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Peter Geist

 

„die ganzlust hab ich“ – zu den Gedichten von Andreas Reimann

 

Die überfällige Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk Andreas Reimanns, die nun endlich zum 60. Geburtstag des Autors vorliegt, umfasst Gedichte aus einem halben Jahrhundert.  Wenn es wahr ist, dass sich die lyrische Subjektivität im Werk eines Dichters, nach einer Bemerkung Georg Maurers, zumeist weniger entwickelt denn entfaltet, dann ist diese Entfaltung – Reimanns Verswort „weitrung“ meint Vergleichbares - in diesem Querschnitt auf das Schönste zu besichtigen. Begegnen wir doch am Anfang des Bandes Gedichten, die der 10-Jährige 1957 schrieb, während 2006 geschriebene Texte den Band runden. Sie zeigen einen Meister seiner Profession, wie es so viele denn doch nicht mehr gibt in Deutschland: Einen, der, indem er von sich spricht zu uns, die Welt aufzufalten versteht in der Welt des Gedichts, einen, der, indem er hart an den Heineschen „Weltriß“ stößt, eben diesen raffiniert und sächsisch-präzis mit eigener Güte dem steigenden, fallenden Vers anheimgibt, dass wir staunend sehen können, wie das Harte gewandelt und gewandet wird, auf dass der Faltenwurf entzücken kann. In diesen fünfzig Jahren ungebrochener poetischer Produktivität hat sich dieser Dichter längst in die Literaturgeschichte geschrieben und muss trotzdem nach einer langen Verschweigungsgeschichte  erst richtig entdeckt werden.

Andreas Reimann entstammt einer Leipziger Künstlerdynastie: Sein Großvater war Hans Reimann, einer der bekanntesten Kabarettisten der Weimarer Republik; eine innige Beziehung verband Andreas  mit der Großmutter, die in den zwanziger Jahren im Leipziger Cabaret „Retorte“ anspruchsvolle Chansons interpretierte. Sein Vater, ein in Satiremagazinen erst Ost, dann West hochgeschätzten Graphiker und politischer Karikaturist, floh 1953 in den Westen und kam 1955 mysteriös zu Tode. Seine Mutter, ebenfalls Grafikerin und Tochter des Malers und Pressezeichners, auch Cabaretisten Otto Pleß, beging 1954 Selbstmord. Das Kind wurde in ein „Jugend-Heim“ eingewiesen, wo sich der Siebenjährige unter Jugendlichen zu behaupten lernen muste. Diese ungeheuerlichen und verstörenden Verlusterfahrungen, die ein so schockiertes Kind zu verarbeiten hatte, waren sicher ein entscheidender Anstoß dafür, sie wenigstens projektiv, in der Imagination und Phantasie aufzufangen: Im Schreiben von Gedichten. Es gibt in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte durchaus vergleichbare Autorenschicksale, die dadurch bestimmt wurden, dass die lieblose und anonymisierende Kinderheimprägung den Aufbau poetischer Gegenwelten früh und bedingungslos anlegte: Lothar Walsdorf (geb. 1951)und Uwe Greßmann (1933 – 1969) entwarfen kindheitsher Imaginationslandschaften, die subjektiv ausgeklügelten Regelsystemen folgten und Rettungsversuch wie Obsession in einem waren. Während aber diese beiden Lyriker dem Ausbau dieser fiktionalen Sprachwelt alle Aufmerksamkeit schenkten, war Andreas Reimann bereits in seinen in kindlichem und jugendlichem Alter geschriebenen Gedichten darauf aus, den Behauptungsbezug zur umgebenden Welt auszustellen und die Regeln der Kunst als das zu nehmen, wofür sie historisch gewachsen sind: als Scharnier zwischen subjektivem Erheblichkeitsbegehren und den immer gesellschaftlich vermitelten Lasten von Tradition, Geschichte, Gesellschaft. Diese Mitgift als Glied einer Generationenfolge Leipziger Künstler, die immer schon in die Strudel der „großen“ Geschichte geworfen wurden, bedingte nicht nur frühe Weichenstellungen, sondern den Lebensweg.

