Peter
Geist „In
Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben“ – Nach-Denken über
eine Anthologie I „Es gibt eine andere Welt“ –
der Titel dieser Anthologie neuester Lyrik aus Sachsen klingt hochgemut, ist
entnommen dem Gedicht „Die sächsische Flut 2002“ von Volker Braun und doch
auch programmatisch geborgt von jenem „attac“-Slogan, der den Mächtigen
dieser Welt zuerst in Genua 2001 zu ihrem „G8“-Gipfel entgegenscholl. Zivile
Courage, zivilisierter demokratischer Protest, zivilisatorische
Verantwortlichkeit gegenüber dem Weltzustand
– sind in diesen globalen sozialen Bewegungen womöglich Schnittmengen
zuhanden, die mit einer historisch gewachsenen Eigenart sächsischer Kultur,
Lebensart und Mentalität zu tun haben? Um dieser Vermutung nachzugehen,
erscheint es unabdingbar, an einige kultur- und literaturhistorische Zusammenhänge
zu erinnern. Wiewohl die Texte dieser Anthologie fast ausschließlich im 21.
Jahrhundert entstanden, sind sie doch eingewoben in eine große und reichhaltige
Tradition. Sachsen war seit der frühen Neuzeit eine Kernprovinz
deutschsprachiger Poesie. Dass das Wirken Martin Luthers und das Aufblühen von
Universität und Verlagslandschaft insbesondere in Leipzig korrelierten, dürfte
gemeinhin bekannt sein. Schon weniger, dass die Lebensreise eines der großen
deutschen Barockdichter, Paul Fleming, aus dem erzgebirgischen Hartenstein über
Mittweida und Leipzig nach Tallinn, Moskau bis an das Kaspische Meer führte.
Als 2009 ein Fleming-Lesebuch mit Texten von und über Fleming veröffentlicht
wurde, war die Liste der in Sachsen wurzelnden Beiträger, u.a. Volker Braun, Roža
Domasčyna, Peter Gosse, Kerstin Hensel, Kito Lorenc, Richard Pietraß,
Thomas Rosenlöcher, nicht nur lang, erstaunlich war auch die Intensität, mit
der sie sich mit dem lyrischen Werk Flemings ins Vernehmen setzten. Dies nun ist
keineswegs einer verlegerischen Laune geschuldet: Flemings
melancholiedurchwirkte Vanitas-Dichtung, die sich durch ihre kräftige
Subjektivität von den Modeprodukten vieler Zeitgenossen abhob, in Verbindung
mit sachter Sprach-Spiel-Lust, Weltneugier und erotischen Meriten, hat die
Jahrhunderte überleuchten können. Gerade auch der Sachsen Auszug in die Welt
sollte ein Paradigma stiften. In
Gedichten etwa von Peter Gosse, Thomas Rosenlöcher oder Richard Pietraß ist im
Changieren zwischen Bodenhaftung, Sprachmäandern und mondialem Begehr fast
immer auch ein kräftiger Schuss barocker Ingredienzien à la Fleming
schmeckbar. Dieses Zusammensehen ist mit großer Wahrscheinlichkeit
verantwortbar für das Phänomen, dass die Wellen rein sprachbezogener
Textverfertigung, die seit der Mitte des 20 Jahrhunderts vorzugsweise aus Österreich
die deutsche Lyrik überschwemmten, allenfalls Poetiken berühren, nicht aber
die Konturen einer Literaturlandschaft bestimmen konnten. Selbst noch die
Sprachblätter eines Carlfriedrich Claus durchweht mehr der Geist der Blochschen
Utopie als der Wittgensteins. Als sich im 18. Jahrhundert in den
sächsischen Landen Zentren der Aufklärung wie auch des Pietismus
herausbildeten, hatte dies weitreichende Folgen: Klangvolle Namen wie Lessing,
Gellert, Goethe, Schiller waren von nun an mit der sächsischen
Literaturlandschaft verbunden. Die diesen Dichtern eigene Symbiose von Weltläufigkeit,
kritischer Reflexion und dem Pochen auf höchste ästhetische Standards sollte
über die Jahrhunderte hinweg maßstabsetzend sein, bis hin zur „Sächsischen
Dichterschule“ im 20. Jahrhundert und der aktuellen Lyrik. Hinzu kommt, dass
