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Peter Geist

 

Nekro-Romantiker und Integrierte?

Notate zur jüngeren Lyrik in Ost und West mit einer längeren Einleitung

Erleichtertes Aufatmen westlich von Neufünfland, als jüngst Reinhard Höppner erklärte, im Osten tickten die Uhren anders. Ein Null-Satz, der westlichen Pokerkameraden endlich einmal einleuchtete: Ja, ja, langsamer eben, und man kann sich darauf verständigen, daß Aufbau Ost beschleunigt werden müsse, mehr Aufklärung  der Einwohnenden not tue usw. .

Was hat das nun mit den möglichen Differenzen etwa zwischen Lyrik Ost und Lyrik West zu tun? Immerhin soviel, als eben vergleichbare Differenzkonstruktionen auf zuweilen subtile Weise Eingang finden in die Auseinandersetzungen um die deutsche Gegenwartsliteratur. Daß etwa Jürgen Serke in seinem 1998 erschienenen Buch „Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR.“ behauptet, diese Dichter hätten als „gemeinsame Unterstimme: die Bewahrung von Heimat gegen alle Zerstörung“, mag angesichts der abenteuerlichen Konstruktionen, zu denen sich der Journalist sonst noch versteigt, nicht weiter erörternswert erscheinen. Im übrigen wird damit eine Wunschprojektion nach „Ursprünglichkeit“ bedient, die von Bernd Hüppauf 1991 vertreten wurde, indem er der DDR-Literatur die „weit­ge­hende Ab­wesenheit von Radi­kalität, Expe­riment, Sprachspiel, Negati­vität, Destruk­tion.“ bescheinigte. Da ist die  kolonialistische These vom edlen Wilden nicht allzuweit, mit der die Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert das Andere bürgerlicher Einschnürungskultur humanistisch einzufärben versuchte, ohne es wirklich gelten lassen zu können.

Ernster zu nehmen sind schon die Thesen von Iris Radisch, die mit Blick auf neuere Prosa etwa von Matthias Politycki, F.C. Delius, Matthias Altenburg (West) und Reinhard Jirgl, Wolfgang Hilbig, Ingo Schramm (Ost) behauptet, „am Ende des Jahrhunderts“ gäbe es „zwei deutsche Literaturen, die ganz und gar nichts miteinander zu tun haben.“ Der Osten sei „tragisch, der Westen lustig. Der Osten beruft sich auf die metaphysischen Traditionen der deutschen Geistesgeschichte, der Westen auf den amerikanischen Pragmatismus.(...) Der Westmensch surft auf dem Lack der Erscheinungen, der faden Speckseite der Existenz, der Ostmensch wühlt untertage im Bergwerk des Lebensernstes.“ So weit, so Stammtisch, wäre ich geneigt zu denken. Doch Iris Radisch verfeinert diese Gröblichkeiten durch genaue Beobachtungen an den Texten der genannten Autoren. Vor allem hat sie sich davor gehütet, den „neuen deutschen Trümmerexpressionismus“ Ost mit dem Verdikt der ästhetischen Vormoderne zu belegen, wie viele „DDR-Literatur-Experten“ wie Hüppauf lange Zeit wenig kenntnisreich aus dem ökonomisch-lebensweltlichen Uhrenvergleich -siehe oben- haarscharf schlußfolgern zu können glaubten. Es ist ja was dran, auch wenn mir bei deutscher Metaphysik zuallererst Botho Strauss einfallen will und beim „Seifglatten“ Thomas Brussig. Daß entschiedene, alle Lebensbereiche erfassende Brüche des Gewohnten seit 1989 eine andere existentielle Grundierung des Schreibens bedingen können, dürfte dabei wenig verwundern.

