann aber mit ziemlichen Auswirkungen durchbrechen, zu erklären versuchen. In Mittenzweis Darstellung reagieren die Literaten vor allem in den Machtdiskursen; so vermag er zwar die Initialzündungen zu erfassen, aber nicht die flirrenden, komplexen Umorientierungen: Um diese zu begreifen, muss man sich schon in die Reflexionsgebäude einzelner Autoren vertiefen und nach Interferenzen suchen. Um ein Beispiel zu geben: Ausführlich zeichnet der Autor den Verlauf der Biermann-Ausbürgerung 1976 und der darauf folgenden Konfrontation etlicher Schriftsteller mit der SED-Spitze nach. Die mentalen Veränderungen, die diesem mutigen Schritt der Gehorsamverweigerung vorausgingen, werden wenige Seiten zuvor knapp mit der Hinwendung von DDR-Autoren zum „Privaten“ und zu „Themen über Sinn und Wert des Lebens“ reduziert, als ob Letzteres nicht zu allen Zeiten der Urstoff literarischer Produktion gewesen sei.  Kein Wort über die ungeheure Resonanz, die Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ gehabt hatte, über Bessons „Der Drache“, Heiner Müllers „Macbeth“ oder Schleefs / Tragelehns „Fräulein Julie“ – Inszenierungen, die Tabus unterliefen und Verhältnisse zwischen Individuum und Geschichte vorspielten, die ganz und gar nicht in das harmonisierende Weltbild der Parteidoktrin passten und einen geschichtsphilosophischen Paradigmenwechsel anzeigten. Reiner Kunzes Gedichtband „Brief mit blauem Siegel“ (1974) avancierte zum Kultbuch unter jungen Leuten weit über die Kreise von Jungakademikern hinaus. Seine aphorismusnahen Verse kursierten in unzähligen Abschriften, und sein Kurzgedicht wider die Lautheit propagandistischer Dauerbeschallung „einladung zu einer tasse jasmintee // Treten Sie ein, legen Sie ihre / traurigkeit ab, hier / dürfen Sie schweigen“ war in jeder dritten Studentenbude auf die Tür gemalt. 1974 erschienen die Romane „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz“ von Irmtraud Morgner, „Karen W.“ von Gerti Tetzner, „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann sowie der Erzählungsband „Unter den Linden“ von Christa Wolf. Diese Bücher markierten einen neuartigen Emanzipationsanspruch  von Frauen   und begründeten eine weltweite Aufmerksamkeit für die von Frauen aus der DDR geschriebene Literatur. Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“, Jurek Beckers „Irreführung der Behörden“, Stefan Heyms „Der König David Bericht“ oder Günter de Bruyns „Preisverleihung“ entzauberten die „Königsebene“ und problematisierten das Mündigwerden des Einzelnen als konflikthaften Prozess. Eine wichtige theoretische Handreichung lieferte in dieser Zeit Rudolf Bahro, dessen „Alternative“ in Kopien in Schriftstellerkreisen zirkulierte. Bahro aber wird auf einer knappen halben Seite abgehandelt, und dies im Kapitel über die achtziger Jahre. Dabei ist etwa der Einfluß Bahros auf Volker Brauns Gedichtband „Training des aufrechten Gangs“ oder sein Stück „Großer Frieden“, die Mitte der siebziger Jahre entstanden, mit Händen zu greifen. Hier stößt die Unfähigkeit zur Diskursanalyse  besonders ärgerlich auf. Schriftsteller sind ja gemeinhin gescheite Leute, die Anregungen der Philosophie oder aus den Naturwissenschaften in ihr Werk zu integrieren wissen. Aber kaum einmal wird etwa dem Einfluß von Sartre und Camus in den fünfziger Jahren, Marcuses und Adornos in den sechzigern, Rudolf Bahros und Erich Fromms in den siebzigern, von Roland Barthes, Jaques Derrida oder Michel Foucault in den achtziger Jahren auf den künstlerischen Schaffensprozess einigermaßen ernsthaft nachgegangen. Zurück zu den siebziger Jahren: Franz Fühmanns Romantik-Essays und sein Tagebuch „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“, Heiner Müllers „Zement“ (nach Gladkow), Günter Kunerts „Die geheime Bibliothek“ oder sein Aufsatz „Ein anderer K.