Peter GeistSatzzeichen eines alten GesprächsZu den Gedichten von Ron Winkler„Hinter den Schaufenstern der verriebenen Wahrnehmung hebt sich
Atlantis“, eröffnete Ron Winkler in einer im Jahr 2000 geschriebenen
Selbst-Diagnose. Einen Zwischenaufenthalt auf dem Wege dorthin, wo man gewöhnlicherweise
nie hingelangt, generieren die im vorliegenden Band versammelten Gedichte. Sie
überraschten mich, als ich ihnen begegnete, denn vorbereitet war ich auf
hart gefügte, medien-, theorie- und geschichtssatte Gebilde, die von
hochreflektierter Umtriebigkeit Zeugnis geben. Statt dessen, mit Ausnahme des
den Band beschließenden Satyrspiels, ereignen sich lyrische Dokumente einer
Ausscherung: Um aufleuchtende glimpses (T.S.Eliot) herum tuscht Winkler
Ausfühlungen und Sprachweitungen im Spannungsfeld von Wahrnehmung,
Sprachintuition, Reflexion. Unüberlesbar deshalb das Bemühen um Konzentration
auf das tragende Bild und darauf, in den behutsamen Erweiterungsgängen die
Sprachspannung aufrecht zu erhalten. Den Großteil der Gedichte tragen Naturetüden,
inspiriert von einem Stipendienaufenthalt an der Ostseeküste. Ihnen eingeschrieben
ist die Verlangsamung der Aufnahmegeschwindigkeit von Eindrücken, kontemplative
Einkehr des sprechenden Ich. So weit, so traditionell. Was aber die Gedichte
Winklers von herkömmlicher Introspektionspoesie unterscheidet, sind vor allem
drei Momente: ihr oft dialogischer Charakter, die Einspeisung von Reflexion als
primäre Metaphernglieder, die Behandlung von Wahrnehmungsnotaten als
Zeichenmaterial. Das Dialogische durchstöbert immerhin einen Großteil
der Texte, unaufdringlich (weil die simplen Tricks mit der ich-du-Sprecherinstanzen-Verwechslung
vermeidend), aber konzeptionell: „einer Antwort // stellst du dich (Sand
aufs Herz) quer, / weil du sofort das Licht eine Seife nennst, die die von
Gischt Geschädigten nachtreif wäscht.“ („Junifigur“). Das Querstellen
von Dialogpassagen in den Text, egal ob es sich um Replikation von tatsächlichen
oder um vorgestellte Gespräche handelt, zeitigt Auswuchtungseffekte, die den
Gedichtgang mehrschlüssig aufrauhen, ohne in
jene Prosa der Geschwätzigkeit abzugleiten, die erinnerte Gesprächsfetzen in
Parlando-Gedichten allzuoft produziert. Eine durchgängige Eigenart der Gedichte Winklers besteht
darin, dass in ihnen Landschaft als Welt und Landschaft als Text ineinander geblendet
werden. Landschaft als Textur, Textur als Landschaft. Die „kleine maritime
Poetik“ bringt es auf den Punkt: „[...] die Brandgänse / über dir lassen
sich damit nicht löschen. / sie bleiben übrig, der Text bleibt dahinter / zurück,
verbreitet das Bild eines Menschen, / der Steine aufliest als Bilder.“ Der
Prozess der Signifikation erscheint, durchaus im Sinne Derridas, symbolisch
als unabschließbar, weil jede Benennungsbewegung eine neue Benennungslücke
offenbart, in die die poetische Phantasie springen und neue Bildbewegungen
auslösen kann. Changierend zwischen „Eigenschaften und Landschaft“,
begibt sich das sprechende Ich auf die Suche nach „eine(r) diskrete(n)
Bedeutung“ („Robinsonmoment“), sprich: der unerhörten Sprachfindung. Man
lasse sich nicht durch die eingebundenen Begrifflichkeiten aus Sprach- und
Texttheorien – so ist ein Gedicht mit „Strandsemiotik“ überschrieben,
einen „sanddornfarbigen Sonnenaufgang“ gibt’s als „Supplement“, und
noch streunende Hunde erscheinen als „Zitate aus verschiedenen Texten“
etc. - täuschen: Nicht wissenschaftliches Erkenntnisinteresse grundiert die
Texte, es ist nur einer der Haken, an denen die Ausflüge ins Exorbitante
abgesichert werden. So führt etwa das IX. Stück des „Septemberalbums“ über
das Signalwort „Signifikanten“ in die Aufmerksamkeit des Paradoxons
„badende Akte“ (Hervorhebung P.G.) und lässt den Text gleichsam in
Bedeutungsübertragungen kreiseln: „es gäbe schließlich Orte, die seien bloß
noch / Signifikanten.beinahe unbefugt / für sich selbst. Die See etwa: / ein
abgetretener Teppich, wie blind / suchten Wellen badende Akte / am Strand.“
Überhaupt sind viele neue Gedichte Ron Winklers Fingerübungen darin, über den
jähen Wechsel der Bedeutungsebenen und –zusammenhänge poetisch aufgeladene
Plötzlichkeitsmomente zu evozieren, etwa, wenn ein örtliches Genrebild unvermutet
in eine zeitliche Bewegung getaucht wird: „ein Tross Pappeln wandert am
Fluss / in den nächsten Monat“. Das sind so Gedichte, die langsam am Gaumen
zu schmecken hohen Genuss versprechen, am besten zu zweit, vorausgesetzt, man
entkommt für Momente den Schlieren allgegenwärtiger Motorisierung der Sinne.
In
seinem poetologischen Statement „Der Blick aus dem Gehör“ bestimmt
Winkler etwas kryptisch Lyrik als Kartografie: „In den Sekunden, die zum
Gedicht führen, alterniert die Wahrheit des Gedichts zwischen Synchronisation
und Dissonanz mit und zur Realität. Lyrik ist die Kartografie einer
Sichtbarwerdung, deren Ursachen so unklar sind wie die Folgen.“ Sichtbar
geworden ist der Lyriker Ron Winkler in den letzten Jahren allemal, zunehmend
auch außerhalb jenes sympathischen Netzwerkes, das sich mit dem Namen der von
ihm verantworteten Literaturzeitschrift „intendenzen“ verbindet. Peter Geist, Berlin, Februar 04
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