Am Beginn der literarischen Karriere stand das von einer Schauerballade Otto Ernsts inspirierte Gedicht „Sturm“ des Zehnjährigen. Obgleich die Sturm- und Felsbilder noch völlig konventionell gehalten sind, fällt doch die Lust an klanglich-rhythmischer Verstärkung des evozierten Sturmgeschehens und der geschickte Zeilensprung im letzten Vers auf. Im Nukleus sind bereits Ingredenzien enthalten, die die Lyrik Reimanns auszeichnen werden: Der große Gegenstand, unbedingter Formwille, der hohe Ton. In der Folge veröffentlichte der Jugendliche Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften wie dem „Neuen Deutschland“, der „Neuen Deutschen Literatur“ und „Sinn und Form“, die die Leserschaft verblüfften: Ein Halbwüchsiger, der zarten  Sinn und kräftige Gebärde in asklepiadeische Odenstrophen empfahl und an die Sprachgewalt Ton Klopstockscher Oden, Hölderlins Hymnen furchtlos anschloss? Eine Erfolgsgeschichte schien sich anzubahnen, zumal der Lyriker und Professor am Leipziger Literaturinstitut, Georg Maurer, sich des jungen Dichters annahm und ihm die Gelegenheit eröffnete, an seiner Dichterschule zu studieren. Reimann avancierte zum „Benjamin“ der „Sächsischen Dichterschule“, wurde in einem Atemzug mit Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel genannt.

In den 1964 bis 1966 geschriebenen Gedichten ist die charakteristische Reimannsche Handschrift bereits  voll ausgebildet. Auffällig ist zunächst die formale Strenge: Mal sind es vierhebige Jamben mit männliche Kadenzen, die die Reime trocken und pointiert erscheinen lassen, mal Terzinen oder Distichen, die den Bau des Textes bestimmen.  Dieser konsequente Rückgriff auf tradierte Muster ist in das Vorhaben integriert, im poetischen Großtext das Ich-Welt-Verhältnis in weitgreifender geschichtlicher, eben auch literaturgeschichtlicher Dimension auszustellen. Dabei wird entweder ein metaphorisch ausfaltbarer Grundtopos („Rummelplatz“, „Fernfahrermonolog“, „Wartesaalnacht“) vorgegeben, oder aber die in der Überschrift mitgegebene Genrebezeichnung präferiert die Leserichtung: „Elegie in Buchenwald“, „Terzinen der erlebten Jahre“, „Elegie vom Schälen der Zwiebel“, Ode auf eine Ziegelwand“, „Ballade von zwanzig Jahren“. Die Orientierung an klassischen Gedichttypen wird zusätzlich unterstrichen durch die Integration mythischer Figurationen: So wird in „Fernfahrermonolog“ über Kronos und Poseidon der Titanensturz erinnert, in anderen Texten trägt ein prometheisches Selbstbewußtsein den Schwung der Verse. Freilich erscheint es auch augenzwinkernd-ironisch konterkariert, etwa durch abrupten Wechsel der Stilebene ins Jargonhafte.

Bei aller klassischen Strenge verleugnet Reimann jedoch nicht ein anderes Erbe: das der lyrischen Moderne. Besonders in der Metaphorik und in den Bildverknüpfungen erscheint er als Nachfahre Arthur Rimbauds – die „Terzinen der erlebten Jahre“ etwa verweisen auf Rimbauds „Das trunkene Schiff“ - , wie er sich ebenso genau in den Techniken lautbildlicher Evokation einer Seelenlage, wie sie George entwickelte, zu vervollkommnen trachtete. Er weiß die Bennschen „Wallungswerte“ in Klangmagie und harten Fügungen ebenso für sich zu nutzen wie die Möglichkeiten der Bildparadoxa, wie sie z.B. in der spanischsprachigen Lyrik von Alberti, Cernuda oder Neruda verfeinert wurden. Andererseits scheint dort, wo das Gedicht rhetorisch wird und Denkvorgänge nachbildet, der dialektische Sprachwitz Brechts durch. Doch auch die Barockdichtung darf nicht unerwähnt bleiben, wenn von Traditionsbindungen bei Reimann zu reden ist, nicht die Expressionsten, nicht Heine oder Goethe.