sich Leipzig, Dresden und Zwickau seit dem 17. Jahrhundert auch zu Zentren europäischer
Kunst- und Musikkultur entwickelten, mit weitreichenden Synergieeffekten im
Austausch der Maler, Musiker, Literaten untereinander, aber auch mit
tiefergehenden Wirkungen auf die sächsische kulturelle Identität. Von einer
„Weichheit des
kulturellen Verlangens, eine(r) Anschmiegsamkeit an große europäische
Weltkultur“ spricht treffend Durs Grünbein. Und noch ein Moment kann nicht außer Acht gelassen
werden: Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763, 1813 aufgrund verspäteten
Seitenwechsels gegen Napoleon und 1867 in der österreichisch-preußischen
Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im sich abzeichnenden Deutschen Reich
standen die Sachsen stets auf der Verliererseite. Die damit verbundenen mentalen
Prägungen förderten nicht gerade staatstragende Panegyrik, sondern eher
Ziviltugenden wie Renitenz und Skepsis gegenüber den Verheißungen der jeweils
Herrschenden, und sie verstärkten sicher auch die Momente der Selbstironie und
Melancholie, die dem sächsischen
„Gemüt“ nicht ganz zu Unrecht zugeschrieben werden. Springt man in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts,
ist eine lose Dichtergruppierung hervorzuheben, der die Herkunft in den Namen
eingeschrieben wurde: Die „Sächsische Dichterschule“ (Adolf Endler)
bestimmte seit den sechziger Jahren die hohen ästhetischen Standards der Lyrik
aus der DDR und strahlte auch auf die Dichter der nächsten Generation aus, etwa
auf Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher und Kerstin Hensel. Wiewohl sie als
Gruppe Mitte der siebziger Jahre zerfiel, so war doch schwerlich an der Dichtung
– um nur einige Namen zu nennen - der Dresdener Volker Braun, Heinz Czechowski,
Karl Mickel, B. K. Tragelehn, des Plaueners
Bernd Jentzsch, des Oelsnitzers Reiner Kunze, des Meißener Wulf Kirsten, der
Leipziger Peter Gosse und Adel Karasholi vorbeizusehen. Sie
verband in ihren poetologischen Maximen der enge Aufeinanderbezug von Leben und
Schreiben, von geschichtlicher Vergewisserung, politischem Insistieren,
erotischem Begehren, sinnlichem Lebensdetail und ästhetischer Reflexion.
Signifikation von erfahrener Welt und immenser Kunstanspruch bildeten eine
Einheit. Diese Dichter sind in der vorliegenden Anthologie präsent – wen
wundert es bei ihrer anhaltenden Produktivität. Abschließend sei in dieser kleinen lyrikgeschichtlichen Reihe auf den 2006
gestorbenen Solitär Wolfgang Hilbig verwiesen, dessen Epiphanien
der Heillosigkeit, Labyrinthe der Zermarterung, „Saturnische Ellipsen“ mit
schier alttestamentarischer Wucht überwältigten. Der hohe, pathosbestimmte Ton
des gebürtigen Meuselwitzers hatte bereits in den achtziger Jahren jüngere
Lyriker wie Jayne-Ann Igel, Ulrich Zieger oder Tom Pohlmann inspiriert, nun
setzt er sich in gewisser Weise in Gedichten von Uwe Tellkamp oder Steffen Popp
fort. II Um die Zusendung neuer Gedichte
hatten die Herausgeber Lyrikerinnen und Lyriker gebeten, die entweder in Sachsen
geboren, zum Teil auch aufgewachsen waren und die es später woandershin zog,
oder die immer schon im Sächsischen lebten, aber auch jene, die erst in den
letzten Jahren dort ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. Diese Anthologie
ist also schwerlich als eine von „Heimatdichtern“ zu apostrophieren, zumal
das sächsische Idiom allenfalls als Zitat in das Gedicht hereinklingt
- dann aber kräftig, man sehe bei Kerstin Hensel oder Volker Braun nach.
