Peter Geist Nekro-Romantiker
und Integrierte? Notate
zur jüngeren Lyrik in Ost und West mit einer längeren Einleitung Erleichtertes
Aufatmen westlich von Neufünfland, als jüngst Reinhard Höppner erklärte, im
Osten tickten die Uhren anders. Ein Null-Satz, der westlichen Pokerkameraden
endlich einmal einleuchtete: Ja, ja, langsamer eben, und man kann sich darauf
verständigen, daß Aufbau Ost beschleunigt werden müsse, mehr Aufklärung der
Einwohnenden not tue usw. . Was
hat das nun mit den möglichen Differenzen etwa zwischen Lyrik Ost und Lyrik
West zu tun? Immerhin soviel, als eben vergleichbare Differenzkonstruktionen auf
zuweilen subtile Weise Eingang finden in die Auseinandersetzungen um die
deutsche Gegenwartsliteratur. Daß etwa Jürgen Serke in seinem 1998
erschienenen Buch „Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der
DDR.“ behauptet, diese Dichter hätten als „gemeinsame Unterstimme: die
Bewahrung von Heimat gegen alle Zerstörung“, mag angesichts der
abenteuerlichen Konstruktionen, zu denen sich der Journalist sonst noch
versteigt, nicht weiter erörternswert erscheinen. Im übrigen wird damit eine
Wunschprojektion nach „Ursprünglichkeit“ bedient, die von Bernd Hüppauf
1991 vertreten wurde, indem er der DDR-Literatur die „weitgehende Abwesenheit
von Radikalität, Experiment, Sprachspiel, Negativität, Destruktion.“
bescheinigte. Da ist die kolonialistische
These vom edlen Wilden nicht allzuweit, mit der die Aufklärung seit dem 18.
Jahrhundert das Andere bürgerlicher Einschnürungskultur humanistisch einzufärben
versuchte, ohne es wirklich gelten lassen zu können. Ernster
zu nehmen sind schon die Thesen von Iris Radisch, die mit Blick auf neuere Prosa
etwa von Matthias Politycki, F.C. Delius, Matthias Altenburg (West) und Reinhard
Jirgl, Wolfgang Hilbig, Ingo Schramm (Ost) behauptet, „am Ende des
Jahrhunderts“ gäbe es „zwei deutsche Literaturen, die ganz und gar nichts
miteinander zu tun haben.“ Der Osten sei „tragisch, der Westen lustig. Der
Osten beruft sich auf die metaphysischen Traditionen der deutschen
Geistesgeschichte, der Westen auf den amerikanischen Pragmatismus.(...) Der
Westmensch surft auf dem Lack der Erscheinungen, der faden Speckseite der
Existenz, der Ostmensch wühlt untertage im Bergwerk des Lebensernstes.“ So
weit, so Stammtisch, wäre ich geneigt zu denken. Doch Iris Radisch verfeinert
diese Gröblichkeiten durch genaue Beobachtungen an den Texten der genannten
Autoren. Vor allem hat sie sich davor gehütet, den „neuen deutschen Trümmerexpressionismus“
Ost mit dem Verdikt der ästhetischen Vormoderne zu belegen, wie viele
„DDR-Literatur-Experten“ wie Hüppauf lange Zeit wenig kenntnisreich aus dem
ökonomisch-lebensweltlichen Uhrenvergleich -siehe oben- haarscharf schlußfolgern
zu können glaubten. Es ist ja was dran, auch wenn mir bei deutscher Metaphysik
zuallererst Botho Strauss einfallen will und beim „Seifglatten“ Thomas
Brussig. Daß entschiedene, alle Lebensbereiche erfassende Brüche des Gewohnten
seit 1989 eine andere existentielle Grundierung des Schreibens bedingen können,
dürfte dabei wenig verwundern. Iris
Radischs hölzerne Gegenüberstellung bezieht sich - von Ingo Schramm abgesehen
- auf Prosa-Autoren, die inzwischen die vierzig überschritten haben. Wie aber
steht es mit denjenigen, die heute 35 Jahre und jünger sind, die in den
Stillstandsachtzigern erwachsen wurden, ehe sie in den Strudel der Wendezeit
gerissen worden sind? Ich habe mir etliche, zumeist in kleineren Verlagen veröffentlichte
Lyriksammlungen jüngerer Autoren daraufhin angesehen. Die in den letzten Jahren
veröffentlichten Gedichtbände ostdeutscher Lyriker tragen so seltsame Titel
wie „Die Rosen zitieren die Adern“ (Jörg Schieke), „tage in wirrschraffur“
(André Schinkel), „die innenwände des horns“ (Ralf Meyer), „Der Schaum
und die Zeichnung vom Pferd“ (Thomas Kunst). Das Abdriften von einigermaßen
festen Benennungen zu geheimnisumwitterten, phantasmagorischen
Entgrenzungsmetaphern schon in der Titelgebung deutet auf paradigmatische
Verschiebungen poetischer Aufmerksamkeit und der Traditionsbindungen.