“ (1975) trugen in dieser Zeit nicht nur zu einer erweiterten Erbe-Auffassung bei, sondern schärften ein Bewußtwerden dessen, daß die neue Gesellschaft mitnichten schon den Abschied von der „Vorgeschichte der Menschheit“ (Marx) impliziert. Hier deutete sich an, was in den achtziger Jahren zum bestimmenden Moment der DDR-Literatur avancierte: Der sozialismusinterne Aspekt wurde zunehmend überlagert von zivilisationskritischen Impulsen, signifikant etwa in Christoph Heins „Der fremde Freund“, Heiner Müllers „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ oder Christa Wolfs „Störfall“, ganz zu schweigen von der Lyrik und Essayistik. Die in den achtziger Jahren omnipräsente Friedensbedrohung durch die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa, der sichtbare Verfall der Innenstädte und die Vergiftung der Natur beförderten Allianzen zwischen AutorInnen und Aktivisten einer z.T. außerstaatlich agierenden Friedens- und Ökologiebewegung. Warum es zu diesen Verlagerungen der Aufmerksamkeiten kam, zu anderen Schreibstrategien und Verhaltensentscheidungen in dieser Zeit, hätte man konzis mit Textverweisen belegen können. Aber diese für das Verhältnis von Literatur und Politik so gravierenden Veränderungen im literarischen Feld bleiben merkwürdig unterbelichtet, vielmehr wird durch die politisch-ökonomischen Rekurse der Eindruck suggeriert, die Literatur hätte vor allem auf aktuelle politische Veränderungen reagiert, z.B. den Machtantritt Gorbatschows. Das aber ist nun wahrlich zu kurz gegriffen. Überhaupt verwundert es schon, daß Mittenzwei die Autoren, die er in den Kapiteln zu den sechziger/siebziger Jahren aufmerksam begleitet hat, gleichsam fallen lässt, um im Kapitel zu den achtziger Jahren den Generationskonflikt in den Mittelpunkt zu stellen. Und das geht ziemlich schief.

Denn: Im Kapitel über die achtziger Jahre spürt man förmlich, wie dem Autor die Luft ausgeht. So stützt er sich sehr auf die eigene Erlebniswelt an der Akademie der Wissenschaften und in der exklusiven Runde bei Peter Hacks, auf Aussagen befreundeter Verleger und Jan Faktors, auf den Katalog zur Ausstellung „Boheme und Diktatur“ von Paul Kaiser und Claudia Petzold, auf Überlegungen Wolfgang Englers und Günter Gaus`. Nicht, daß er dabei nicht zu stimmigen Verallgemeinerungen käme: Seinen Ausführungen zur Entstehung und Funktionsweise anderer Öffentlichkeiten zu Beginn des vierten Abschnitts im fünften Kapitel kann man nur zustimmen, weil sie die Mentalitätsveränderungen Mitte der achtziger Jahre auf den Punkt bringen. Es ist eher das Problem einer zu kleinen Materialbasis und das Bedürfnis nach Selbstlegitimation, die zu merkwürdigen Wertungen und Prioritätensetzungen führen. Ein kleines, aber symptomatisches Beispiel: Bekanntlich waren es die mutigen Vorstöße von Günter de Bruyn und vor allem von Christoph Hein auf dem X. Schriftstellerkongreß 1987 gegen die Zensur, die eine Veränderung der Druckgenehmigungspraxis in der DDR einleiteten. Diesen in vieler Hinsicht bemerkenswerten Kongress mit nicht unerheblicher Ausstrahlung auf die gesellschaftliche Verfasstheit in der DDR hält Mittenzwei nicht für erwähnenswert. Stattdessen wird aus einem privaten Briefwechsel Heins mit Elmar Faber 1988 zitiert, in dem Christoph Hein seine Thesen noch einmal zusammenfasst. Egal, ob es sich hier um eine Verbeugung vor dem Hausverleger handelt oder um schlichte Ignoranz, auf alle Fälle ist ein solches Vorgehen für einen Literaturwissenschaftler unlauter, der den Anspruch erhebt, die multiplikatorischen Momente des Auftretens von Intellektuellen in der DDR zu rekonstruieren. So schmückt sich Mittenzwei mit Erinnerungen an Zusammenkünfte im Illuminaten-ähnlichen Hacks-Zirkel und damit, „den völlig isolierten Wolfgang Harich in die Kreise der Akademie einzuführen.“ (S. 374). Warum auch nicht, nur unterschlägt er die beileibe etwas öffentlichkeitsrelevantere Nietzsche-Diskussion in „Sinn und Form“ 1988 und die skurrile Rolle, die Wolfgang Harich in ihr als später Widergänger Lukácsscher Moderne-Verdammnis spielte.