Dergestalt gerüstet, reißt sich der Sprecher wieder und wieder aus der gewöhlichen Schickung in die erstarrenden Verhältnisse in seinem Lande. Reimann setzt auf Aufbruch, Bewegung, Widerstand gegen Verfestigungen. So sehr  die Schlussverse der „Elegie von einem Freund“  flammen: „Ich flagge die fahne protest! / Wir müssen den rechnern, den greisen, / verderben das zynische fest...“, sie gehen über das in diesen Jahren flottierende Protest-Pathos im Namen der Jugendlichkeit  eines Volker Braun, Wolf Biermann oder Rainer Kirsch deutlich hinaus. Die Ich-Ansagen sind keine rhetorischen Konstrukte, sondern gesättigt mit existentieller Kontradiktion des Lebens auf Messers Schneide. Das Befragen von Verhältnissen, in denen „dürre bewußtseins-prothesen“ (Reimann), Phrase und Imitation verabreichter Ideologie den Inhalt sozialistischer Umwälzung mehr und mehr deformieren, war deshalb kein „Zeitungsgeist, aktionistisch tönend“, wie Volker Braun im „Rimbaud-Essay“ später über seine Jugendgedichte schreibt, sondern „rattenschschrill“ (Reimann) mit Erfahrung beglaubigt.

Andreas Reimann, dessen 1966 fertiggstellter Gedichtband „Kontradiktionen“ nie erscheinen sollte, rührte zudem im gleichen Atemzug ungeschützt an die offene Wunde Deutschland – „du haderland: mein vaterland“, heißt es wiederkehrend in der „Chronologischen Elegie“ - : Gedichte vergleichbarer Intensität, die „die verfluchte narbe aus zement“ zum Thema erheben, sucht man in der deutschen Lyrik dieser Zeit vergebens. Diese literaturgeschichtlich erheblichen Leistungen der Lyrik dieses Dichters harren nach wie vor des Eingangs in historische Aufarbeitungen.

Der Dichter bekam als einer der ersten die Auswirkungen des eisigen kulturpolitischen Klimas nach dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 zu spüren.  Anfang 1966 wegen „ablehnender Haltung gegenüber der Kulturpolitik der SED“ exmatriluliert, reagierte er darauf nicht etwa resignativ oder verbittert, sondern erleichtert und mit einem Produktivitätsschub, der sich in einem geradezu kosmisch-hymnischen Aufschwung in Langversen niederschlug, die in die Anrufung der Urelemente die Feier des Lebens betten. Dergestalt kann sich das sprechende Ich unter anderem als biblischer David figurieren: „(...) Ach, trug ichs schild / des david nicht, hab ich geführt / nicht ähnlich seinem steingeschoß / des wortes schleuder, war im heer / der schwächren ich nicht kampfgenoss?“.

Zur Erleichterung, nicht mehr institutionell mit ideologischen Doktrin in Abwägungsklammern verbunden sein zu müssen, kam eine Befreiung ganz anderer Art, die Entdeckung der eigenen sexuellen Orientierung, die sich fortan in einer Vielzahl sinnlich-derber wie zarter Liebesgedichte fortschreiben wird.

