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Peter Geist

„In Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben“ – Nach-Denken über eine Anthologie

I

„Es gibt eine andere Welt“ – der Titel dieser Anthologie neuester Lyrik aus Sachsen klingt hochgemut, ist entnommen dem Gedicht „Die sächsische Flut 2002“ von Volker Braun und doch auch programmatisch geborgt von jenem „attac“-Slogan, der den Mächtigen dieser Welt zuerst in Genua 2001 zu ihrem „G8“-Gipfel entgegenscholl. Zivile Courage, zivilisierter demokratischer Protest, zivilisatorische Verantwortlichkeit gegenüber dem Weltzustand  – sind in diesen globalen sozialen Bewegungen womöglich Schnittmengen zuhanden, die mit einer historisch gewachsenen Eigenart sächsischer Kultur, Lebensart und Mentalität zu tun haben? Um dieser Vermutung nachzugehen, erscheint es unabdingbar, an einige kultur- und literaturhistorische Zusammenhänge zu erinnern. Wiewohl die Texte dieser Anthologie fast ausschließlich im 21. Jahrhundert entstanden, sind sie doch eingewoben in eine große und reichhaltige Tradition. Sachsen war seit der frühen Neuzeit eine Kernprovinz deutschsprachiger Poesie. Dass das Wirken Martin Luthers und das Aufblühen von Universität und Verlagslandschaft insbesondere in Leipzig korrelierten, dürfte gemeinhin bekannt sein. Schon weniger, dass die Lebensreise eines der großen deutschen Barockdichter, Paul Fleming, aus dem erzgebirgischen Hartenstein über Mittweida und Leipzig nach Tallinn, Moskau bis an das Kaspische Meer führte. Als 2009 ein Fleming-Lesebuch mit Texten von und über Fleming veröffentlicht wurde, war die Liste der in Sachsen wurzelnden Beiträger, u.a. Volker Braun, Roža Domasčyna, Peter Gosse, Kerstin Hensel, Kito Lorenc, Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher, nicht nur lang, erstaunlich war auch die Intensität, mit der sie sich mit dem lyrischen Werk Flemings ins Vernehmen setzten. Dies nun ist keineswegs einer verlegerischen Laune geschuldet: Flemings melancholiedurchwirkte Vanitas-Dichtung, die sich durch ihre kräftige Subjektivität von den Modeprodukten vieler Zeitgenossen abhob, in Verbindung mit sachter Sprach-Spiel-Lust, Weltneugier und erotischen Meriten, hat die Jahrhunderte überleuchten können. Gerade auch der Sachsen Auszug in die Welt sollte ein Paradigma stiften.  In Gedichten etwa von Peter Gosse, Thomas Rosenlöcher oder Richard Pietraß ist im Changieren zwischen Bodenhaftung, Sprachmäandern und mondialem Begehr fast immer auch ein kräftiger Schuss barocker Ingredienzien à la Fleming schmeckbar. Dieses Zusammensehen ist mit großer Wahrscheinlichkeit verantwortbar für das Phänomen, dass die Wellen rein sprachbezogener Textverfertigung, die seit der Mitte des 20 Jahrhunderts vorzugsweise aus Österreich die deutsche Lyrik überschwemmten, allenfalls Poetiken berühren, nicht aber die Konturen einer Literaturlandschaft bestimmen konnten. Selbst noch die Sprachblätter eines Carlfriedrich Claus durchweht mehr der Geist der Blochschen Utopie als der Wittgensteins.

Als sich im 18. Jahrhundert in den sächsischen Landen Zentren der Aufklärung wie auch des Pietismus herausbildeten, hatte dies weitreichende Folgen: Klangvolle Namen wie Lessing, Gellert, Goethe, Schiller waren von nun an mit der sächsischen Literaturlandschaft verbunden. Die diesen Dichtern eigene Symbiose von Weltläufigkeit, kritischer Reflexion und dem Pochen auf höchste ästhetische Standards sollte über die Jahrhunderte hinweg maßstabsetzend sein, bis hin zur „Sächsischen Dichterschule“ im 20. Jahrhundert und der aktuellen Lyrik. Hinzu kommt, dass sich Leipzig, Dresden und Zwickau seit dem 17. Jahrhundert auch zu Zentren europäischer Kunst- und Musikkultur entwickelten, mit weitreichenden Synergieeffekten im Austausch der Maler, Musiker, Literaten untereinander, aber auch mit tiefergehenden Wirkungen auf die sächsische kulturelle Identität. Von einer „Weichheit  des kulturellen Verlangens, eine(r) Anschmiegsamkeit an große europäische Weltkultur“ spricht treffend Durs Grünbein.

