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Peter Geist

 

Peter Weiss reloaded

 

Peter Weiss zu lesen war und ist für mich das, was Hans-Otto Burger als „Expedition in die Exorbitanz“ bezeichnete. In der DDR begann das Abenteuer dabei meist schon bei der Beschaffung der Texte: „Der Körper des Schattens des Kutschers“ oder „Hölderlin“ in der Dialog-Reihe – Bückware. „Trotzki im Exil“ im unverdächtigen Zeitungseinband - Leihware für eine Nacht, übergeben im Foyer des Studentenwohnheims unter konspirativen Auflagen. Die zwei Bände Notizbücher, von der irischen Freundin 1985 von Westberlin in den Osten gebracht  - Schmuggelware. Besonders kurios die Jagd nach den drei Bänden der „Ästhetik des Widerstands“. Vom „Vorankündigungsdienst“ (VD) elektrisiert, waren die üblichen Begehrgespräche mit befreundeten Buchhändlerinnen theatralisch geführt worden, als ich schier Unglaublichem ansichtig wurde: Eine kleine Buchhandlung in der Leipziger Innenstadt hatte, im Spätherbst 1982, mit dem nirgendwo auftreibbaren Objekt der Begierde das ganze Schaufenster für Stunden höhnisch und stolz dekoriert. Das erinnerte fatal an den Erwerb von Günter Kunerts Gedichtband „Unterwegs nach Utopia“, der 1980 nirgenwo erhältlich war, wohl aber zuhauf in der Armeebuchhandlung der Olbricht-Kaserne zu Leipzig, in der ich meinen Grundwehrdienst ablzueisten hatte. Nachdem also die unüppige Privatschatulle im Kauf mehrerer Dreibänder draufging und die Verteilung im Kaufpreis Freundschaften bestärkte, konnte ich endlich in die Klausur gehen. Die sah mich nicht ganz unvorbereitet, was nicht nur an den schmalen Appetithäppchen in „Sinn und Form“ oder den über die Mauer gewehten Nachrichten von Lesezirkeln um die „Ästhetik des Widerstands“ lag. Die somnambule Vergewisserungsarbeit in „Der Schatten des Körpers des Kutschers“, die Filigranrecherchen in „Abschied von den Eltern“, die Monströsitäten im „Marat“-Stück, das bohrende Fragen in „Trotzki im Exil“ hatten die Erwartungen an den neuen Weiss präzisiert. Die dokumentarischen Texte, „Die Ermittlung“ oder der „Vietnam-Diskurs“, hatten mich nicht gleichermaßen begeistern können, dieses Genre ging nicht nur mir in den achtzigern zunehmend auf die Nerven. Jedenfalls, wie viele andere auch, las ich dann die drei Bände in einem Stück und wie im Fieber.  

Worin aber bestand das Faszinosum? Es waren wohl vor allem drei Momente:

Erstens: Noch einmal wagt jemand die große Erzählung über die Geschichte und die Perspektiven der im Namen des Sozialismus das 20. Jahrhundert erschütternden Kämpfe, Eruptionen, Umwälzungen. Und dies in einer neuen Sattelzeit, in der im Westen die Desillusionierung der 68er zur Verabschiedung von „Meistererzählungen“ (Lyotard) in postmoderne Kleinteiligkeiten führt und im Osten die einsetzende finale Staatssklerose den offiziellen Marxismus immer mehr in eine irrationale Bizarrie vereist. Wer einen so monumentalen Kraftakt unternimmt, hat also Geschichte energisch gegen den Strich der Zeitgeistereien zu bürsten, um noch einen schmalen Zukunftsraum emanzipatorischer Hoffnung glaubhaft machen zu können. In atemberaubender Weise legt Weiss Tiefensonden in die Geschichte des Sozialismus, die ja immer zugleich die Geschichte seiner Depravierungen war. Multiperspektivisch wühlt er sich bis zu den biographischen Feinjustierungen in den Kräftekonstellationen, Verhängnissen, Kämpfen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.  Beharrlich forscht er dabei nach den Ursachen der verheerenden Niederlagen der europäischen Arbeiterbewegung etwa gegen den Faschismus in Spanien oder Deutschland, den Selbstverstümmelungen der zur Macht gelangten Kommunisten: Die Moskauer Prozesse, die schaurigen Folgen des Hitler-Stalin-Paktes, als Stalin deutsche Antifaschisten an Nazi-Deutschland ausliefert, das todbringende Wirken der GPU hinter den republikanischen Linien im spanischen Bürgerkrieg – keine der schmerzhaften Seiten der Sozialismusgeschichte bleibt ausgespart. Auch in diesem Sinne erschien mir die „Ästhetik des Widerstands“ mit den Worten Volker Brauns als ein ungeheuerlicher „Steinbruch [...], als immenses Material, freigelegt für andere Generationen. Überflüssig zu betonen, dass sie einen Gegenentwurf  zum Aussparungs- und Beschönigungsschrifttum vorstellte, wie es die Geschichtswissenschaft in der DDR auch in den achtziger Jahren noch meterweise produzierte. Und es ist auch heute noch ein Gegenentwurf zur triumphhöhnischen Geschichtswäscherei, wie sie die von Donnersmarck, Baring, Knopp oder Wehler in ihrer einfältigen Totalitarismusfixierung betreiben. Die es mit ermöglichen, dass 2007 ein mit Burschenschaftlern die erste Strophe des Deutschlandliedes intonierender Ministerpräsident und Weißwäscher des Hilfs-Freislers Filbinger von keinerlei Rücktritts-Forderungen behelligt wird.

Die radikale Selbstkritik des Kommunisten Peter Weiss, die der „Ästhetik des Widerstands“ eingeschrieben ist, wirkte elektrisierend. Dass sie Konsequenzen für seine Haltung in den innersozialistischen Auseinandersetzungender siebziger Jahre haben sollten, bezeugen seine „Notizbücher 1971 – 1980“, die ich Jahre später las. Immer mehr angeekelt vom „autoritären, hierarchischen Sozialismus“, der  zu „Duckmäusertum, zu Mittelmäßigkeit und Heuchelei“ erziehe, machte er sich stark für die prinzipielle Freiheit des Wortes, setzte er sich für Solshenizyn und Biermann nach deren Ausbürgerung aus ihrem Land ein. 1974: „Als marxistische Autoren in den kapitalistischen Län­dern kämpfen wir um die Rechte der Ausdrucksfreiheit, der Pressefreiheit. Wir wenden uns gegen jeden Über­griff des Staates zur Verhinderung unserer Gesellschafts­kritik. Wir können es in keinem Fall gutheißen, daß diese demokratischen Rechte in den sozialistischen Ländern unterbunden werden.“

Prophetisch muten Notate aus dem Jahre 1977 an: „Es ist heute für Kommunisten nicht mehr möglich, an autoritären Formen festzuhalten, die aus der Zeit des Personenkults stammen. Die Parteien, die dies, vor allem in den sozialistischen Ländern, dennoch praktizieren, müssen sich einer Krise entgegen bewegen, die ihre Existenz aufs Spiel setzt.“ Einen dicken Anstrich machte ich damals neben eine Überlegung aus dem Jahre 1978: „Wieviel Ohnmacht, hier wie dort, gegenüber den Mächten, die über die Entscheidungsgewalt verfügen, welche Kluft zwischen denen, die revolutionär, d.h. kompro­mißlos, die Abwälzung jeglicher Unterdrückungsfor­men im Sinn, denken, und den in ihrem Apparat eingeni­steten Funktionären und Bürokraten.“

Welche Unabgegoltenheiten!