Die Liste der „Weggegangenen“ indes ist lang, und sie ist mitnichten
vorwiegend der landestypischen Umtriebigkeit geschuldet. Vielmehr spiegeln sich
in den Umständen der Ortsentfernungen die geschichtlichen Verwerfungen des 20.
Jahrhunderts. Peter Härtling oder
Guntram Vesper trieb es in der Nachkriegszeit als junge Menschen in
Richtung Westen, wo sie mit großem Erfolg ihre beruflichen und literarischen
Karrieren starteten. Eine andere Gruppe von Autoren eint das düstere Schicksal,
in die Fänge des politischen Strafrechts in der DDR geraten zu sein: Ulrich
Schacht, Siegfried Heinrichs, Siegmar Faust, Utz Rachowski, Jürgen Israel,
Andreas Reimann, Gerald Zschorsch, Salli Sallmann saßen in den sechziger bzw.
siebziger Jahren aus politischen Gründen in DDR-Gefängnissen ein – eine
einschneidende Erfahrung, die sich auch in ihrem lyrischen Werk spiegelt. Sie
wurden – bis auf Andreas Reimann und Jürgen Israel, die sich für ein Bleiben
in Leipzig entschieden - von der Bundesrepublik freigekauft und von ihr
aufgenommen. Wieder andere Autoren
wie Reiner Kunze, Bernd Jentzsch, Bernd Wagner wurden in den kulturpolitischen
Turbulenzen um die Biermann-Ausbürgerung 1976 mehr oder minder freiwillig zur
Ausreise bewogen. In Volker Brauns Gedicht „Dresden als
Landschaft“ aus den achtziger Jahren heißt es: „Mickel Czechowski Braun
Tragelehn / Exilieren nach Preußen“ – in den Berliner „Transitraum“ (Durs
Grünbein) sollten nach ihnen besonders viele der jüngeren Lyriker folgen.
Andere verschlug es in die USA (Gabriele Eckart), nach Schweden (Ulrich
Schacht), nach Darmstadt (Kurt Drawert) oder Montpellier (Ulrich Zieger). Und
selbstredend sind viele der Beiträger seit Jahrzehnten im sächsischen und
sorbischen Raum ansässig geblieben. Diese Anthologie ist in gewisser
Hinsicht eine Autorenanthologie: Die Herausgeber wählten nicht aus Gedichtbänden
aus, sondern baten Dichterinnen und Dichter um neue Texte, aus denen sie höchstens
vier für die Sammlung auswählten. Diese Beschränkung bot die Möglichkeit,
ein Spektrum sächsischer Lyrik zu
präsentieren, das auch Entdeckungen zulässt, gerade wenn ein Autorenname zunächst
nicht vertraut erscheint. So ergeben sich unvermutete Korrespondenzen, die der
Leselust überlassen bleiben mögen, zumal Andreas Altmann und Axel Helbig sich
für eine grobe Binnenordnung nach Motiven entschieden, so dass motivähnliche
Gedichte in der Lektüre gleichsam in ein Gespräch eintreten können. III Lyrik als gebundene Rede in Versen
ist inkommensurabler Gedächtnisort, Traumspeicher, Sprachkonzentrat von
Wahrnehmung, Empfindung, Vision und Reflexion, ist auch „Anderswelt“ (Alban
Nikolai Herbst), auf jeden Fall aber auf ein „Vernehmen aus“ (Paul Celan).