Literarische Orientierungsfiguren finden sie, wie aus Widmungen zu ersehen, in
Autoren wie Ernst Meister, Peter Huchel, e.e.cummings oder Gerhard Falkner.
Wieder einmal werden die Frühromantiker entdeckt, vornehmlich Novalis und
Brentano. Das verwundert nun so sehr nicht. Denn vergleichbar den Frühromantikern
sehen sich die jungen Dichter nach DDR-Tristesse und möglicherweise kurzer
Wende-Euphorie in einer Situation, in der alles besser und nichts gut wird. Sie
sind verheißungslos auf sich geworfen. Anders als die etwas Älteren wie Uwe
Kolbe, Bert Papenfuß, Kurt Drawert oder Kathrin Schmidt war für sie - Ausnahme
Lutz Seiler - die Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Sozialisation kein Thema
mehr, denn in ihrer Kindheit und Jugendzeit bot das „langweiligste Land der
Welt“ nichts mehr an sinnvollen Orientierungsmöglichkeiten, und die überall
spürbaren Auflösungserscheinungen verhinderten wohl auch allzu rigide
Erfahrungen mit der Staatsmacht, die traumatisierend hätten wirken können. Die
pseudohedonistischen 80er sind vorüber, die Ruinen-Parties Geschichte, bei
verhagelten Zukünften bieten sich Gangbarkeiten in rigiden Ästhetizismus, in
die Mythologien, in ziselierte Innenweltbilder der Beziehungsfallen und narzißtischen
Allmachtsphantasien an: „Dionysische Winterspiele“ benannte Wilhelm Bartsch
in einem Nachwort zu André Schinkels erstem Gedichtband „durch ödland
nachts“ dieses Treiben. Kaum ein überindividueller Einsatz, der lohnte, keine
Utopien wenigstens aus dem wittgensteinschen Geist der Sprachkritik, keine spürbare
Empörung aber auch über die Erbärmlichkeit von Lebensumständen und
-aussichten. Um so mehr bewahrt das Gedicht die Kostbarkeiten sprachlicher
Funde, soll den leichten Taumel oder die stille Verzückung evozieren, die
bisweilen von kühnen Metaphern ausgehen. Nach dem Ende der Avantgarden knüpft
man eher an die Hochmoderne der Jahrhundertmitte an, für die Namen wie T.S.
Eliot, Gottfried Benn, William Butler Yeats, Dylan Thomas oder Paul Celan stehen
mögen. Deren Lyrik war in der DDR verlegt worden, wie es überhaupt zu den frühen
Erfahrungen dieser Dichter gehört hat, daß in der sowieso wortfixierten
DDR-Gesellschaft die große Dichtung dieses Jahrhunderts in den einschlägigen
„Szenen“ junger, suchender Intellektueller große Aufmerksamkeit erfuhr.