Und noch ein Moment kann nicht außer Acht gelassen werden: Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763, 1813 aufgrund verspäteten Seitenwechsels gegen Napoleon und 1867 in der österreichisch-preußischen Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im sich abzeichnenden Deutschen Reich standen die Sachsen stets auf der Verliererseite. Die damit verbundenen mentalen Prägungen förderten nicht gerade staatstragende Panegyrik, sondern eher Ziviltugenden wie Renitenz und Skepsis gegenüber den Verheißungen der jeweils Herrschenden, und sie verstärkten sicher auch die Momente der Selbstironie und Melancholie,  die dem sächsischen „Gemüt“ nicht ganz zu Unrecht zugeschrieben werden.

Springt man in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist eine lose Dichtergruppierung hervorzuheben, der die Herkunft in den Namen eingeschrieben wurde: Die „Sächsische Dichterschule“ (Adolf Endler) bestimmte seit den sechziger Jahren die hohen ästhetischen Standards der Lyrik aus der DDR und strahlte auch auf die Dichter der nächsten Generation aus, etwa auf Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher und Kerstin Hensel. Wiewohl sie als Gruppe Mitte der siebziger Jahre zerfiel, so war doch schwerlich an der Dichtung – um nur einige Namen zu nennen - der Dresdener Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel, B. K. Tragelehn, des Plaueners Bernd Jentzsch, des Oelsnitzers Reiner Kunze, des Meißener Wulf Kirsten, der Leipziger Peter Gosse und Adel Karasholi vorbeizusehen. Sie verband in ihren poetologischen Maximen der enge Aufeinanderbezug von Leben und Schreiben, von geschichtlicher Vergewisserung, politischem Insistieren, erotischem Begehren, sinnlichem Lebensdetail und ästhetischer Reflexion. Signifikation von erfahrener Welt und immenser Kunstanspruch bildeten eine Einheit. Diese Dichter sind in der vorliegenden Anthologie präsent – wen wundert es bei ihrer anhaltenden Produktivität.

Abschließend sei in dieser kleinen lyrikgeschichtlichen Reihe auf den 2006 gestorbenen Solitär Wolfgang Hilbig verwiesen, dessen Epiphanien der Heillosigkeit, Labyrinthe der Zermarterung, „Saturnische Ellipsen“ mit schier alttestamentarischer Wucht überwältigten. Der hohe, pathosbestimmte Ton des gebürtigen Meuselwitzers hatte bereits in den achtziger Jahren jüngere Lyriker wie Jayne-Ann Igel, Ulrich Zieger oder Tom Pohlmann inspiriert, nun setzt er sich in gewisser Weise in Gedichten von Uwe Tellkamp oder Steffen Popp fort.

 

II

Um die Zusendung neuer Gedichte hatten die Herausgeber Lyrikerinnen und Lyriker gebeten, die entweder in Sachsen geboren, zum Teil auch aufgewachsen waren und die es später woandershin zog, oder die immer schon im Sächsischen lebten, aber auch jene, die erst in den letzten Jahren dort ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. Diese Anthologie ist also schwerlich als eine von „Heimatdichtern“ zu apostrophieren, zumal das sächsische Idiom allenfalls als Zitat in das Gedicht hereinklingt  - dann aber kräftig, man sehe bei Kerstin Hensel oder Volker Braun nach. Die Liste der „Weggegangenen“ indes ist lang, und sie ist mitnichten vorwiegend der landestypischen Umtriebigkeit geschuldet. Vielmehr spiegeln sich in den Umständen der Ortsentfernungen die geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts.  Peter Härtling oder  Guntram Vesper trieb es in der Nachkriegszeit als junge Menschen in Richtung Westen, wo sie mit großem Erfolg ihre beruflichen und literarischen Karrieren starteten. Eine andere Gruppe von Autoren eint das düstere Schicksal, in die Fänge des politischen Strafrechts in der DDR geraten zu sein: Ulrich Schacht, Siegfried Heinrichs, Siegmar Faust, Utz Rachowski, Jürgen Israel, Andreas Reimann, Gerald Zschorsch, Salli Sallmann saßen in den sechziger bzw. siebziger Jahren aus politischen Gründen in DDR-Gefängnissen ein – eine einschneidende Erfahrung, die sich auch in ihrem lyrischen Werk spiegelt. Sie wurden – bis auf Andreas Reimann und Jürgen Israel, die sich für ein Bleiben in Leipzig entschieden - von der Bundesrepublik freigekauft und von ihr aufgenommen. Wieder  andere Autoren wie Reiner Kunze, Bernd Jentzsch, Bernd Wagner wurden in den kulturpolitischen Turbulenzen um die Biermann-Ausbürgerung 1976 mehr oder minder freiwillig zur Ausreise bewogen. In Volker Brauns Gedicht „Dresden als Landschaft“ aus den achtziger Jahren heißt es: „Mickel Czechowski Braun Tragelehn / Exilieren nach Preußen“ – in den Berliner „Transitraum“ (Durs Grünbein) sollten nach ihnen besonders viele der jüngeren Lyriker folgen. Andere verschlug es in die USA (Gabriele Eckart), nach Schweden (Ulrich Schacht), nach Darmstadt (Kurt Drawert) oder Montpellier (Ulrich Zieger). Und selbstredend sind viele der Beiträger seit Jahrzehnten im sächsischen und sorbischen Raum ansässig geblieben.