Fragen wir also nach Selbst-Vergewisserungen
und Welten in der Lyrik, nach Erkundigungen und Erkundungen
sächsischer Poesie im 21. Jahrhundert, wie sie diese Zusammenstellung
offeriert. Da Gedichte aufeinander reagieren, in Rudeln auftreten und als
Sammlung im besten Falle etwas unterscheidbar Charakteristisches vermitteln, ist
durchaus die Distinktion unterlegt, inwieweit dieser Poetenladen von einer
Anthologie deutscher Gegenwartslyrik sich abheben würde. Auf den ersten Blick dünkt
ein solches Unterfangen entmutigend: Zu viele der vertretenen Autoren repräsentieren
die deutschsprachige Gegenwartsdichtung schlechthin: Thomas Böhme, Volker
Braun, Kurt Drawert, Peter Gosse, Durs Grünbein, Kerstin Hensel,
Wolfgang Hilbig, Wulf Kirsten, Barbara Köhler, Thomas Kunst, Reiner
Kunze, Richard Pietraß, Andreas Reimann und etliche andere sind längst von
Standardanthologien wie dem „Conrady“ oder dem „Echtermeyer“
kanonisiert. In dieser Anthologie aber entstehen andere Kontexte, die weniger
auf Repräsentativität denn auf Authentizität verweisen, und sie entstehen
durch eine bemerkenswerte Stimmenvielfalt, in der auch ganz neue Stimmen
vernommen werden wollen. Auf einige wiederkehrende, tragende oder grundierende
Motive und Intentionsbögen sei deshalb aufmerksam gemacht. Schon in den siebziger und
achtziger Jahren ließen Gedichte sächsischer Autoren aufhorchen, die die
Verheerungen der mitteldeutschen Braunkohlenlandschaft als Großmetapher für
die Gefährdung unserer Zivilisation aufgriffen. Volker Brauns „Bodenloser
Satz“ oder Wolfgang Hilbigs geschichtssattes „das meer in sachsen“, das
nicht zufällig der Anthologie vorangestellt ist, umkreisen eindringlich die
finalen Konsequenzen von Natur-und Selbstverwundung des Menschen im Namen des
Fortschritts. Hilbigs Großgedicht endet mit den apokalyptisch anmutenden
Versen: „ich weiß das meer kommt
wieder nach sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat.“ Gewiss,
die Rekultivierungsprojekte in den Tagebaulandschaften, die Rekonstruktion der
historischen Bausubstanzen in sächsischen Städten nach 1990 hatten diese düsteren
Befunde in den neunziger Jahren in den Hintergrund von DDR-Geschichte treten
lassen. In Texten nach dem Jahr 2000 sind sie allerdings wieder als
durchscheinende Folie präsent. Was ist passiert? Nach den Wellen der
Deindustrialisierung und der Einverleibung ehemals staatlicher Ländereien,
Immobilien, Produktionsmittel durch Nicht-Ostdeutsche in den neunziger Jahren
trat nun ein neues Moment hinzu: Der neoliberale Globalisierungsfuror
potenzierte die existentielle Befindung von Unbehaustheit. Es ist auffällig,
wie oft und wie dringlich dieses nun globalisierte Unbehagen in Gedichte
eingeschrieben ist, die das Verhältnis von sprechendem Ich und Welt ausloten.