Ein schierer Albtraum auch für viele kritische Literaturwissenschaftler in der DDR bildete in den achtziger Jahren das Auftauchen einer komplexen Literaturszene, die sich den gewohnten Einordnungskriterien so sehr entzog wie die nichtoffizielle Literatur. Mittenzwei stilisiert dies zu einem Generationsproblem - das es auch war- , aber nicht im Kern: Zu den Protagonisten außerhalb des offizialen Literaturbetriebs gehörten mit Wolfgang Hilbig, Lothar Trolle, Jochen Berg, Elke Erb, Adolf Endler, Fritz Mierau, Gert Neumann immerhin eine Reihe von gestandenen Autoren jenseits der vierzig. Anstatt zu versuchen, aufgrund der zuhauf vorliegenden Materialien die ästhetischen, politischen und lebensweltlichen Zusammenhänge darzustellen, begnügt er sich mit der Rekapitulation des Zustandekommens der Reihe „Außer der Reihe“. In der Tat eine bemerkenswerte verlegerische Leistung von Elmar Faber, nachdem sich diese Literatur nicht mehr ignorieren ließ. Welchen Anteil daran die Invektiven Gerhard Wolfs, Adolf Endlers oder Elke Erbs hatten, darüber wird der Leser nicht informiert. Mehr noch, in diesem Zusammenhang übernimmt der Literaturhistoriker unkritisch den zweifelhaften Versuch Fabers, das von Elke Erb dem Aufbau-Verlag angebotene Manuskript der Anthologie „Leila Anastasia“, 1985 unter dem Titel „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, in drei Autorengruppen zu „selektieren“ (S.358), je nach Qualität der Texte – letztlich Ausdruck eines Unverständnisses gegenüber dem Anliegen der Herausgeber und dem Auftauchen einer anderen Ästhetik. In die Gruppe des „schlecht gemachten Kunstgewerbes“ gelangten z. B. Texte von Katja Lange-Müller (die ansonsten in Mittenzweis Buch überhaupt keine Rolle spielt), von Detlef Opitz und Gabriele Kachold, allesamt Autoren, die in den späten achtziger Jahren bereits nachdrücklich auf sich aufmerksam machten. Nun sind verlegerische Fehleinschätzungen in der Literaturgeschichte Legende, und hinterher ist man allemal klüger. Elmar Faber hat mit seiner „Selektion“, ohne es zu wollen,  in die damalige Strategie der Stasi gepaßt, die „Szene“ auf diese Weise zu erodieren. Hier fehlt ein Moment der Nachdenklichkeit in den Ausführungen Mittenzweis. Über Gebühr würdigt er eine Reaktion in der offiziellen Verlagslandschaft der DDR, während er sich nicht die Mühe macht, die in dieser Zeit entwickelten Konzepte genauer zu betrachten, die sehr viel mehr über einen anderen Politik-Begriff aussagten, der wohl auf volkseigenem Boden entstanden war, aber über ihn ein radikal-avantgardistisches Gleichheitszeichen zwischen  Kunst und Lebenskunst zu setzen trachtete. Es ging um die „Umwortung anfälliger Werte“, die Verflüssigung des Festen, die Störung, das Proteushafte, die Kultivierung des Fehlers im „Dichtergarten des Grauens“, kurzum: um eine machtsprachlich apolitische Politisierung der Kunst, „da Politik weder mit Alternativ-, noch mit Anti-, noch mit sonstwelchen A-Polytiken beizukommen ist ihr lediglich mit UNKONTROLL-/Lierbarkeit, in etwa einem Schalxtum“(„Zoro in Skorne“ – eines der frühen Manifeste aus dem Jahre 1981). Wenngleich seit Mitte der achtziger Jahre selbstreferentielle Attitüden die Wirkkraft teilweise wieder einschränkte, so hat doch die burlesk-eulenspiegelhafte Lebenskultur, welche Erotik, punkgestützte Power, Kunstanstrengung und theoretisches Reflexionsvermögen zusammensehen konnte, für eine Zeit lang utopische Gehalte ins Leben gerissen.