Iris Radischs hölzerne Gegenüberstellung bezieht sich - von Ingo Schramm abgesehen - auf Prosa-Autoren, die inzwischen die vierzig überschritten haben. Wie aber steht es mit denjenigen, die heute 35 Jahre und jünger sind, die in den Stillstandsachtzigern erwachsen wurden, ehe sie in den Strudel der Wendezeit gerissen worden sind? Ich habe mir etliche, zumeist in kleineren Verlagen veröffentlichte Lyriksammlungen jüngerer Autoren daraufhin angesehen. Die in den letzten Jahren veröffentlichten Gedichtbände ostdeutscher Lyriker tragen so seltsame Titel wie „Die Rosen zitieren die Adern“ (Jörg Schieke), „tage in wirrschraffur“ (André Schinkel), „die innenwände des horns“ (Ralf Meyer), „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“ (Thomas Kunst). Das Abdriften von einigermaßen festen Benennungen zu geheimnisumwitterten, phantasmagorischen Entgrenzungsmetaphern schon in der Titelgebung deutet auf paradigmatische Verschiebungen poetischer Aufmerksamkeit und der Traditionsbindungen. Literarische Orientierungsfiguren finden sie, wie aus Widmungen zu ersehen, in Autoren wie Ernst Meister, Peter Huchel, e.e.cummings oder Gerhard Falkner. Wieder einmal werden die Frühromantiker entdeckt, vornehmlich Novalis und Brentano. Das verwundert nun so sehr nicht. Denn vergleichbar den Frühromantikern sehen sich die jungen Dichter nach DDR-Tristesse und möglicherweise kurzer Wende-Euphorie in einer Situation, in der alles besser und nichts gut wird. Sie sind verheißungslos auf sich geworfen. Anders als die etwas Älteren wie Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Kurt Drawert oder Kathrin Schmidt war für sie - Ausnahme Lutz Seiler - die Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Sozialisation kein Thema mehr, denn in ihrer Kindheit und Jugendzeit bot das „langweiligste Land der Welt“ nichts mehr an sinnvollen Orientierungsmöglichkeiten, und die überall spürbaren Auflösungserscheinungen verhinderten wohl auch allzu rigide Erfahrungen mit der Staatsmacht, die traumatisierend hätten wirken können. Die pseudohedonistischen 80er sind vorüber, die Ruinen-Parties Geschichte, bei verhagelten Zukünften bieten sich Gangbarkeiten in rigiden Ästhetizismus, in die Mythologien, in ziselierte Innenweltbilder der Beziehungsfallen und narzißtischen Allmachtsphantasien an: „Dionysische Winterspiele“ benannte Wilhelm Bartsch in einem Nachwort zu André Schinkels erstem Gedichtband „durch ödland nachts“ dieses Treiben. Kaum ein überindividueller Einsatz, der lohnte, keine Utopien wenigstens aus dem wittgensteinschen Geist der Sprachkritik, keine spürbare Empörung aber auch über die Erbärmlichkeit von Lebensumständen und -aussichten. Um so mehr bewahrt das Gedicht die Kostbarkeiten sprachlicher Funde, soll den leichten Taumel oder die stille Verzückung evozieren, die bisweilen von kühnen Metaphern ausgehen. Nach dem Ende der Avantgarden knüpft man eher an die Hochmoderne der Jahrhundertmitte an, für die Namen wie T.S. Eliot, Gottfried Benn, William Butler Yeats, Dylan Thomas oder Paul Celan stehen mögen. Deren Lyrik war in der DDR verlegt worden, wie es überhaupt zu den frühen Erfahrungen dieser Dichter gehört hat, daß in der sowieso wortfixierten DDR-Gesellschaft die große Dichtung dieses Jahrhunderts in den einschlägigen „Szenen“ junger, suchender Intellektueller große Aufmerksamkeit erfuhr. Relativ unbehelligt von westlichen Kurzkonjunkturen von Laberlyrik á la „Neue Subjektivität“ oder der „Gegenströmung“ süßlicher Konventionalität in den achtzigern (Ulla Hahn und Co.) waren nicht zuletzt die Genauigkeitsansprüche im „Handwerklichen“, egal ob von Karl Mickel oder Elke Erb weitergegeben, auch bei den Jüngeren noch verbindlichkeitsstiftend. Denn hochartifiziell kommt die Lyrik der jüngeren Dichter allemal daher. Einige Beispiele mögen dies andeuten:

Der Gedichtband eines der neuen Talente deutschsprachiger Gegenwartslyrik, Christian Lehnert, heißt bezeichnenderweise „der gefesselte sänger“: Rätselhaft kaltgehärtete Gebilde, changierend zwischen Beobachtungsgenauigkeit und Auflösungsphantasien in kreisenden Bildern. Hier deutet sich an, daß eine Lebens-Disposition zu Sprache gerinnt, die nicht vordergründig durch das eine oder andere politische Ordnungssystem bestimmt ist. Die Chiffren der Zufälligkeit, Fremdbestimmtheit, kondensiert im biotop aus schlick und schrott, sie ziehen sich vom ersten bis zum letzten Gedicht. Es sind gleichsam rasende formeln/ der melancholie, die ihren Gleichungsort wechseln. Vertraut auch dies: Die ozeanischen Gefühlen abgerungenen Anthropomorphisierungen einer erhaben geschauten Natur, Stillstellung der Zeit in Blicken weither, die Müdheitsattitüde des Denkbeladenen, die nach außen gewandeten Flimmerreflexe des inneren Kinos, die verstreuten Erkältungszeichen der technischen Moderne. Die Auflösungswünsche des gefesselten Sängers haben ihre letzte Begrenzung in der mythisch durchleuchteten Landschaft des Sinai und den Gesichten an der Grenze zum Nichts: es sind sprachliche Balanceakte in jeder Hinsicht, im Kreisen um das Unsagbare nicht in die Unsäglichkeit entleerter Zeichen zu scheitern. Diesem Dichter steht Meister Eckharts „unio mystica“ näher als die Meister der europäischen Avantgarden.

Auch bei anderen Lyrikern fällt auf, daß Geschichte mythologisiert wird und/ oder als gleichsam archäologisch zu entziffernde Ge-Schichtung in das lyrische Bild genommen wird, wie beim Hallenser Lyriker André Schinkel: „wotan// flüsternd ist aller welt die zeit gestohlen/ der klärungen sind genug an uns vorbeigesegelt/ die Jahre vertrödelt/ wehrlos liegen zwei abendländer/ besoffen und erdwärts genagelt/ trunken vor geld- und wortnot/ nur noch die aggression eines/ bettlers zeugt von der kraft/ ...damals als atlantis überbraust ward/ von den göttern warf wotan seine flüche/ weiter höher schneller sicherer als/ heute nach der entkrampfung in der/ wir menschenbündel uns ruhe gönnten/ im flur und unterm rock der anstalt.“ 

Der Berliner Hendrik Gericke baut kosmogonisch angedunkelte Legenden nach dem Prinzip des „auto-reverse“ - so auch der Titel seines Gedichtbandes - und erzeugt so die Endlosschleife einer Stimme, deren Rede immer wieder knochig durch technisch-mathematische Interventionen durchstört wird. Der Sprecher versucht diesen „zustand zwischen den zuständen“ in der Wiederkehr des Gleichen als durchaus magischen Entrückungsakt heraufzuführen, wie man ihn aus dem Schamanismus oder der kirchlichen Liturgie kennt. Der Zyklus „nocebo“ endet bezeichnend: „schwarzlicht herrschte vor,/ daß der himmel unterkellert schien./ wir liefen im kreis,/ blieben nicht stehen,/ unserem schatten/ aus dem licht zu gehen.“

Geperlte Metaphorik, Wellenbewegung von Motivübergleitungen, Synkopie erotisierender Verhaltenheit kennzeichnen die Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst. Die taktvolle Inszenierung dieser raffinierten Stücke ereignet sich als Wortlust, die Körperzeichen so zu umfließen vermag, daß das Magische taktil wird und den Leser anfaßt. Viele von ihnen  verführen an südliche Gestade, in lachsrosa Nächte mediterraner Hafenstädte etwa. Sprache löst sich so in verführerische Wortmusik auf.