Nach der traumatisierenden Armee-Zeit – Reimann wurde im November 1967 zum Grundwehrdienst einberufen und nach einem Suizidversuch vorzeitig entlassen -,  beflügelte hernach der Prager Frühling den Griff zur Feder. Die brechtisch-aperçuhafte Tüpfelung „Frühling“ fasst den neidvoll-hoffnungsfrohen Blick aufs Nachbarland. Der Schock über Niederschlagung des Prager Frühlings saß tief, und er sollte einschneidende persönliche Konsequenzen zeitigen: Im Oktober 1968 wurde Reimann verhaftet und wegen „staatsfeindlicher Hetze“ für zwei Jahre ins Gefängnis expediert: ein Lebenseinschnitt, aus dem der Autor übrigens nach 1989 anders als viele andere kein Vordergründigkeitskapital schlagen wollte. Aber es war ein Einschnitt, der in einer existentiellen Notsituation die eigene Berufung nachhaltig klärte. Reimanns Lebenswille, bestärkt durch die in die Zelle mitgebrachten Stimmen der Dichterinnen und Dichter, konnte sich an den selbst unter extrem eingeengten Bedingungen möglichen Entdeckungen in karg „zugeteilter“ Natur erhalten, denen er z. B. in „Kamille“ oder „Keine Erinnerung als die“ sprachliche Dauer verlieh: „(...) / obzwar doch die krähe wie anderswo schrie: / von allem vergessnen vergesse ich nie: / himmel, beflogen, septemberblau.“ Im Gefängnis entstand auch das Gedicht „Figurationen der Farbe rot“, das noch nach seiner Erstveröffentlichung in Reimanns erstem dann in der DDR veröffentlichten Gedichtband für erregte Diskussion in der Zeitschrift „Temperamente“ sorgte. Was in Gedichten Mitte der sechziger Jahre noch als Vorsatz und Handlungsmaxime in Mythologeme und Großmetaphern eingebunden worden war, führt Reimann jetzt als poetische Sprachbewegung selbst vor: Dem Herrschaftsdiskurs die alleinige Deutungsmacht über politische Symbole abzusprechen bedeutet nun, unterhalb des Symbolischen zu bleiben, Bedeutungen sinnlich zu entfächern, an die individuelle Erfahrung und Würde des Einzelnen zu binden und darüber  Möglichkeiten des Symbolischen erst lebendig wiederzugewinnen. Deshalb steigt das „große rot“ nun hundertfarbig in seinen sinnlichen Erscheinungen „von des pfirsichs milde(r) tönung“ über „stöckelschuh“ bis „der freundin mund“ im Gedicht herauf, das resümiert: „in allen farben sag ich: rot, rot, rot!“ Andreas Reimann gehört gewiß zu den Autoren der DDR, denen – nicht allein durch die Haft, sondern durch fortwährende Publikationsverweigerung und durchgehende Observierung – am übelsten mitgespielt wurde. Dass er dieser Zerstörungs- und Zermürbungsarbeit mit ästhetischer wie philosophisch-politischer Kreativität entgegnete, ist bewundernswert genug; dass er sich darüber hinaus nicht beirren ließ, dem emanzipatorischen, aufklärerischen, sensualistischen Utopievorschuß sozialistischer Gesellschaftsvorstellungen Lebenskraft zuzubilligen, ist gleichwohl imponierend. Zumal er genötigt wurde, sich nach der Haftentlassung 1970 zunächst als Lager- und Transportarbeiter, Brauereihilfsarbeiter oder als Lohnbuchhalter durchzuschlagen. Der damit verbundene Zugewinn an sozialer Erfahrung floss in etliche Gedichte der siebziger Jahre ein: Gedichte wie „Bericht“ oder „Die Ausgezeichnete“, aber auch „Etliche Dichter“ würdigen, nicht ohne Polemik, Lebensschicksale abseits der öffentlichen Scheinwerfer. Überhaupt kündet das lyrische Werk dieser Jahre von einer Feier des Daseins, die staunen ließe angesichts des biographischen Hintergrunds, aber dann hätte man die zahlreichen Fingerzeige in Hexametern und Distichen überlesen: auf Reimann den Epikuräer, Reimann den Stoiker, Reimann den Dialektiker. Etwa diese Widmung, die dem Gedichtband „Die Weisheit des Fleischs“ vorangestellt ist: „An alle // Nichts mehr, ich bitt euch, an mitleid vergeudet, um mich zu erheitern! / Denn ich bin glücklich. Wieso? Nichts blieb mir jemals erspart.“