Relativ unbehelligt von westlichen Kurzkonjunkturen von Laberlyrik á la „Neue
Subjektivität“ oder der „Gegenströmung“ süßlicher Konventionalität in
den achtzigern (Ulla Hahn und Co.) waren nicht zuletzt die Genauigkeitsansprüche
im „Handwerklichen“, egal ob von Karl Mickel oder Elke Erb weitergegeben,
auch bei den Jüngeren noch verbindlichkeitsstiftend. Denn hochartifiziell kommt
die Lyrik der jüngeren Dichter allemal daher. Einige Beispiele mögen dies
andeuten: Der Gedichtband eines der
neuen Talente deutschsprachiger Gegenwartslyrik, Christian Lehnert, heißt
bezeichnenderweise „der gefesselte sänger“: Rätselhaft kaltgehärtete
Gebilde, changierend zwischen Beobachtungsgenauigkeit und Auflösungsphantasien
in kreisenden Bildern. Hier deutet sich an, daß eine Lebens-Disposition zu
Sprache gerinnt, die nicht vordergründig durch das eine oder andere politische
Ordnungssystem bestimmt ist. Die Chiffren der Zufälligkeit, Fremdbestimmtheit,
kondensiert im biotop aus schlick und
schrott, sie ziehen sich vom ersten bis zum letzten Gedicht. Es sind
gleichsam rasende formeln/ der melancholie,
die ihren Gleichungsort wechseln. Vertraut auch dies: Die ozeanischen Gefühlen
abgerungenen Anthropomorphisierungen einer erhaben geschauten Natur,
Stillstellung der Zeit in Blicken weither, die Müdheitsattitüde des
Denkbeladenen, die nach außen gewandeten Flimmerreflexe des inneren Kinos, die
verstreuten Erkältungszeichen der technischen Moderne. Die Auflösungswünsche
des gefesselten Sängers haben ihre letzte Begrenzung in der mythisch
durchleuchteten Landschaft des Sinai und den Gesichten an der Grenze zum Nichts:
es sind sprachliche Balanceakte in jeder Hinsicht, im Kreisen um das Unsagbare
nicht in die Unsäglichkeit entleerter Zeichen zu scheitern. Diesem Dichter
steht Meister Eckharts „unio mystica“ näher als die Meister der europäischen
Avantgarden. Auch bei anderen Lyrikern fällt
auf, daß Geschichte mythologisiert wird und/ oder als gleichsam archäologisch
zu entziffernde Ge-Schichtung in das lyrische Bild genommen wird, wie beim
Hallenser Lyriker André Schinkel: „wotan// flüsternd ist aller welt die zeit
gestohlen/ der klärungen sind genug an uns vorbeigesegelt/ die Jahre vertrödelt/
wehrlos liegen zwei abendländer/ besoffen und erdwärts genagelt/ trunken vor
geld- und wortnot/ nur noch die aggression eines/ bettlers zeugt von der kraft/
...damals als atlantis überbraust ward/ von den göttern warf wotan seine flüche/
weiter höher schneller sicherer als/ heute nach der entkrampfung in der/ wir
menschenbündel uns ruhe gönnten/ im flur und unterm rock der anstalt.“
Der Berliner Hendrik Gericke
baut kosmogonisch angedunkelte Legenden nach dem Prinzip des „auto-reverse“
- so auch der Titel seines Gedichtbandes - und erzeugt so die Endlosschleife
einer Stimme, deren Rede immer wieder knochig durch technisch-mathematische
Interventionen durchstört wird. Der Sprecher versucht diesen „zustand
zwischen den zuständen“ in der Wiederkehr des Gleichen als durchaus magischen
Entrückungsakt heraufzuführen, wie man ihn aus dem Schamanismus oder der
kirchlichen Liturgie kennt. Der Zyklus „nocebo“ endet bezeichnend:
„schwarzlicht herrschte vor,/ daß der himmel unterkellert schien./ wir liefen
im kreis,/ blieben nicht stehen,/ unserem schatten/ aus dem licht zu gehen.“ Geperlte Metaphorik,
Wellenbewegung von Motivübergleitungen, Synkopie erotisierender Verhaltenheit
kennzeichnen die Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst. Die taktvolle
Inszenierung dieser raffinierten Stücke ereignet sich als Wortlust, die Körperzeichen
so zu umfließen vermag, daß das Magische taktil wird und den Leser anfaßt.