Darin bestand der Stachel, den man nach der Vereinnahmung der DDR so rasch als möglich zu ziehen gewillt war, deshalb musste man über die IM-Enthüllungen den anarchokommunistischen Impuls vieler Akteure diskreditieren wollen. In diesem Zusammenhang ist es makaber, wenn ausgerechnet Peter Böthig zum Kronzeugen dessen gemacht wird, daß Sascha Anderson „in den Gesprächen mit ihren Mitarbeitern (der Stasi, P.G.) nicht mit der Macht kollaboriert hat, sondern ihr widersprochen, sie auch heftig attackiert“ (S. 362)  habe. Das stimmt, aber es stimmt nachweislich auch das Gegenteil, das verschwiegen bzw. verharmlost wird.  Da Mittenzwei sich selbst als machtfixierter Wissenschaftlertypus outet, der noch in der Niederlage Deutungshoheiten beansprucht, sei ihm doch energisch widersprochen, wenn er ungeprüft die Abwertungsarroganzien der FAZ übernimmt wie die, die Literatur des „Prenzlauer Bergs“ hätte „keine Kulturleistung“ zustande gebracht (S.365) oder wenn er die Mär von der gänzlich unpolitischen Attitüde dieser Literatur (S. 388) aufgreift. Wenn er sich da nicht getäuscht hat: Nicht nur, daß sich ein Teil dieser Literaturszene in den neunziger Jahren um Zeitschriften wie „Sklaven“ und später „Gegner“ neu formiert und politisch weit links positioniert hat, sie strahlt auch Impulse auf eine jüngere, nun gesamtdeutsche Autorengeneration aus. Diese Transformierungsprozesse aber entgehen Mittenzwei völlig – ein weiteres Indiz für seine selektive Wahrnehmung. Im übrigen gab es außerhalb der nichtoffiziellen Literatur bemerkenswerte literarische Stimmen wie die von Kerstin Hensel, Steffen Mensching, Kathrin Schmidt, Thomas Böhme, Hans-Eckart Wenzel u.a., die völlig unter den Tisch fallen. Die Zeitschrift „Temperamente. Blätter für junge Literatur“ und ihre wechselvolle, aber aufschlussreiche Geschichte wird nicht einmal erwähnt.