Keine Frage, hier steht eine Tradition von Mallarmé bis Poethen Pate, die in den letzten dreißig Jahren eher an den Rand der oft geschmäcklerischen Aufmerksamkeit von Lyrik-Liebhabern gewandert war. Wichtig ist „ein warmes Wort, (...) nichts weiter als eine gebogene, glückselige Form“, wie es in den „Horn-Stücken“ Ralf Meyers programmatisch heißt. Doch auch dort, wo reale Orte, Begebenheiten, Kindheitserinnerungen Eingang ins Gedicht finden, erscheinen sie oft in der eigentümlichen Verwaistheit symbolischer Kennung. So werden bei Lutz Seiler präzise Erinnerungsbilder in ein sprachliches Zwielicht getaucht, bis sie verschwimmen oder in die stechende Helle surrealismusnaher Verfremdung geführt werden. Der im letzten Jahr mehrfach  gepreiste Andreas Altmann zeichnet seine „wortebilden“ elliptisch um die Fixpunkte „worte“ und „bilder“, was zur Folge hat, daß die Konkreta von Benennungen oftmals zum Vehikel selbstreferentieller Brechung im Prisma des Schreibens selbst fungieren. Damit verlieren sie die Aura des Singulären und authentisch in die Sprache Erinnerten, aus dem etwa die Lyrik Wulf Kirstens ihren Reiz zu ziehen versucht. Poetizität wird hingegen eher über überraschende Verbanschlüsse, Metaphernbildungen aus Abstrakta, über die schnörkellose Syntax und den scheinobjektivierenden Gestus des Berichtens gezogen. nur in/ den bildern fragen wir die augen wach bevor/ das letzte blatt den himmel offen hält. Das alles ist nicht reizlos und erinnert ein wenig an die seriellen Produktionen eines so monomanischen Dichters wie Lothar Walsdorf, aber das Verfahren ist relativ leicht einsehbar und hält dann doch nicht so sehr viele Überraschungen feil.

Kein Fazit, aber ein Eindruck nach der Lektüre der Gedichtbände: Die Erlesenheit der Gedichte, ihre ernste Nekro-Romantik oder die luzide Leichtigkeit, mit der Bildperlen gefädelt werden - das alles hat weniger mit „Trümmer-Expressionismus“ zu tun als mit dem Drahtseilakt, eine Gedichtsprache mit Neuigkeitsanspruch finden zu wollen, während die Gattung Lyrik weniger denn je öffentliche Aufmerksamkeit erheischt und noch jeder Dilettant mittels Publishing-Programm seine Versuche in Buchform geben kann. In einer zivilisatorischen Situation, in der das Ideal der gleichen Gültigkeit von Lebensentwürfen zur umfassenden Gleichgültigkeit der Megamarktmaschine gegenüber dem Einzelleben depraviert ist und extreme Unsicherheit in der „Sorge um das Selbst“ (M. Foucault) der Normalzustand, betreiben sie eine Art „Schadenzauber“, wie Jörg Schieke eines seiner gelungensten Gedichte übertitelte.

Diese Renaissance einer lyrischen Hochmoderne dürfte einigen theoretisierenden Lyrikern westlich der Elbe reichlich suspekt vorkommen. Insbesondere Dirk von Petersdorff wird seit Jahren nicht müde, seine Lesefrüchte postmoderner Philosophien 1:1 lyriktheoretisch umzusetzen und diktieren zu wollen, was alles nicht mehr „geht“. Dabei wirft er ständig ästhetische und politische Kategorien durcheinander, was nicht weiter auffällt, seit es Mode geworden ist, künstlerische Avantgarden und politischen „Totalitarismus“ fix als unheilige Allianz zu denunzieren. Aber es kommt noch einsträhniger: „Die neue Lyrik wird ihre Vorbilder in solchen Gesellschaften suchen, die die größte Erfahrung mit den Vervielfältigungsprozessen der Moderne haben.“, schreibt er in einem Neue-Rundschau-Essay. Die angeblich fortschrittlichsten Gesellschaften (natürlich im Moment die USA) bringen die angeblich fortschrittlichste Literatur hervor - das ist noch plumper als all der platt-mechanische Unsinn von der Basis-Überbau-Beziehung, den einzutrichtern sich selbst die Adepten des sozialistischen Realismus in meiner Studienzeit nicht mehr getrauten. Aus einem solchen Blickwinkel heraus reduziert sich selbstredend auch die „Literatur des Prenzlauer Berges“ auf die „Reaktion ... auf die Ergebnisse neuerer Philosophie“. Die Theorieverquastheit eines angenommenen mainstreams ideologischer Diskussion produziert nun leider keineswegs atemberaubende Gedichte. Dirk von Petersdorff möchte ein „luftiges Ich“ erschaffen jenseits der „Metaerzählungen“, und empfiehlt hierfür, „neue Sprachen (zu) lernen, die der Werbung, der Soziologie, der Astrologie“. Heraus kommen dabei konturarme Gebilde mit zufälliger Füllung, eine Art Stopfganslyrik sprachlicher Verdoppelung des Diskurs-Zappings. „Postmoderne Lyrik mag komisch sein, in ihr lacht ein Mensch in einer reichen Demokratie am Ende des 20. Jahrhunderts“, rät er und auch, „in nächster Zeit auf die Worte TIEFE und WESEN (zu) verzichten“. Wohlan, es muß ja in der Tat nicht gleich geheideggert werden, wenn die alten Fragen des Woher und Wohin und Wozu einem Ich in den Vers kommen, aber: Die Selbstentlastung von jeder Beunruhigung, die gute Dichtung nämlich durchaus genußvoll hervorzurufen weiß, gebiert überflüssig-quasslige Sprachschimären. Denn doch gleich lieber die Harald-Schmidt-Show.