1975 wurde im Mitteldeutschen Verlag die überfällige Veröffentlichung eines Gedichtbandes endlich bewerkstelligt. Dass der Erstling einen beträchtlichen Erfolg für sich verbuchen konnte – er erlebte, für einen Gedichtband ungewöhnlich, drei Auflagen -, hing sicher auch ein wenig mit dem Umstand zusammen, dass Reimann 1974 in der Akademiezeitschrift „Sinn und Form“ mit einem essayistischen Rundumschlag gegen den Vormarsch des Dilletantismus, der Anspruchs- und Formlosigkeit in der jüngsten DDR-Lyrik für Aufregung sorgte. Längst war Reimann eine Instanz geworden, die er ungeorgisch trotz auffälligem Jünger-Kreises akzeptierte.  „Die Weisheit des Fleischs“ ist wahrlich ein aussagekräftiger Titel. Kein anderer deutscher Lyriker hat so sinnenkräftig und in opulenten Bildfindungen die leiblichen Genüsse des Essens, Trinkens, Liebens, des Gespräches mit Freunden im dichterischen Wort geadelt. „die philosophie vom genießen der welt“, wie es in dem vom Autor als „Hungerphantasie“ apostrophierten Gedicht „Rede an eine reichliche Mahlzeit“ heißt, schließt dabei stets die Anmut der Form und eine Widerspruchsdialektik der Reflexion ein, wie in „Glücklicher tag“: „(...) Gäste gen abend. Ihr rotweingelächter / nachthin. Da nehmen mich ein und mich ernst / die freunde, denn nun widersprechen sie mir./ (...)“. Diese Grundhaltung, übergenug in den Lebenserfahrungen beglaubigt, ist nie Koketterie, vielmehr Essenz, noch im Bedenken der Liebe: „Denn wie alles, das wächst: liebe ist widerstand! / Treibt der baum nicht den saft wipfelempor: er ist / nichts als holz. Und wenn währte / nicht die lust der geschlechter: dann / wäre sinnlos die lust unserer hände(...)“

Solcherart Ästhetik der Gegensätze in Gegen-Sätzen führt Reimann in dem 1979 veröffentlichten Band „Das ganze halbe Leben“ stringent weiter. Im Vergleich beider Gedichtbände fallen einige Akzentverschiebungen auf:  Barock-wuchernde Langverse sind jetzt seltener anzutreffen, die Orientierung auf Gedichtformen wie das Sonett oder die Stanze kommt der Präzision des Auszusagenden zugute. Eine Stärke der Gedichte in diesem Band besteht darin, dass Reimanns Sehweise auf die Welt frei von Selbstgerechtigkeit ist, dafür aber von sensueller und sensibler Neugier getragen wird, die das angesprochene Andere, egal ob es sich um das Land oder einen geliebten Menschen handelt, in seinen Eigenwert anerkennt, ohne die Not des Begehrens, den Widerspalt zwischen Vernunft und Extase-Verlangen kleinzuschreiben.  Diese eher klassisch zu nennende Haltung prägt in besonderer Weise die Liebesgedichte, die oft dem komplizierten Wechselspiel von Nähe und Freiheitsgewinn nachspüren.

Reimanns Fähigkeit, dialektischen Witz einprägsam in das Widerspiel von Vorgang und Reflexion, Rhythmus und Reim zu betten, prädestinierte ihn für ein benachbartes Genre: den Liedtext. Bereits Ende der sechziger Jahre hatte er begonnen, Songtexte für befreundete Liedermacher zu verfassen, und die poetische Qualität seiner Texte sprach sich rasch herum. Seit den siebziger Jahren entwickelte der Lyriker ganze Programme für Liedermacher, u.a. für Hubertus Schmidt, Stefan Krawczyk, Andrea Telemann, Susanne Grütz, Joachim Schäfer u.a., Programme, die bei den „Tagen des Chansons“ in Frankfurt a. O. in schöner Regelmäßigkeit die Preise einfuhren. Als sich in den achtziger Jahren die Hoffnungen auf einen neuen Gedichtband zerschlugen, weil Reimann sich öden Kompromissen verweigerte, avancierte das Schreiben für Liedermacher und Rockgruppen immer mehr von einer schönen Neben- zur Hauptsache. Andreas Reimann hat im Laufe der Jahre rund fünfhundert Songtexte geschrieben, einige, wie „Will an Deinen Leib mich fügen“ wurden, in der Interpretation der Gruppe „Lift“, überaus populär. Der vorliegende Auswahlband konnte nur einige wenige dieser Texte aufnehmen. Dafür aber etliche Gedichte, die Reimann nach Manuskriptabgabe des zweiten Gedichtbandes 1976 schrieb, aber noch nie veröffentlicht wurden. An vielen Texten aus dem Verfallsjahrzehnt der DDR fällt die gehärtete Diktion ins Auge, die Raum schafft für einen düsteren Humor, für ein zorniges Einsprechen angesichts der Zustände im Land. „Zustand“ ist ein Gedicht aus dem Jahre 1978 überschrieben, das mit Befund endet: „Wir haben uns eingerichtet / in provisorien, / die haltbarer scheinen / als der beton / an der grenze des lands.“ Nicht zu übersehen ist indes, dass in den achtziger Jahren auch Trauer und Beängstigung Eingang in den Vers finden. Nun klingt ein Gedicht mit dem aufschlussreichen Titel „Wenn meine verse dunkel sind“ 1986 lapidar wie bitter aus: Im großen zirkel der idee: / wo bin denn ich? / Die goldnen berge / zergehn wie unser armes fleisch. / /Die mauer steht. / Ich / fall.“