Durs Grünbein fand hierfür das eindrucksvolle Bild vom – so auch der Titel
des Gedichts - „Astronaut im Oktober“, das anhebt: „Er war weit draußen,
wochenlang im Schwerelosen, Wo er nicht heimisch
wurde zwischen Kabeln und Modulen. Hamster im Laufrad auf
milliardenteurer Raumstation, Trieb ihn ein Wort nur
um: Mission, Mission. Nun kehrt er wieder in
die Welt, so wie sie ist. Verkorkst, Und kein Stück besser
als die Welt, die er verließ. (…)“ Das Wort „Mission“ ist im Gedichtkontext von jeder missionarischen,
visionären oder utopischen Konnotation bereinigt und ganz auf pragmatische
Funktionalität heruntergedimmt. Da aber mal ein Anspruch da war auf eine
gerechtere, menschengemäße Welt, ein Anspruch, der gerade in Sachsen im Herbst
1989 freudigste Lebenserfahrung war, fallen Resümees auch bei anderen Dichtern
vergleichbar düster aus: „Schwarz fährt die Hoffnung und weiß nicht / Wo
steigt sie aus“, heißt es bei Kerstin Hensel, und Radjo Monk konstatiert in
„Stellung Eine Welt“: „Die Frage, woher das Dunkel gekommen ist, bohrt
sich in den Augenblick und / dehnt ihn bis zum Südpol“. Ulrich Zieger nimmt
Hilbigsche Motive direkt auf und deklamiert in biblischem Ton: „was für ein
meer der bezichtigung, / der zerbrochenen tontafeln und der zersprungenen
sprachen“. „Welt entwundert“ (Volker Braun) allenthalben. Gerät dabei die
nähere Landschaft in den Blick, sind sowohl die verrotteten sowjetischen
Truppenübungsplätze (Ulrike Almut Sandig, Thomas Rosenlöcher) als auch die
Abbrucharbeiten der letzten beiden Dezennien zu besichtigen, etwa bei Jayne-Ann
Igel, Ralph Grüneberger oder Andreas Altmann: „die nahe fabrik ist geräumt.
Und / die mauern beginnen, sich ein geheimnis zu suchen. / es wird erzählt, sie
haben maschinen im see versenkt.(…)“. Es sind luzide, oft traumdurchwirkte
Textlandschaften, die nicht von ungefähr einen Hilbigschen Ton aufnehmen.
Durchaus im Gegensatz zur neuen Berliner Naturlyrik (Monika Rinck, Ron Winkler
u.a.), die es sich leisten kann, angesichts weitgehend intakter Natur in der näheren
Umgebung ihr Zeichenreservoir für eher philosophische Konstellationen des
Mensch-Natur-Verhältnisses in ihren Verkehrungen zu aquirieren. An vielen Gedichten fällt
auf, dass, wenn die rasanten Umbauten von Landschaften und Biographien nach 1990
in den Fokus geraten, dem Irrwitz der Geschichte mit allen Spielarten des
Komischen, von feingezeichneter Ironie bis zum schrillen Hohnlachen, begegnet
wird. Sarkastisch etwa B.K. Tragelehn: „Shoppen und Ficken goldener
Zeitvertreib / Dauernd der Lärm die Stille rasend Wer / Niemals zuvor gelacht
hat lacht jetzt sehr / Und wer stets lachte lacht jetzt um so mehr“. Ironisch,
mit Seitenblick auf Hilbigs „das meer in sachsen“, Thomas Kunst : „In
Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben: / Das Meer nimmt hier am
Bahndamm seine letzte Hürde, / Ich ahme den Gang von Fliegen nach und werde
weise.“ Ach, Böhmen am Meer (Shakespeare/Bachmann) und Sachsen auch,
und immer noch befeuert das Urbild ozeanischer Entgrenzung die
Imagination jüngerer Lyriker: „ wenn sich ein wind erhebt / und die planen in
deinen straßen / wie segel gegen die fassaden schlagen, / dann ist es, /als
wolltest du davon fliegen, / fort von dieser trübnis, / fort von dieser
vergangenheit / und stadt am meer sein, / mit schonern im azur, / statt
kraftwerken am horizont.“ (André Hille, leipzig 3). Nur, es kann eben kein
schnelles „fort von dieser vergangenheit“ geben.