Diese Anthologie ist in gewisser Hinsicht eine Autorenanthologie: Die Herausgeber wählten nicht aus Gedichtbänden aus, sondern baten Dichterinnen und Dichter um neue Texte, aus denen sie höchstens vier für die Sammlung auswählten. Diese Beschränkung bot die Möglichkeit, ein Spektrum sächsischer Lyrik  zu präsentieren, das auch Entdeckungen zulässt, gerade wenn ein Autorenname zunächst nicht vertraut erscheint. So ergeben sich unvermutete Korrespondenzen, die der Leselust überlassen bleiben mögen, zumal Andreas Altmann und Axel Helbig sich für eine grobe Binnenordnung nach Motiven entschieden, so dass motivähnliche Gedichte in der Lektüre gleichsam in ein Gespräch eintreten können.

III

Lyrik als gebundene Rede in Versen ist inkommensurabler Gedächtnisort, Traumspeicher, Sprachkonzentrat von Wahrnehmung, Empfindung, Vision und Reflexion, ist auch „Anderswelt“ (Alban Nikolai Herbst), auf jeden Fall aber auf ein „Vernehmen aus“ (Paul Celan). Fragen wir also nach Selbst-Vergewisserungen und Welten in der Lyrik, nach Erkundigungen und Erkundungen sächsischer Poesie im 21. Jahrhundert, wie sie diese Zusammenstellung offeriert. Da Gedichte aufeinander reagieren, in Rudeln auftreten und als Sammlung im besten Falle etwas unterscheidbar Charakteristisches vermitteln, ist durchaus die Distinktion unterlegt, inwieweit dieser Poetenladen von einer Anthologie deutscher Gegenwartslyrik sich abheben würde. Auf den ersten Blick dünkt ein solches Unterfangen entmutigend: Zu viele der vertretenen Autoren repräsentieren die deutschsprachige Gegenwartsdichtung schlechthin: Thomas Böhme, Volker Braun, Kurt Drawert, Peter Gosse, Durs Grünbein, Kerstin Hensel,  Wolfgang Hilbig, Wulf Kirsten, Barbara Köhler, Thomas Kunst, Reiner Kunze, Richard Pietraß, Andreas Reimann und etliche andere sind längst von Standardanthologien wie dem „Conrady“ oder dem „Echtermeyer“ kanonisiert. In dieser Anthologie aber entstehen andere Kontexte, die weniger auf Repräsentativität denn auf Authentizität verweisen, und sie entstehen durch eine bemerkenswerte Stimmenvielfalt, in der auch ganz neue Stimmen vernommen werden wollen. Auf einige wiederkehrende, tragende oder grundierende Motive und Intentionsbögen sei deshalb aufmerksam gemacht.