In den Schlusskapiteln des Bandes, die die „Wende“ und die neunziger Jahre verhandeln, räumt Werner Mittenzwei der Rekapitulation der politischen Zusammenhänge einen weitaus größeren Raum ein als in den anderen Abschnitten des Bandes. Das ist nicht selten ermüdend, weil die mitgeteilten Fakten größtenteils bekannt sind und man überdeutlich den Drang spürt, der Mittenzweischen Sicht auf die politische Geschichte dieser Umbrüche Nachdruck zu verleihen, so in den Bewertungen der dubiosen Rolle Gorbatschows, des Einigungsvertrages, der Treuhand, der Gauck-Behörde, der Evaluierungskommissionen  etc.. Wäre er doch mit gleicher Verve der eigentlich interessierenden Frage nachgegangen, wie die DDR-Intellektuellen den „Mentalitätssturz“ (S. 389) in dieser, wie er es nennt, „deformierten Revolution“ (S. 409) verkrafteten. Aber hier sind wieder einmal die Instrumentarien zu grob: Anstatt Positionen, Frontlinien, auch Hakenschläge und Tritte ins Kreuz des einstigen Verbündeten nachzuzeichnen und dann zu Verallgemeinerungen zu gelangen, frönt er einem dualistischen Prinzip von Sympathie und Antipathie, das unter dem notwenigen Differenzierungsniveau bleibt: Sie liegen ja vor, die Essays von Volker Braun, Kurt Drawert, Adolf Endler, Durs Grünbein, Christoph Hein, Helga Königsdorf, Sarah Kirsch, Uwe Kolbe, Günter Kunert, Katja Lange-Müller, Heiner Müller, Bert Papenfuß, Hans-Joachim Schädlich, Klaus Schlesinger und und und. Warum aber macht er nicht Gebrauch von diesem Fundus und versucht, die politischen, ästhetischen, generationsspezifischen Differenzierungen kenntlich zu machen und dann zu nachvollziehbaren Verallgemeinerungen zu gelangen, die ja entschiedene Wertungen keineswegs ausschließen? Statt dessen läuft ihm des öfteren einfach nur die Galle über, so in bezug auf Monika Maron und insbesondere auf Wolf Biermann, der gleich dreimal (beim ersten Mal ist es noch einen Lacher wert, beim dritten Mal nur peinlich)  als „Thersites der DDR-Literatur“ beleumdet wird.

Näher geht Mittenzwei immerhin auf Volker Braun, Fritz Rudolf Fries, Peter Hacks, Christoph Hein, Wolfgang Hilbig, Hermann Kant, Heiner Müller, Christa Wolf, Erwin Strittmatter ein; was er über sie zu sagen weiß, sind kursorische, generalisierende Einschätzungen, die eigentlich wenig Aufschluss geben über intentionale Bewegungsrichtungen, über das vielschichtige Reflexionsangebot. Auch jüngere Autoren wie Thomas Brussig, Kerstin Hensel, Reinhard Jirgl, Ingo Schramm werden mit einigen Zeilen bedacht. Aber es stellt ein Armutszeugnis für den Literaturwissenschaftler aus, was er bei ihnen zu entdecken meint: Bei Reinhard Jirgl ist ihm lediglich dessen „eigenwillige Kunstsprache und eigene Rechtschreibung“ erwähnenswert. Dabei hat sich gerade Jirgl mit Romanen wie „Abschied von den Feinden“ oder „Hundsnächte“ ins Zentrum der deutsch-deutschen Konflikte vorgearbeitet und mit geschichtsphilosophischer Tiefenschärfe ausgeleuchtet. Wenn er Wolfgang Hilbig dadurch glaubt charakterisieren zu können, daß „die Ästhetik des späten Heiner Müller ihm näher (stand) als die der Prenzlauer-Berg-Szene“, lassen sich Zweifel an der Urteilskompetenz nicht vermeiden. Offensichtlich interessiert sich Mittenzwei nicht wirklich für die Texte der Autorinnen und Autoren, sondern für etwas anderes: Bei Hilbig wird, nachdem mit dem „klugen Kritiker“ (S. 516) Horst Haase (ehedem der etwas weniger grobschlächtige Nachfolger von Hans Koch) festgestellt wird, daß „der Westen ihn als Dissident nicht zu vereinnahmen (vermochte)“,  aus seiner in der Tat bemerkenswerten Dankrede zur Verleihung des Lessing-Preises 1997 u.a. zitiert: „Es gab da, zu Beginn des letzten Dezenniums in diesem Jahrhundert, einen Moment, in dem wir glaubten, mündig zu sein, es war ein glücklicher Moment, aber er führte uns in eine Unmündigkeit zurück, die wir uns so nicht im Traum vorgestellt hatten. Dieser Moment entgrenzte die Herrschaft des Profits und seiner Mechanismen bis zur Ausweglosigkeit ... Vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, daß erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind.“ Wohlan, in diesen Sätzen finde ich mich wieder. Doch Mittenzwei dienen sie durchsichtig als Beleg für seine Kernthese in diesem Kapitel, die zugleich sein Wertungsraster bildet: „Auf die Seite derer, die die neuen gesellschaftlichen Bedingungen formulierten, sind nur wenige übergegangen, keine Leute von Bedeutung. Wendehälse waren die DDR-Schriftsteller nicht. Sie haben ihre enttäuschten Hoffnungen zum Ausdruck gebracht und über ihre unzureichende Eingriffsbereitschaft reflektiert. Ihre geschärfte gesellschaftliche Einsicht richtete sich auf die eigene Vergangenheit wie auf die vorgefundenen neuen Zustände.“ (S. 518f.) Ihre Seite, unsere Seite – es verwundert wenig, daß Mittenzwei mit Essayisten wie Kurt Drawert oder Friedrich Dieckmann, die solch schlichten Betrachtungsweisen abhold sind, wenig am Hut hat.