Viele von ihnen verführen an südliche
Gestade, in lachsrosa Nächte mediterraner
Hafenstädte etwa. Sprache löst sich so in verführerische Wortmusik auf. Keine Frage, hier steht eine
Tradition von Mallarmé bis Poethen Pate, die in den letzten dreißig Jahren
eher an den Rand der oft geschmäcklerischen Aufmerksamkeit von Lyrik-Liebhabern
gewandert war. Wichtig ist „ein warmes Wort, (...) nichts weiter als eine
gebogene, glückselige Form“, wie es in den „Horn-Stücken“ Ralf Meyers
programmatisch heißt. Doch auch dort, wo reale Orte, Begebenheiten,
Kindheitserinnerungen Eingang ins Gedicht finden, erscheinen sie oft in der
eigentümlichen Verwaistheit symbolischer Kennung. So werden bei Lutz Seiler präzise
Erinnerungsbilder in ein sprachliches Zwielicht getaucht, bis sie verschwimmen
oder in die stechende Helle surrealismusnaher Verfremdung geführt werden. Der
im letzten Jahr mehrfach gepreiste
Andreas Altmann zeichnet seine „wortebilden“ elliptisch um die Fixpunkte „worte“
und „bilder“, was zur Folge hat, daß die Konkreta von Benennungen oftmals
zum Vehikel selbstreferentieller Brechung im Prisma des Schreibens selbst
fungieren. Damit verlieren sie die Aura des Singulären und authentisch in die
Sprache Erinnerten, aus dem etwa die Lyrik Wulf Kirstens ihren Reiz zu ziehen
versucht. Poetizität wird hingegen eher über überraschende Verbanschlüsse,
Metaphernbildungen aus Abstrakta, über die schnörkellose Syntax und den
scheinobjektivierenden Gestus des Berichtens gezogen. nur
in/ den bildern fragen wir die augen wach bevor/ das letzte blatt den himmel
offen hält. Das alles ist nicht reizlos und erinnert ein wenig an die
seriellen Produktionen eines so monomanischen Dichters wie Lothar Walsdorf, aber
das Verfahren ist relativ leicht einsehbar und hält dann doch nicht so sehr
viele Überraschungen feil. Kein Fazit, aber ein
Eindruck nach der Lektüre der Gedichtbände: Die Erlesenheit der Gedichte, ihre
ernste Nekro-Romantik oder die luzide Leichtigkeit, mit der Bildperlen gefädelt
werden - das alles hat weniger mit „Trümmer-Expressionismus“ zu tun als mit
dem Drahtseilakt, eine Gedichtsprache mit Neuigkeitsanspruch finden zu wollen, während
die Gattung Lyrik weniger denn je öffentliche Aufmerksamkeit erheischt und noch
jeder Dilettant mittels Publishing-Programm seine Versuche in Buchform geben
kann. In einer zivilisatorischen Situation, in der das Ideal der gleichen Gültigkeit
von Lebensentwürfen zur umfassenden Gleichgültigkeit der Megamarktmaschine
gegenüber dem Einzelleben depraviert ist und extreme Unsicherheit in der
„Sorge um das Selbst“ (M. Foucault) der Normalzustand, betreiben sie eine
Art „Schadenzauber“, wie Jörg Schieke eines seiner gelungensten Gedichte übertitelte.
Diese Renaissance einer
lyrischen Hochmoderne dürfte einigen theoretisierenden Lyrikern westlich der
Elbe reichlich suspekt vorkommen. Insbesondere Dirk von Petersdorff wird seit
Jahren nicht müde, seine Lesefrüchte postmoderner Philosophien 1:1
lyriktheoretisch umzusetzen und diktieren zu wollen, was alles nicht mehr
„geht“. Dabei wirft er ständig ästhetische und politische Kategorien
durcheinander, was nicht weiter auffällt, seit es Mode geworden ist, künstlerische
Avantgarden und politischen „Totalitarismus“ fix als unheilige Allianz zu
denunzieren. Aber es kommt noch einsträhniger: „Die neue Lyrik wird ihre
Vorbilder in solchen Gesellschaften suchen, die die größte Erfahrung mit den
Vervielfältigungsprozessen der Moderne haben.“, schreibt er in einem
Neue-Rundschau-Essay. Die angeblich fortschrittlichsten Gesellschaften (natürlich
im Moment die USA) bringen die angeblich fortschrittlichste Literatur hervor -
das ist noch plumper als all der platt-mechanische Unsinn von der Basis-Überbau-Beziehung,
den einzutrichtern sich selbst die Adepten des sozialistischen Realismus in
meiner Studienzeit nicht mehr getrauten. Aus einem solchen Blickwinkel heraus
reduziert sich selbstredend auch die „Literatur des Prenzlauer Berges“ auf
die „Reaktion ... auf die Ergebnisse neuerer Philosophie“. Die
Theorieverquastheit eines angenommenen mainstreams ideologischer Diskussion
produziert nun leider keineswegs atemberaubende Gedichte. Dirk von Petersdorff möchte
ein „luftiges Ich“ erschaffen jenseits der „Metaerzählungen“, und
empfiehlt hierfür, „neue Sprachen (zu) lernen, die der Werbung, der
Soziologie, der Astrologie“. Heraus kommen dabei konturarme Gebilde mit zufälliger
Füllung, eine Art Stopfganslyrik sprachlicher Verdoppelung des Diskurs-Zappings.