Also doch „lustiger Westen“ versus „ernster Osten“ ? Nein, Dirk von Petersdorff ist auch in der seiner Meinung nach „reichen Demokratie“ im Westen unseres uneinig „Vaterlandes“ eher die Ausnahme. Zwar versucht der Fischer-Verlag gemäß den lautstark erhobenen Forderungen seines Cheflektors Uwe Wittstock nach mehr „Gefälligkeit“ auch sein Lyrikprogramm etwas stärker auf „light“ zu trimmen, bislang hielten sich die Liftingversuche aber durchaus in Grenzen. Die zuweilen lax bis zur Scheinprovokation - „Big Mac und Hölderlin - da geh ich jetzt öfter hin“ - auf den Leser kommenden Gedichte Steffen Jacobs etwa knüpfen in der Ausstellung eines streunenden Großstadt-Ich eher an geläufige Vorbilder der Moderne von Rimbaud über Benn bis Rühmkorf an, als daß sie einem durch den Sprachwolf gedrehten Diskursbrei ähnelten, zumal Jacobs strenge Formen spielerisch zu handhaben weiß. Am lautkräftigsten aber geben sich Lyriker zu erkennen, die in ihren Gedichten versuchen, dem visuellen Wahrnehmungscrash, der permanenten Reizüberflutung und qualitativen Beschleunigung von Lebensrhythmen, denen Städtebewohner in den neunziger Jahren ausgesetzt sind, nicht auszuweichen. Dies nun nicht in futuristischer Feier der Geschwindigkeit, sondern mit gesellschaftskritischer Verve, die Fasznination und Grauen im Unheimlichen zusammenschließt. Die Dichtung Thomas Klings dürfte dabei in dem einen oder anderen Fall anregend gewesen sein, wenn ich mir insbesondere die Gedichtbände Dieter M. Gräfs, zuletzt „Treibender Kopf“, anschaue. Wie Kling beherrscht er die Techniken des cut up, der semiotischen Zerlegung und Verweisung. Das Gedicht kann so als „pathosbeschleuniger“ und „polylinguales geschau“ (Kling) wirken und stellt einen Gestus konzentrierten Sich-Einlassens auf das Wahrnehmungs- und Zeichenmaterial aus. Laut Selbstaussage zielt Gräf auf die „untersten Schichten der Erinnerung“, leider oftmals überkomplex, wenig elegant und zuweilen ein wenig effekthascherisch. Mit ähnlichen Verfahren experimentieren übrigens auch der Leipziger Tom Pohlmann und der Berliner Thomas Martin, die dabei eher an Traditionen aus der Urzeit des Slam, also Rolf-Dieter Brinkmann, Jürgen Ploog, Jörg Fauser, Wolf Wondratschek, anzuknüpfen versuchen.