In einem Epilog „Der Umgang mit der Vergangenheit oder Das Schicksal des Marxismus am Ende des Jahrhunderts“ schließlich stellt Mittenzwei zunächst eines der schäbigsten Kapitel der deutsch-deutschen Vereinigungsgeschichte dar, die flächendeckende Entsorgung der an Universitäten und Akademien tätigen Historiker, Germanisten, Philosophen. Das betraf im übrigen weniger die Altersgruppe Mittenzweis, die in den Ruhestand geschickt wurde und zumindest finanziell relativ weich fiel, sondern vor allem die zur Wendezeit Dreißig- bis Fünfundfünfzigjährigen, d.h. die nachfolgenden Generationen. Auch dank der Monopolstellung der Mittenzwei-Generation in der Wissenschaft über dreißig Jahre hinweg, die auch die Hoheit über Wissenschaftskontakte implizierte, waren die Jüngeren denkbar schlecht für die Positionskämpfe der frühen neunziger Jahre gerüstet. Aber die Machtverkrustungen der achtziger Jahre an den Akademien, Theatern, Verlagen, Universitäten werden ebensowenig reflektiert wie der eigene verdienst-volle Anteil daran. Auszubaden hatten das nämlich andere. Über Salamitaktiken z. B. befristeter Einstellungen einiger jüngerer Wissenschaftler wurden bis Ende des Jahrhunderts die ostdeutschen Universitäten und Hochschulen (mit Ausnahme Potsdams und der Humboldt-Universität) weitgehend „ossifrei“ gemacht. Gnadenlos wurde die strukturelle Schul- und Hochschulmisere des Westens auf den Osten übertragen. Mittenzwei ist recht zu geben, wenn er betont, daß vor allem marxistisches Gedankengut nachhaltig von den höheren Bildungseinrichtungen des angeschlossenen Territoriums verbannt werden sollte, ohne daß dies explizit je so formuliert wurde. Man gab sich ja pluralistisch. Jedoch ähnelte der offizielle Marxismus-Leninismus schon vor 1989 einem verlassenen Termitenbau, dessen papierdünne Wände der kleinste Hauch zum Einstürzen bringen konnte. So geschah es dann ja auch. Einen Teil dieses Verdienstes tragen die Genossinnen und Genossen Wissenschaftler z.B. aus dem ZK-Institut für Gesellschaftswissenschaften in ihrer unübertreffbar tiefen Einsicht in die unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Aber die meint Mittenzwei gar nicht, wenn er über „marxistisches Denken“ reflektiert. Er unterscheidet es vom „offiziellen Marxismus“ der Staatsideologie: „Das marxistische Denken der einzelnen Intellektuellen, der Wissenschaftler und Künstler, existierte neben dem offiziellen Marxismus.