„Postmoderne Lyrik mag komisch sein, in ihr lacht ein Mensch in einer reichen
Demokratie am Ende des 20. Jahrhunderts“, rät er und auch, „in nächster
Zeit auf die Worte TIEFE und WESEN (zu) verzichten“. Wohlan, es muß ja in der
Tat nicht gleich geheideggert werden, wenn die alten Fragen des Woher und Wohin
und Wozu einem Ich in den Vers kommen, aber: Die Selbstentlastung von jeder
Beunruhigung, die gute Dichtung nämlich durchaus genußvoll hervorzurufen weiß,
gebiert überflüssig-quasslige Sprachschimären. Denn doch gleich lieber die
Harald-Schmidt-Show. Also doch „lustiger
Westen“ versus „ernster Osten“ ? Nein, Dirk von Petersdorff ist auch in
der seiner Meinung nach „reichen Demokratie“ im Westen unseres uneinig
„Vaterlandes“ eher die Ausnahme. Zwar versucht der Fischer-Verlag gemäß
den lautstark erhobenen Forderungen seines Cheflektors Uwe Wittstock nach mehr
„Gefälligkeit“ auch sein Lyrikprogramm etwas stärker auf „light“ zu
trimmen, bislang hielten sich die Liftingversuche aber durchaus in Grenzen. Die
zuweilen lax bis zur Scheinprovokation - „Big Mac und Hölderlin - da geh ich
jetzt öfter hin“ - auf den Leser kommenden Gedichte Steffen Jacobs etwa knüpfen
in der Ausstellung eines streunenden Großstadt-Ich eher an geläufige Vorbilder
der Moderne von Rimbaud über Benn bis Rühmkorf an, als daß sie einem durch
den Sprachwolf gedrehten Diskursbrei ähnelten, zumal Jacobs strenge Formen
spielerisch zu handhaben weiß. Am lautkräftigsten aber geben sich Lyriker zu
erkennen, die in ihren Gedichten versuchen, dem visuellen Wahrnehmungscrash, der
permanenten Reizüberflutung und qualitativen Beschleunigung von Lebensrhythmen,
denen Städtebewohner in den neunziger Jahren ausgesetzt sind, nicht
auszuweichen. Dies nun nicht in futuristischer Feier der Geschwindigkeit,
sondern mit gesellschaftskritischer Verve, die Fasznination und Grauen im
Unheimlichen zusammenschließt. Die Dichtung Thomas Klings dürfte dabei in dem
einen oder anderen Fall anregend gewesen sein, wenn ich mir insbesondere die
Gedichtbände Dieter M. Gräfs, zuletzt „Treibender Kopf“, anschaue. Wie
Kling beherrscht er die Techniken des cut up, der semiotischen Zerlegung und
Verweisung. Das Gedicht kann so als „pathosbeschleuniger“ und
„polylinguales geschau“ (Kling) wirken und stellt einen Gestus
konzentrierten Sich-Einlassens auf das Wahrnehmungs- und Zeichenmaterial aus.