Thomas Kling war es auch, der sich auf überraschende Weise, nämlich über Sprach- und Bilddokumente, kühl sezierend einem Thema näherte, das längere Zeit eher von einer Art Betroffenheitslyrik in Beschlag genommen war, nämlich den militaristischen, faschistischen, rassistischen Traditionen in Deutschland, die wesentlichen Anteil daran hatten, daß das zwanzigste Jahrhundert das blutigste seit Menschengedenken geworden ist. Marcel Beyer, dessen zweiter Roman „Flughunde“ 1995 sensationellen Erfolg hatte, destruiert in seinen Gedichten die zugrundeliegenden Bewußtseinsformen als „Falsches Futter“ - so der Titel seines Gedichtbandes, indem Sprachkritik als Geschichtsreflexion vorgeführt wird. Beyer wechselt raffiniert Täter- und Opferperspektiven, läßt den Leser ein um das andere Mal irritiert auflaufen, um den bis zum Überdruß bekannten und selbst ideologisch-schematischen political-correctnis-Effekt zu verhindern, der lediglich das wohlige Gefühl bedient, zu den guten Menschen zu gehören. In einer Kritik von Ernst Osterkamp lese ich zustimmend: „Man wird schwerlich in der Gegenwartsliteratur einen Autor finden, der den Verheerungen, die die Jahre von 1933 bis 1945 in den deutschen Gemütern bis heute hinterlassen haben, mit solcher Sensibilität und Beharrlichkeit nachgeht wie der zwanzig Jahre nach Kriegsende geborene Beyer. Die an das Ohr dringenden Stimmen, die Erinnerungsbilder, die fotografisch genau aufgenommenen Wirklichkeitsausschnitte: sämtliche vom Gedicht aufgezeichnete Wahrnehmungen geben die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen.“

Apropos Neue Stimmen: Einen Kontrast zur grazil-koketten, manieristischen Mayröckerey von Ulrike Draesner im Suhrkamp-Lyrik-Programm bilden zweifelsohne die Gedichtbände „herz vers sagen“ und fremdkörper hautnah“ des Müncheners Albert Ostermaier. Die brecht- und tollergeschulte Berserkergebärde hat etwas Erfrischendes, wenngleich die sprachliche Direktheit noch mit einer Spur zu viel Geheimnislosigkeit bezahlt wird.

Ich breche an dieser Stelle ab, denn es soll mir hier nicht um Aufzählereien gehen. So schwierig es sein mag, in der deutschen Lyrik jüngerer Autoren Tendenzen zu erkennen, die über die Singularität der einzelnen lyrischen Subjektivität hinausweisen, so unhaltbar erscheint mir denn doch jede grobklotzige Division in Entitäten, die eher zu einer Windrose gehören als zu literaturkritischen Erwägungen. Wenngleich die unterschiedlichen Sozialisationsmuster in unterschiedlichen Staatsgebilden und die Osterfahrung von Umbruch und anschließender Binnenkolonialisierung gewiß eine Rolle in der dichterischen Aufmerksamkeit spielen, so sind induktive Schlüsse von der Herkunftskultur auf gegenwärtige Schreibweisen nicht hinreichend, die Vielfalt der Lyrik einer Generation in den Blick zu bekommen. Dazu ist das Netz von poetischen Verwandtschaften, Traditionsbezügen, gegenseitigen Ermunterungen und Abstoßungen viel zu engmaschig nicht erst seit dem Ende der DDR, als daß es so einfach vernachlässigt werden könnte.

Im übrigen: In der Sparte „Trash“ ist die deutsche Poesie längst ununterscheidbar einig. Das aber liegt vor allem daran, daß individuelle Handschriften nur selten erkennbar sind. So sehr verwundert es denn nicht, daß die vor allem unter Dreißigjährigen von Erlesenheit die Nase voll haben und in fanzines den „social beat“ eines bewußten Dilettantismus feiern. Sauf-, Kotz- und Fuck-Lyrik in Anlehnung an Urahn Bukowski, alt-neuer Haß aufs Establishment, anarchische Lebensgier und uralte Einsamkeitsschmerzen, energiegeladener Pop, rettungslos, hoffnungslos, umtriebig. Aber das ist schon ein anderes Thema.