Wenn Uwe Johnsons Kontrapunkt zu Ernst Bloch wahr ist, dass „Heimat
ist, wo die Erinnerung Bescheid weiß“, dann nehmen viele Autoren die Bürde
einer damit verbundenen Beunruhigungsarbeit auf sich, um ein Stück weit Heimat
wiederzugewinnen. Sei es das lyrische Erinnern an Kindheitsorte wie „Frohburg,
von Manhattan aus“ (Guntram Vesper), an den „russenwald“ (Ulrike Almut
Sandig), sei es ein „Besuch in Hartmannsdorf (Sachsen) nach vierzig Jahren“
(Peter Härtling). Gleichnamiges Gedicht hebt mit den Versen an: „Da wirft
meine Vergangenheit / einen
Kinderschatten. / Ihr habt ihn / nicht wachsen sehn. /(…)“. Bemerkenswert ist auch
die Vielzahl von Epitaphen auf verehrte Dichter: Auf Bernd-Dieter Hüge (André
Schinkel), Heinz Czechowski (Walther Petri), Heiner Müller (B. K. Tragelehn)
und gleich vier Gedichtnachrufe auf Wolfgang Hilbig (Jürgen Israel, Thomas
Kunst, Siegmar Faust, Jörg Seifert). Benannt werden müssen aber auch Wunden,
die sich nicht nicht schließen lassen, die Zerstörung Dresdens etwa (bei
Volker Braun, Heinz Czechowski, Christian Lehnert),
Erfahrungen der Überwachung, des Verrats, von Gefängnis in der DDR, wie
sie in Gedichten von Utz Rachowski, Bernd Jentzsch, Andreas Reimann oder hier
bei Siegfried Heinrichs aufgerufen
werden: „(…) Traurig ist mein Weib,
traurig, weil ich nur Verse schreibe und mehr nicht; Verse vom erschossenen
Vater, vom Verrat des Bruders,
den Verhören, Gefängnissen und den Jahren, später,
im Dorf, und den Städten, später, und den Frauen, später, die nicht verrieten, (…)“ Einen breiten Raum in dieser Anthologie nehmen poetische „Ausfahrten“
ein. Warum das so ist, darüber kann nur gemutmaßt werden. Sicher, „der
Sachse liebt das Reisen sehr“, verkündete schon das allbekannte
„Sachsenlied“ von Jürgen Hart aus den achtziger Jahren. Ob „Libellen in
Liberia“ (Durs Grünbein), das „Seouler Straßenbild“ (Reiner Kunze), ein
„Brief vom Yukon“ (Gregor Kunz) oder „Die Unstrut bei Naumburg“ (Volker
Ebersbach) die lyrische Phantasie entzünden – um versifizierte
Reisepostkarten handelt es sich dabei in den wenigsten Fällen. Vielmehr befördert
die Erfahrung der Fremde existentielles Innehalten und neugierige Kontaktnahme
mit der anderen Kultur. Es ist sicher kein Zufall, dass dabei gerade dem
unmittelbar östlichen Nachbarn größte Aufmerksamkeit zuteil wird, etwa in
Gedichten von Kristian Pech, Undine Materni, Róža Domašcyna. Traditionell haben
Ausfahrten in die Natur einen festen Platz in der sächsischen Lyrik, man denke
nur an die Dresdener Zeitschrift „Die Kolonne“, die zwischen 1929 und 1932
zu einem Zentrum der deutschen Naturlyrik avancierte. Akzentuierten die Lyriker
in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Natur als
„durchgearbeitete Landschaft“ (Georg Maurer), in den achtziger Jahren im
Warngedicht die ökologischen Katastrophen der Spät-DDR, so erscheint Natur in
den neuen Gedichten wieder vorzugsweise als Kontemplationsraum, wenn sie nicht,
den Schmerz der Entfremdung in Worte fassend, als „ein unter die Gürtelfederlinie
gehender Scherz“ (Saskia Fischer) apostrophiert wird. Charakteristisch für