Schon in den siebziger und achtziger Jahren ließen Gedichte sächsischer Autoren aufhorchen, die die Verheerungen der mitteldeutschen Braunkohlenlandschaft als Großmetapher für die Gefährdung unserer Zivilisation aufgriffen. Volker Brauns „Bodenloser Satz“ oder Wolfgang Hilbigs geschichtssattes „das meer in sachsen“, das nicht zufällig der Anthologie vorangestellt ist, umkreisen eindringlich die finalen Konsequenzen von Natur-und Selbstverwundung des Menschen im Namen des Fortschritts. Hilbigs Großgedicht endet mit den apokalyptisch anmutenden Versen: „ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat.“ Gewiss, die Rekultivierungsprojekte in den Tagebaulandschaften, die Rekonstruktion der historischen Bausubstanzen in sächsischen Städten nach 1990 hatten diese düsteren Befunde in den neunziger Jahren in den Hintergrund von DDR-Geschichte treten lassen. In Texten nach dem Jahr 2000 sind sie allerdings wieder als durchscheinende Folie präsent. Was ist passiert? Nach den Wellen der Deindustrialisierung und der Einverleibung ehemals staatlicher Ländereien, Immobilien, Produktionsmittel durch Nicht-Ostdeutsche in den neunziger Jahren trat nun ein neues Moment hinzu: Der neoliberale Globalisierungsfuror potenzierte die existentielle Befindung von Unbehaustheit. Es ist auffällig, wie oft und wie dringlich dieses nun globalisierte Unbehagen in Gedichte eingeschrieben ist, die das Verhältnis von sprechendem Ich und Welt ausloten. Durs Grünbein fand hierfür das eindrucksvolle Bild vom – so auch der Titel des Gedichts - „Astronaut im Oktober“, das anhebt:

„Er war weit draußen, wochenlang im Schwerelosen,

Wo er nicht heimisch wurde zwischen Kabeln und Modulen.

Hamster im Laufrad auf milliardenteurer Raumstation,

Trieb ihn ein Wort nur um: Mission, Mission.

Nun kehrt er wieder in die Welt, so wie sie ist. Verkorkst,

Und kein Stück besser als die Welt, die er verließ.

(…)“

Das Wort „Mission“ ist im Gedichtkontext von jeder missionarischen, visionären oder utopischen Konnotation bereinigt und ganz auf pragmatische Funktionalität heruntergedimmt. Da aber mal ein Anspruch da war auf eine gerechtere, menschengemäße Welt, ein Anspruch, der gerade in Sachsen im Herbst 1989 freudigste Lebenserfahrung war, fallen Resümees auch bei anderen Dichtern vergleichbar düster aus: „Schwarz fährt die Hoffnung und weiß nicht / Wo steigt sie aus“, heißt es bei Kerstin Hensel, und Radjo Monk konstatiert in „Stellung Eine Welt“: „Die Frage, woher das Dunkel gekommen ist, bohrt sich in den Augenblick und / dehnt ihn bis zum Südpol“. Ulrich Zieger nimmt Hilbigsche Motive direkt auf und deklamiert in biblischem Ton: „was für ein meer der bezichtigung, / der zerbrochenen tontafeln und der zersprungenen sprachen“. „Welt entwundert“ (Volker Braun) allenthalben. Gerät dabei die nähere Landschaft in den Blick, sind sowohl die verrotteten sowjetischen Truppenübungsplätze (Ulrike Almut Sandig, Thomas Rosenlöcher) als auch die Abbrucharbeiten der letzten beiden Dezennien zu besichtigen, etwa bei Jayne-Ann Igel, Ralph Grüneberger oder Andreas Altmann: „die nahe fabrik ist geräumt. Und / die mauern beginnen, sich ein geheimnis zu suchen. / es wird erzählt, sie haben maschinen im see versenkt.(…)“. Es sind luzide, oft traumdurchwirkte Textlandschaften, die nicht von ungefähr einen Hilbigschen Ton aufnehmen. Durchaus im Gegensatz zur neuen Berliner Naturlyrik (Monika Rinck, Ron Winkler u.a.), die es sich leisten kann, angesichts weitgehend intakter Natur in der näheren Umgebung ihr Zeichenreservoir für eher philosophische Konstellationen des Mensch-Natur-Verhältnisses in ihren Verkehrungen zu aquirieren.