“ Diese Unterscheidung ist sinnvoll, nur stellte der „offizielle Marxismus“ eben immer auch die Kontrastfolie dar, auf die viel zu viel Energie verschwendet werden musste, zumal die Parteiideologen gegen Herätiker aus den „eigenen Reihen“ gemeinhin viel brutaler vorzugehen pflegten als gegen Wissenschaftler oder Künstler, die auf ein anderes philosophisches Fundament bauten. Worin denn nun aber die zukunftsweisenden Qualitäten eines modernen marxistischen Denkens liegen können, diese Anregungen bleibt er weitgehend schuldig. Was vor allem daran liegt, daß sein Denken, seine Kategorien, seine Methoden eben doch viel stärker auf die marxistisch-leninistischen Doktrin ausgerichtet sind, als er es sich zugestehen möchte. Ich nehme ihm die Ernsthaftigkeit selbstquälerischer Selbstauseinandersetzung etwa mit dem interiorisierten Parteilichkeitspostulat, dem Mythos „Arbeiterklasse“ oder der Geschichtseschatologie ab, von der kaum einer der Wissenschaftler seiner Generation  in der DDR sich lösen konnte, ohne den Kragen – nicht mehr den Kopf - zu riskieren oder zum Zyniker zu werden. Mittenzwei stößt dabei zu zentralen Fragen vor, etwa der ungelösten „Eigentumsfrage“, ein Kernstück marxistischer Gesellschaftstheorie, die selbst den politisch-theoretisch Uninteressierten spätestens dann berühren dürfte, wenn ein Privatmann ihm und Millionen anderen 2002 das Vergnügen am Fußballgucken vergällt, wie Leo Kirch es paradigmatisch vorgeführt hat. Doch leider kommt er im Nachdenken etwa über die Vereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie kaum über Lukács / Harich hinaus.  Dabei kann marxistisch inspiriertes Denken von poststrukturalistischen Denkmodellen (Foucault, Lyotard, Baudrillard) profitieren, von der Kritik am „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ eines Robert Kurz, von den arbeitstheoretischen Überlegungen eines André Gorz, der Geschichtsaufarbeitung Eric Hobsbawms, den soziologischen Studien Pierre Bordieus oder von der Kritik an US-Mythen eines Noam Chomsky. Aus den immer absurder werdenden sozialen Spaltungen in der Welt-Gesellschaft wachsen neue Widerstandbewegungen gegen die Alldominanz des Kapitals. In ihnen werden Intellektuelle kaum je wieder Präzeptorenrollen übernehmen, doch angesichts der globalen Rebarbarisierung menschlicher Verkehrsformen ist auch ihr Einsatz gefragt. So sehr ich einen der abschließenden Sätze in Mittenzweis Buch teile wie den: „Denn diese Erfolge (des Kapitalismus, P.G.) sind die Niederlagen einer Menschheit, die ein humanes Zusammenleben erstrebt“, so verstimmt die Hybris einer „menschheitlichen“ Beglaubigung, wenn sie nicht durch die notwendig schwierige Denkarbeit gestützt wird, die Erkenntnis- und Kommunikationskompetenz von Aussagen, Begriffen, abstrahierenden Reflexionen genau zu prüfen. Vielleicht ist es auch zuviel von einem verlangt, dessen Denkunlust etliche Male hervorsticht, zu einer aktuellen Diskussion um das Erbe und die Zukunft marxistisch fundierter Theoriebildung substanziell beizutragen. Mittenzwei erweist mit seinem theoretischen Dilettantismus einer zukunftöffnenden Marxismus-Debatte einen Bärendienst.