Zweitens: Wenn wir schon dabei sind: Das Hauptwort des Werkes heißt nicht beiläufig „Ästhetik“. Weiss insistiert über es auf die Entfaltung aller humanen Kräfte, jener Verwirklichung  reicher Individualität in der freien Assoziation von Produzenten. Sie wird, etwa über die Figur des Heilmann, als Möglichkeit und Hoffnung imaginiert. Die Begegnung mit herausragenden Kunstschöpfungen der Menschheitsgeschichte (Pergamon-Altar, Ankhor What, das Gemälde „Floß der Medusa“ von Géricault, die Prosa Franz Kafkas) werden von Weiss als Erkenntnisprozesse großer Wucht, als Ausbildung sinnlicher Sensibilität, als menschliches Gegenpotential zur kapitalistisch-barbarischen Zurüstung des „Humankapitals“ vorgeführt. Beeindruckend war das Verschweißen von politischem und ästhetischem Lernen. „Kultur ist: zu wagen. Lesen zu wagen, zu wagen, an eine eigne Ansicht zu glauben, sich zu äußern wagen –„ so Peter Weiss in seinem Notizbuch.  Das nun waren deutliche Stachelungen gegenüber der notorischen Intellektuellen- und Kunstfeindlichkeit der politischen Kaste in der DDR. Das Programm einer energischen Besitznahme der Welt-Kunst und –Kultur durch die zuvor Ausgeschlossenen als unabdingbarer Bestandteil jeder Emanzipationsbewegung las ich hingegen bestätigend, erschien es mir doch schon selbstverständlich, ohne die Voraussetzungen komplex zu reflektieren. Ich konnte in der Spät-DDR meinen Kunst-Hunger ganz gut stillen, nicht nur, weil ich der literarischen Moderne von Musil über Kafka und Joyce bis zum französischen Surrealismus endlich über die landeseigenen Verlage habhaft werden konnte, sondern auch, weil ich als Germanistik-Student für 55 Pfennig ins Theater gehen konnte oder für 3, 55 Mark ins Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters.

Diese politisch gewollten Ansätze kultureller Volks-Bildung sind nach 1990 aufs Gründlichste zerschlagen worden, wie jeder weiß. Die Konzertkarte ist inzwischen schon für den mittleren Angestellten unbezahlbar, Bucherwerb Luxus, im Osten Deutschlands wurde ein Drei-Klassen-Bildungssystem implementiert, das nicht von ungefähr an das Dreiklassenwahlrecht des wilhelminischen Deutschlands anschließt. Die Lehrpläne für die anachronistischen Real- und Hauptschulen belegen, dass der Nichtgymniasast keinerlei Überblickswissen mehr erhält zur Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte. Beispielsweise. Meine achselzuckende Goutierung des Weiss-Entwurfes ist längst einer von ihm mit gespeisten Empörung gewichen.

Drittens: Das dritte Moment von Lebensprägung durch die „Ästhetik des Widerstands“  war, und das war ein epiphanisches Moment, die Vereinbarkeit von politischer und ästhetischer Radikalität: In den frühen achtziger Jahren glich, nicht nur in meinem Freundeskreis, die Berufung auf die Marxsche Kommunismus-Vorstellung einer Selbstentblößung, die eine Zuhälterei zum real existierenden Siechtum der Macht zumindest nahelegte. Zugleich erwies sich die gemeinsame Obsession für die „schwierigen“, zerrissenen Künstler, für Kafka, für Hölderlin und und und, als über die Zeiten haltbarer, als ich es damals ahnen konnte. Nach 1990 setzte dann das „Avantgarde-Bashing“ (Thomas Kling) ein, das bis heute anhält. Inzwischen hat sich der real existierende Kapitalismus zu der Kenntlichkeit entblößt, die er einige Geschichtsminuten verbergen musste. Peter Weiss hatte sich sowieso nicht täuschen lassen, und vielleicht hat uns Heutigen diese Fähigkeit ja etwas zu sagen. Immerhin: Das Zusammenschauen ästhetischer und politischer Frivolität gegen die umgreifende Lauheit bloßen Aufgehens in gesteuerter Marktgängigkeit, dafür stehen in dieser seltsamen Zwischenzeit immer noch Namen wie Braun, Hilbig, Endler, Kling, Falkner, und vielleicht werden wir uns für ganz andere Ästhetiken des Widerstands zu interessieren haben, um des Überlebens willen: die aus Südamerika kommen oder von den Polkappen.