An vielen Gedichten fällt auf, dass, wenn die rasanten Umbauten von Landschaften und Biographien nach 1990 in den Fokus geraten, dem Irrwitz der Geschichte mit allen Spielarten des Komischen, von feingezeichneter Ironie bis zum schrillen Hohnlachen, begegnet wird. Sarkastisch etwa B.K. Tragelehn: „Shoppen und Ficken goldener Zeitvertreib / Dauernd der Lärm die Stille rasend Wer / Niemals zuvor gelacht hat lacht jetzt sehr / Und wer stets lachte lacht jetzt um so mehr“. Ironisch, mit Seitenblick auf Hilbigs „das meer in sachsen“, Thomas Kunst : „In Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben: / Das Meer nimmt hier am Bahndamm seine letzte Hürde, / Ich ahme den Gang von Fliegen nach und werde weise.“ Ach, Böhmen am Meer (Shakespeare/Bachmann) und Sachsen auch,  und immer noch befeuert das Urbild ozeanischer Entgrenzung die Imagination jüngerer Lyriker: „ wenn sich ein wind erhebt / und die planen in deinen straßen / wie segel gegen die fassaden schlagen, / dann ist es, /als wolltest du davon fliegen, / fort von dieser trübnis, / fort von dieser vergangenheit / und stadt am meer sein, / mit schonern im azur, / statt kraftwerken am horizont.“ (André Hille, leipzig 3). Nur, es kann eben kein schnelles „fort von dieser vergangenheit“ geben.  Wenn Uwe Johnsons Kontrapunkt zu Ernst Bloch wahr ist, dass „Heimat ist, wo die Erinnerung Bescheid weiß“, dann nehmen viele Autoren die Bürde einer damit verbundenen Beunruhigungsarbeit auf sich, um ein Stück weit Heimat wiederzugewinnen. Sei es das lyrische Erinnern an Kindheitsorte wie „Frohburg, von Manhattan aus“ (Guntram Vesper), an den „russenwald“ (Ulrike Almut Sandig), sei es ein „Besuch in Hartmannsdorf (Sachsen) nach vierzig Jahren“ (Peter Härtling). Gleichnamiges Gedicht hebt mit den Versen an: „Da wirft meine

Vergangenheit / einen Kinderschatten. / Ihr habt ihn / nicht wachsen sehn. /(…)“.

Bemerkenswert ist auch die Vielzahl von Epitaphen auf verehrte Dichter: Auf Bernd-Dieter Hüge (André Schinkel), Heinz Czechowski (Walther Petri), Heiner Müller (B. K. Tragelehn) und gleich vier Gedichtnachrufe auf Wolfgang Hilbig (Jürgen Israel, Thomas Kunst, Siegmar Faust, Jörg Seifert). Benannt werden müssen aber auch Wunden, die sich nicht nicht schließen lassen, die Zerstörung Dresdens etwa (bei Volker Braun, Heinz Czechowski, Christian Lehnert),  Erfahrungen der Überwachung, des Verrats, von Gefängnis in der DDR, wie sie in Gedichten von Utz Rachowski, Bernd Jentzsch, Andreas Reimann oder hier bei Siegfried Heinrichs  aufgerufen werden:

„(…)

Traurig ist mein Weib, traurig, weil ich nur

Verse schreibe

und mehr nicht;

Verse vom erschossenen Vater,

vom Verrat des Bruders, den Verhören, Gefängnissen

und den Jahren, später, im Dorf,

und den Städten, später,

und den Frauen, später,

die nicht verrieten,

(…)“

Einen breiten Raum in dieser Anthologie nehmen poetische „Ausfahrten“ ein. Warum das so ist, darüber kann nur gemutmaßt werden. Sicher, „der Sachse liebt das Reisen sehr“, verkündete schon das allbekannte „Sachsenlied“ von Jürgen Hart aus den achtziger Jahren. Ob „Libellen in Liberia“ (Durs Grünbein), das „Seouler Straßenbild“ (Reiner Kunze), ein „Brief vom Yukon“ (Gregor Kunz) oder „Die Unstrut bei Naumburg“ (Volker Ebersbach) die lyrische Phantasie entzünden – um versifizierte Reisepostkarten handelt es sich dabei in den wenigsten Fällen. Vielmehr befördert die Erfahrung der Fremde existentielles Innehalten und neugierige Kontaktnahme mit der anderen Kultur. Es ist sicher kein Zufall, dass dabei gerade dem unmittelbar östlichen Nachbarn größte Aufmerksamkeit zuteil wird, etwa in Gedichten von Kristian Pech, Undine Materni, Róža Domašcyna.