Als drei Jahre später die Mauer fällt, treffen die geschichtlichen Umbrüche den Dichter alles andere als unvorbereitet. Wiewohl er nach 1989 neue Gedichte in gebündelten Häppchen – erotischen Gedichten, Italien-Reminiszenzen, Song-Texten und Sonetten  – unter rührige Verleger-Enthusiasten streute, sollte es allerdings bis 2004 dauern, bis mit „Zwischen den Untergängen“ nach reichlich 27 Jahren (!) wieder ein gewichtiger Gedichtband dieses Lyrikers erschien.

In der neuen Schaffensphase seit 1989 seien drei intentionale Schwerpunkte hervorgehoben: Eine erste Gruppe von Gedichten setzt sich den politischen Erdbeben dieser Jahre ins Verhältnis und den Verwicklungen des sprechenden Ich mit der Historie. Vom Dichter als „Überlebenszeichen“ apostrophiert, sind sie nicht allein grimmige „Wende“-Notate und poetische Gänge ins Dunkle der eigenen Lebensgeschichte, es sind dabei auch kräftige Schläge ins Kontor neudeutscher Mythenproduzenten. Die in den Umbruchzeiten geschriebenen Gedichte bezeugen eine Hellsichtigkeit, die als Ausweis poetischer Qualität gelesen werden kann. In „Dialog“ konterkariert Reimann die bizarren Illusionen des 89er Herbstes: „Wahrlich, sie singt, die versinkende art: / als ob sie die wellen verschlängen! / Doch höre, sie haben die worte bewahrt!-/ Welche? Die heitren, die strengen?- / Die immer-worte, zusammengespart / für eine weitere gegenwart: / `Zwischen den untergängen / sind wir noch immer in fahrt!`“

Auch in anderen Gedichten  befleißigt sich der Dichter einer komplexen Reflexionsfigur, deren Muster ich anders bei Heiner Müller, Volker Braun, Harald Gerlach, Wilhelm Bartsch oder Karl Mickel wiedererkenne: Geschichte wird zum Geschichteten der Ablagerungen früheren Lebens, Liebens und Sterbens, zum „tektonischen Vorgang, als [...] Vorgang in der Tiefe“ (Volker Braun). Das ist dann weniger eine anthropologische Geschichtskonstruktion als der Versuch, über die Evokation älterer als der aktuellen Geschichtsverwerfungen wenigstens metaphorische Haltepunkte in den Eruptionenen der Gegenwart zu finden. Nicht zufällig greift Reimann auch auf Gestus-Zitate Hölderlins zurück, gleichsam als Selbstversicherung gegenüber dem Einbruch banal-grausamer Marktrealitäten mit ihrer inhärenten Geschichtslosigkeit: „Zerfallendes, immer noch, ewiglich. Auch / das langsamwüchsige zarte gesträuch / ist rege beteiligt an der zerstörung  / des wohnlich gewesnen, und lieblich bedünkt / den makler / das bäumchen, dem er verweigert / die gründung im grunde, sofern es verklimmt / sich droben im dachstuhl.“ Reimann ist stets auch als ein politischer Dichter zu nennen, der den Fallstricken jedweder Ideologie deshalb entgehen konnte und kann, weil Wahrnehmungswachheit, Kunstbewusstsein und Wahrheitssinn sich stets noch uneinnehmbar für jedwede Interventionsinteressen erweisen. Ein seltener Fall von hochgemuter Lauterkeit. Und daher auch seine unopportune Mitleidlosigkeit in der „Widerrede“: „Du warst es doch, der da blökte einst hinter der mauer, / es wäre die freiheit dir teuer! Nun ist sie´s halt auch“.