Laut Selbstaussage zielt Gräf auf die „untersten Schichten der Erinnerung“,
leider oftmals überkomplex, wenig elegant und zuweilen ein wenig
effekthascherisch. Mit ähnlichen Verfahren experimentieren übrigens auch der
Leipziger Tom Pohlmann und der Berliner Thomas Martin, die dabei eher an
Traditionen aus der Urzeit des Slam, also Rolf-Dieter Brinkmann, Jürgen Ploog,
Jörg Fauser, Wolf Wondratschek, anzuknüpfen versuchen. Thomas Kling war es auch,
der sich auf überraschende Weise, nämlich über Sprach- und Bilddokumente, kühl
sezierend einem Thema näherte, das längere Zeit eher von einer Art
Betroffenheitslyrik in Beschlag genommen war, nämlich den militaristischen,
faschistischen, rassistischen Traditionen in Deutschland, die wesentlichen
Anteil daran hatten, daß das zwanzigste Jahrhundert das blutigste seit
Menschengedenken geworden ist. Marcel Beyer, dessen zweiter Roman
„Flughunde“ 1995 sensationellen Erfolg hatte, destruiert in seinen Gedichten
die zugrundeliegenden Bewußtseinsformen als „Falsches Futter“ - so der
Titel seines Gedichtbandes, indem Sprachkritik als Geschichtsreflexion vorgeführt
wird. Beyer wechselt raffiniert Täter- und Opferperspektiven, läßt den Leser
ein um das andere Mal irritiert auflaufen, um den bis zum Überdruß bekannten
und selbst ideologisch-schematischen political-correctnis-Effekt zu verhindern,
der lediglich das wohlige Gefühl bedient, zu den guten Menschen zu gehören. In
einer Kritik von Ernst Osterkamp lese ich zustimmend: „Man wird schwerlich in
der Gegenwartsliteratur einen Autor finden, der den Verheerungen, die die Jahre
von 1933 bis 1945 in den deutschen Gemütern bis heute hinterlassen haben, mit
solcher Sensibilität und Beharrlichkeit nachgeht wie der zwanzig Jahre nach
Kriegsende geborene Beyer. Die an das Ohr dringenden Stimmen, die
Erinnerungsbilder, die fotografisch genau aufgenommenen
Wirklichkeitsausschnitte: sämtliche vom Gedicht aufgezeichnete Wahrnehmungen
geben die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen.“ Apropos Neue Stimmen: Einen
Kontrast zur grazil-koketten, manieristischen Mayröckerey von Ulrike Draesner
im Suhrkamp-Lyrik-Programm bilden zweifelsohne die Gedichtbände „herz vers
sagen“ und fremdkörper hautnah“ des Müncheners Albert Ostermaier. Die
brecht- und tollergeschulte Berserkergebärde hat etwas Erfrischendes,
wenngleich die sprachliche Direktheit noch mit einer Spur zu viel
Geheimnislosigkeit bezahlt wird. Ich breche an dieser Stelle
ab, denn es soll mir hier nicht um Aufzählereien gehen. So schwierig es sein
mag, in der deutschen Lyrik jüngerer Autoren Tendenzen zu erkennen, die über
die Singularität der einzelnen lyrischen Subjektivität hinausweisen, so
unhaltbar erscheint mir denn doch jede grobklotzige Division in Entitäten, die
eher zu einer Windrose gehören als zu literaturkritischen Erwägungen.
Wenngleich die unterschiedlichen Sozialisationsmuster in unterschiedlichen
Staatsgebilden und die Osterfahrung von Umbruch und anschließender
Binnenkolonialisierung gewiß eine Rolle in der dichterischen Aufmerksamkeit
spielen, so sind induktive Schlüsse von der Herkunftskultur auf gegenwärtige
Schreibweisen nicht hinreichend, die Vielfalt der Lyrik einer Generation in den
Blick zu bekommen. Dazu ist das Netz von poetischen Verwandtschaften,
Traditionsbezügen, gegenseitigen Ermunterungen und Abstoßungen viel zu
engmaschig nicht erst seit dem Ende der DDR, als daß es so einfach vernachlässigt
werden könnte. Im übrigen: In der Sparte
„Trash“ ist die deutsche Poesie längst ununterscheidbar einig. Das aber
liegt vor allem daran, daß individuelle Handschriften nur selten erkennbar
sind. So sehr verwundert es denn nicht, daß die vor allem unter Dreißigjährigen
von Erlesenheit die Nase voll haben und in fanzines den „social beat“ eines
bewußten Dilettantismus feiern. Sauf-, Kotz- und Fuck-Lyrik in Anlehnung an
Urahn Bukowski, alt-neuer Haß aufs Establishment, anarchische Lebensgier und
uralte Einsamkeitsschmerzen, energiegeladener Pop, rettungslos, hoffnungslos,
umtriebig. Aber das ist schon ein anderes Thema. |