Traditionell haben Ausfahrten in die Natur einen festen Platz in der sächsischen Lyrik, man denke nur an die Dresdener Zeitschrift „Die Kolonne“, die zwischen 1929 und 1932 zu einem Zentrum der deutschen Naturlyrik avancierte. Akzentuierten die Lyriker in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Natur als „durchgearbeitete Landschaft“ (Georg Maurer), in den achtziger Jahren im Warngedicht die ökologischen Katastrophen der Spät-DDR, so erscheint Natur in den neuen Gedichten wieder vorzugsweise als Kontemplationsraum, wenn sie nicht, den Schmerz der Entfremdung in Worte fassend, als „ein unter die Gürtelfederlinie gehender Scherz“ (Saskia Fischer) apostrophiert wird. Charakteristisch für eine in etlichen Gedichten zuhandene Auratisierung im Verhältnis zur Natur sind etwa Verse aus einem Gedicht von Ulrich Schacht: „(…) / das ist der Traum, der sich / verspielt im Schauen: auf reines / Licht und abgrundlosen / Schein ein Bild an dem wir / uns erbauen: Nur um zu / sein.“ Die zu beobachtende Wiederkehr des Erhabenheits-Gestus` in der Naturlyrik ist aber weniger, wie im 18. Jahrhundert, der Feier der Natur geschuldet, denn nicht unberechtigten Verlustängsten, derweil das Zerstörungswerk an unserer inneren und äußeren Natur jenseits kosmetischer Beruhigungen ungebremst weitermahlt. ich kann nicht erkennen, ist es die Welt / in ihrem Sinken, die dieses Garn aus meiner Haut zieht / oder nur ein verlorener Dämon / ein Plastikreptil aus den Jahren der Kindheit.“, heißt es schlusshin im Gedicht „Diese Erinnerung endet am Meer“ von Steffen Popp.

Es wäre unberaten, dieses Stöbern in den Schätzen der Anthologie zu beenden, ohne wenigsten auf die gelungene Fortführung einer Tradition sächsischer Dichtung seit dem Barock zu verweisen: So wie sich im wachen Sprach-Einholen von alltäglicher Wahrnehmung in der Gedicht-Versammlung Eine Perle aus dem Rätsel meines Fleisches brach eine ungebrochene Sensualität fortschreibt, die bezüglich ihrer meist zugezogenen Verfasser bereits als „Neue Leipziger Schule“ (Lars Reiher, Carl-Christian Elze, Kerstin Preiwuß, Sandra Trojan, Martina Hefter u.a.) delektiert wurde, so sinnenprall begegnet die neuere erotische Dichtung aus sächsischen Gefilden. Es gibt ja nicht von ungefähr das geflügelte Wort, wonach in „Sachsen die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen“. Peter Gosse, der sich immer schon nicht scheute, an das Sprachtänzelnde der Barock- und Manierismus-Lyrik anzuknüpfen, zelebriert die Feier des Erotischen: „(…) Da Du die Hohest-Erregung in das Mysterium lila / Aufblauend aufgehen sahst, sahe, geblendet, auch ich.“, heißt es in „Siebthimmel“. Oder Gerald Zschorsch, der in „Spätsommer“ apodiktisch meißelt: „(…) / Wer Schönheit trägt, verliert das Herz. / Wer Schönheit sieht, gewinnt eines. // Sie schrie, wie eine Schwalbe segelt.“

Hier nun kann ein Bogen gerundet werden mit Versen aus einem der großen Gedichte aus dem neuen Jahrtausend, die gleichsam zusammenziehen, was das Unverwechselbare dieser Anthologie auszeichnet: dass sich plebejische Haltung und höchster Kunstanspruch, Geschichtsbewusstein und Aufmerksamkeit für Lebensmomente, pure Sinnlichkeit und philosophisches Zweifeln, melancholische Ironie und visionäres Trotzdem im Gedicht verbünden können. Es sind Verse aus Volker Brauns atemraubenden Gedicht „Die sächsische Flut 2002“, denen der anspruchsvolle Titel dieser Blütenlese entnommen wurde:

„(…)

Die Landschaft der Liebe Schlamm

Auf den Laken.

Und Dresdens feuertrunkene Tote

Schwimmen nach oben wassersüchtig

So rasch gommdr ni davon/Im Lehm und Tod ni

ES GIBT EINE ANDERE WELT und so sieht sie aus;

Die albträumende Menschheit

Wir Menschen sind nah am Wasser gebaut

Und verdichten den Boden

Undurchlässigste

Kreaturen.

(…)“