Diese neue Freiheit erkundet Reimann in einer „Kleinen Emigration“, in einer zweiten Gruppe, die man etwas unscharf als „Reisegedichte“ bezeichnen könnte. Den es da „in den wettern europas“ umtreibt, der da außerhalb Deutschlands als Fremder mehr im Einklang mit sich schaut und staunt als daheim,  der  schaut und staunt weniger als Reisender, der bewegt sich auch dort am Weltspalt: „Meine freude / ist würziger honig, ist bitterer hohn. / Und es siehet das schöne/ nur jener, der abwendet sich.“ Die Reisen in den Süden sind allerdings auch Fliehbewegungen aus einem zunehmend fremderen Deutschland: „(...) Du sagtest ‚reisen!’, / und du meintest ‚fliehn!’ / aus dieser grellen, absoluten leere, / wo gar gebete falln ins ungefähre. / Noch spricht der priester. Aber, ach, wohin?“ Es wundert deswegen wenig, wenn der Dichter gerade auf Reisen die Kontaktnahme sucht mit außer Landes ge- bzw. vertriebenen Kollegen wie Goethe, Klaus Mann und anderen.

Eine dritte Gedichtgruppe stellt sich in vegetativ-kreatürlich unterlegten Bildläufen den großen Themen von Lieben und Sterben, Werden und Vergehen. Intensiv gezeichnete Bilder der Natur, oft mit biblischen Motiven bereichert, verhehlen dabei nie die Nähe von Schönheit und Schrecken, etwa wenn „Der kirschbaum wie eine kaskade von blut!“ („Der Kirschbaum“) erscheint. Wenn überhaupt, erscheint das Rettende in der Liebesbegegnung, wie im dem Lebensgefährten gewidmeten „Große(m) Liebesgedicht“, das sich „fröhlichen sinns“ erklärt.

Andreas Reimann hatte 2001 bereits einen Band Liebesgedichte unter dem Titel „die männlichen zeitalter“ veröffentlicht. Die Schlussverse des auch in dieser Auswahl vertretenenen „Notate zu einem Satz des Klaus Mann“ enden: „ Aber es ist eine liebe / wie eine andere auch, // Freilich erst dann, wenn kein Mensch mehr versteht, / warum und wieso und weshalb einer das sagt.“ Diese sanfte aufklärerische Utopie erfährt ihre Bekräftigung dadurch, dass die geläufigen Vorurteile und in urbanen Gefilden eher sublimierten Diskrimminierungen immer wieder ins Blickfeld geraten müssen. Dabei ist es erotischer Literatur gleich welcher Coleur um einen komplexeren sinnlichen Genuß angelegen: Deshalb werden Leser mit anderer sexueller Disposition mit einiger Selbstverständlichkeit dort auf ihre Kosten kommen können, wo das Gedicht über den homoerotischen Aspekt hinausweist. Was bei Reimann wohlkalkuliert ist.

Was kann man diesem exzellenten Dichter der „ganzlust“ (Reimann) zum Jubiläum noch wünschen? Vielleicht das „tübingen-grün, / das würde gar gern sich vermehren“, wie in einem 2006 geschriebenen Gedicht notiert? Auf jeden Fall aber, dass der hiermit vorliegende repräsentative Auswahlband aus dem reichen lyrischen Schaffen dazu beitragen möge, einem der bedeutenden deutschen Lyriker der Gegenwart jene Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die er sich schon seit langem schreibend verdient hatte.