eine in etlichen Gedichten zuhandene Auratisierung im Verhältnis zur Natur sind
etwa Verse aus einem Gedicht von Ulrich Schacht: „(…) / das ist der Traum,
der sich / verspielt im Schauen: auf reines / Licht und abgrundlosen / Schein
ein Bild an dem wir / uns erbauen: Nur um zu / sein.“ Die zu beobachtende
Wiederkehr des Erhabenheits-Gestus` in der Naturlyrik ist aber weniger, wie im
18. Jahrhundert, der Feier der Natur geschuldet, denn nicht unberechtigten
Verlustängsten, derweil das Zerstörungswerk an unserer inneren und äußeren
Natur jenseits kosmetischer Beruhigungen ungebremst weitermahlt. „– ich
kann nicht erkennen, ist es die Welt / in ihrem Sinken, die dieses Garn aus
meiner Haut zieht / oder nur ein verlorener Dämon / ein Plastikreptil aus den
Jahren der Kindheit.“, heißt es schlusshin im Gedicht „Diese Erinnerung
endet am Meer“ von Steffen Popp. Es wäre unberaten,
dieses Stöbern in den Schätzen der Anthologie zu beenden, ohne wenigsten auf
die gelungene Fortführung einer Tradition sächsischer Dichtung seit dem Barock
zu verweisen: So wie sich im wachen Sprach-Einholen von alltäglicher
Wahrnehmung in der Gedicht-Versammlung Eine Perle aus dem Rätsel meines Fleisches brach eine
ungebrochene Sensualität fortschreibt, die bezüglich ihrer meist zugezogenen
Verfasser bereits als „Neue Leipziger Schule“ (Lars Reiher, Carl-Christian
Elze, Kerstin Preiwuß, Sandra Trojan, Martina Hefter u.a.) delektiert wurde, so
sinnenprall begegnet die neuere erotische Dichtung aus sächsischen Gefilden. Es
gibt ja nicht von ungefähr das geflügelte Wort, wonach in „Sachsen die schönen
Mädchen auf den Bäumen wachsen“. Peter Gosse, der sich immer schon nicht
scheute, an das Sprachtänzelnde der Barock- und Manierismus-Lyrik anzuknüpfen,
zelebriert die Feier des Erotischen: „(…) Da
Du die Hohest-Erregung in das Mysterium lila / Aufblauend aufgehen sahst, sahe,
geblendet, auch ich.“, heißt es in „Siebthimmel“. Oder Gerald Zschorsch,
der in „Spätsommer“ apodiktisch meißelt: „(…) / Wer Schönheit trägt,
verliert das Herz. / Wer Schönheit sieht, gewinnt eines. // Sie schrie, wie
eine Schwalbe segelt.“ Hier nun kann ein Bogen
gerundet werden mit Versen aus einem der großen Gedichte aus dem neuen
Jahrtausend, die gleichsam zusammenziehen, was das Unverwechselbare dieser
Anthologie auszeichnet: dass sich plebejische Haltung und höchster
Kunstanspruch, Geschichtsbewusstein und Aufmerksamkeit für Lebensmomente, pure
Sinnlichkeit und philosophisches Zweifeln, melancholische Ironie und visionäres
Trotzdem im Gedicht verbünden können. Es sind Verse aus Volker Brauns
atemraubenden Gedicht „Die sächsische Flut 2002“, denen der anspruchsvolle
Titel dieser Blütenlese entnommen wurde: „(…) Die
Landschaft der Liebe Schlamm Auf
den Laken. Und
Dresdens feuertrunkene Tote Schwimmen
nach oben wassersüchtig So
rasch gommdr ni davon/Im Lehm und Tod ni ES
GIBT EINE ANDERE WELT und so sieht sie aus; Die
albträumende Menschheit Wir
Menschen sind nah am Wasser gebaut Und
verdichten den Boden Undurchlässigste Kreaturen. (…)“ |