Für die Beantwortung quälender Fragen nach der Mitverantwortung von DDR-Intellektuellen für das desaströse Scheitern des Staatssozialismus gibt Mittenzweis Buch immerhin einige Fingerzeige. Wie unterschiedlich diese aufgenommen werden, gewärtigt ein Blick in zwei jüngere Besprechungen seines Buches, die von prominenten ostdeutschen Zunftgenossen verfasst wurden: Brecht-Schüler Manfred Wekwerth, von 1975 bis zur Wende Intendant des „Berliner Ensemble“ und nach Konrad Wolfs Tod Präsident der Akademie der Künste in der DDR, ist erwartungsgemäß begeistert, immerhin ringt er sich zu Fragen durch wie: „Warum wurde von wirklichen Marxisten, zu denen ja auch Werner Mittenzwei gehört, nicht alles getan, daß die `Idee nicht ihren Zauber verliert` (Mittenzwei)? Auch ich stelle mir diese Frage. Warum gaben wir nicht ohne Rücksicht weiter, was uns einst an Marx anzog: die aufhellende Kritik, der lästerliche Humor, die Jugendlichkeit des Alten selbst noch in der `Kritik des Gothaer Programms`?“ Also alles nur eine Vermittlungsfrage? Eine der richtigen Pädagogik? Oder sind die Marxschen Ideen der menschlichen Emanzipation in einer ausbeutungsfreien Gesellschaft nicht durch die Leninsche Partei neuen Typus und ihrem Alleinvertretungsanspruch, die Stalinschen Gulags, die Ersetzung von Wahrheitssuche durch Propaganda vom Anfang der Staatswerdung bis zum bitteren Ende verhöhnt worden? Während Wekwerth in den melancholischen Grundton des Mittenzweischen Opus einstimmt, wählt der Schriftsteller Erich Loest in der „Zeit“ die gehässige Tonart, wenn er Mittenzwei als „den Kurt Hager unserer Tage“ diffamiert. Dabei gibt er mit seinem „Freiheits“-Jubelkitsch selber den Demagogen, und die Art und Weise, wie er seine Richtersprüche der gröberen Art über Volker Braun, Fritz Rudolf Fries, Hermann Kant, Stephan Hermlin, Friedrich Schorlemmer und andere fällt, erinnert dann doch sehr an Alfred Kurella, um bei den schiefen Vergleichen zu bleiben. Daß Volker Braun heute keine Visionen mehr sähe, wird mit dem Satz belegt: "Wir haben die Morgenröte entrollt, um in der Dämmerung zu wohnen." Dieser Satz stammt freilich aus dem Stück „Die Übergangsgesellschaft“, 1982 geschrieben und 1988 endlich am „Deutschen Theater“ aufgeführt. Gekrönt wird dieser Passus mit dem theatralischen Ausruf: „Armer Volker Braun!“ Dieses Beispiel ist symptomatisch für Loests Wahrheitsliebe im Detail, die zudem an einen fatalen Hang zur Selbststilisierung gekoppelt ist und zu einer grotesken Überschätzung seiner eigenen Bedeutsamkeit führt, wie im An-Reden der Kollegen: „Neue Visionen möchte ich dir zeigen, Volker, in Polen, in Brünn und im Baltikum. Ich lebe nicht in der Dämmerung, mein Freund, und bin deshalb zehnmal fröhlicher als du. Es könnte auch sein, in deiner Lebenserfahrung und Herzensbildung fehlen bloß ein paar Jahre Knast. (...) Bei Fries ist zu lesen: `Man lud mir alle Verbrechen der Firma auf wie einen Zentnersack.` Bilden Sie sich nicht zu viel ein, Fries. Ihr eigenes Päckchen wiegt schwer, und Sie haben Zusatzporto zu zahlen.“ (DIE ZEIT, 25 /2002)

Auch wenn er mit seinem Vorwurf, Mittenzwei ließe die Verstrickungen etlicher DDR-Autoren mit der Staatsicherheit in einem allzu milden Licht erscheinen, ohne wenn und aber zuzustimmen ist, so erinnert der Rundumschlag-Duktus fatal an jene Art von Abrechnungsbegehren, die stets viel mit Machtwillen und kaum etwas mit Wahrheitssuche zu schaffen hat.

Nein, Mittenzweis Buch entzweit die Gemüter wie eh und je, denn die Wunden sind frisch, und sie sind tief. Es wird noch einiger Anläufe bedürfen, ehe eine komplexe Darstellung des Verhältnisses zwischen Literatur und Politik in den Deutschländern des 20. Jahrhunderts geschrieben sein wird, in der das Handeln, Sagen und Versagen der Intellektuellen angemessen beleuchtet werden kann. Doch dazu muß man die Blende öffnen und eine längere Belichtungszeit in Kauf nehmen, damit auch Vorder- wie Hintergründe angemessen scharf ins Bild kommen.