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„Transit Europa. Der Ausflug der Toten“ – Seghers´ Antizipation geschichtlicher Sackgassen – neu befragt durch Volker Braun

 

„AFRIKA. Sie tanzten auf Deck; sie tanzten schluchzten stampften über die Kontinente. Flüchtlinge und Eroberer, VORWÄRTS MARSCH, AVANTI POPOLO. Die Wahrheit ist: sie sind alle nicht angekommen. Jedenfalls nicht dort, wo sie wollten. Auch wenn sie zwei Beine hatten, auch wenn sie eine Hoffnung hatten, ein Ziel. Die Wahrheit ist, sie haben es nicht erreicht.“[1] Was für ein eigenartiger Text, eine tanzende Resignation. Als ich ihn  jüngst las, sonorte im Hintergrund die Stimme jenes Mannes, der einst Ulrike Meinhof verteidigte, dann den symptomatischen Weg der Satuierungslinken ging und nun am rechten Rand der bürgerlichen Demokratiefolklore angelangt war, als er im Oktober 2004 Lager für Flüchtlinge aus Afrika auf afrikanischem Boden vorschlug, im energischen Einvernehmen mit Herrn Berluscon-Ui. Derselbe Ideologieterror, der unablässig den „flexiblen“ Gummimenschen einfordert zu seiner effektiven Verwertbarkeit, will und wird wahrscheinlich statuarische Exempel bei denen exemplifizieren, die von Verwertungsinteressen nicht einmal mehr tangiert werden. Das Innerste Afrika  hat als Metapher des gefährlichen, interessanten Lebens seit Joseph Conrad[2], immer wieder aufgegriffen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, endgültig ausgedient.

Aber – dieser Text ist fast zwanzig Jahre alt und greift wiederum einen 40 Jahre älteren Text auf. Die Sätze entstammen dem Prolog des 1984/85 geschriebenen Stückes „Transit. Der Ausflug der Toten“ von Volker Braun, und gesprochen werden sie von der Gestalt eines „Schwarzen“. Dass sie wie aktuelle Einlassungen zur Weltverfassung gelesen werden können, ist der Hellsichtigkeit der Autoren, ihrer menschheitlichen Dimensionierungsfähigkeit und ihrem artifiziellen Vermögen geschuldet. Um diese Vermögen genauer erfassen zu können, soll im folgenden erkundet werden, welche Aspekte in Anna Seghers` „Transit“ den Autor Volker Braun affizieren konnten, desweiteren, wie Volker Braun die Stoffvorlage transformierte und welche intentionalen Schwerpunkte er dabei setzte.

 

1.    Der Roman „Transit“ als Interessengrund

 

Anna Seghers´ Roman hat seine Kritiker von jeher entzweit. Mal wurde er in die Nähe Kafkas (Marcel Reich-Ranicki)[3], dann des französischen Existentialismus (Paul Rilla)[4] gerückt, dann wieder wurde das angeblich „dokumentarische Kaleidoskop vom Schicksal antifaschistischer Emigranten“ ( Jan Hans)[5] gewürdigt. Allein Heinrich Böll bekundet früh uneingeschrängten Respekt unter Kollegen, wenn er festhält: „Ich bezweifle, ob unsere Literatur nach 1933 viele Romane aufzuweisen hat, die mit solch somnambuler Sicherheit geschrieben, fast makellos sind.“[6] Hier wäre ein Bogen zu schlagen zu Volker Brauns Einschätzung, der in seinem Essay „Das Versteck der Seghers“ die Segherssche Romanvorlage als „Meisterstück“[7] bezeichnet, dem sich, wie er in Arbeitsnotizen 1985 festhält, sein Drama „nur bescheiden und probeweise zur Seite stellen“ könne:

„Ihr von mythologischen Motiven gesättigtes Meisterstück Transit, rasch, auf der Flucht geschrieben, eine schmerzlich betörende Liebes- und Verlassenheitsgeschichte – eines übrigens männlichen Erzählers -, bleibt der rätselhafteste und enthüllendste Text.“[8]

Brauns Bezeugung lässt bereits die Interessenlagen ahnen, die ihn dazu bewogen, den Segherschen Roman als Dramatisierungsgrund anzunehmen. Und von vornherein ist für ihn klar, dass sein Stück einen modellhaften Charakter haben wird. Aus den Arbeitsnotizen:

„und das exil kann nur modell sein für die heutige befindlichkeit, für unser aller leben im übergang: die wir den alten kontinent unserer gefährlichen gewohnheit und anmaßenden wünsche verlassen müssen, ohne doch das neue ufer zu erkennen zwischen uns.“[9]

Nehmen wir zunächst diese Impulse auf und beziehen sie auf die Seghersche Romanvorlage:

1.1. „der rätselhafteste und enthüllendste Text“ – die Seghersche Bauweise als Rezeptionsimpuls

Das Attribut rätselhaft , wiewohl Auszeichnung aller großer Kunst, führt uns ohne Umwege zur scheinbar verwirrenden Strukturierung des Romans. Anna Seghers hatte etliche Interpreten auf eine falsche Realismus-Fährte gelockt, als sie in einem Brief an Lew Kopelew das understatement in die Welt setzte, der Roman sei an „eine einfache klare Handlung geknüpft“: „Was mit dieser Frau und ihren zwei Freunden und ihrem toten Geliebten passiert“, schreibt sie, das gleicht der Handlung von [Racines] Andromaque: Zwei Männer kämpfen um eine Frau, aber die Frau liebt in Wirklichkeit einen dritten Mann, der schon tot ist. Jetzt habe ich Ihnen einen ganzen Haufen verraten.“[10] Hier gleicht Anna Seghers dem namenlosen Ich-Erzähler, der weglässt, untertreibt, täuscht und einen hochaufmerksamen Zuhörer-Leser erfordert. Denn „Transit“ ist in Wirklichkeit ein hochkomplexes, modelliertes Kunstgebilde, dessen vielfältige Abbildbezüge nicht darüber hinwegtäuschen können, dass hinter dem erzählten Geschehen weitere Ebenen in Betracht gezogen müssen, um das kunstfertig geknüpfte Erzählgewebe zu erfassen, die mythologische oder die intertextuelle, beispielsweise. „Alle Welt ist bei Anna Seghers gleichzeitig auch mythische Welt“[11], hatte einmal Hans Mayer bemerkt, und der aufmerksame Leser wird kaum über den Niemand-Erzähler Odysseus, den Kapellmeister Sisyphos, den Zyklopen in der mexikanischen Botschaft oder jene gehetzte Diana mit ihren Hunden beim Transitbegehren[12] hinweglesen können.

Gleich auf der zweiten Seite des Romans gibt der Erzähler einen allegorischen Fingerzeig darauf, dass in diesem Buch nichts so ist, wie es scheint: „Die Pizza ist doch ein sonderbares Gebäck. Rund und bunt wie eine Torte. Man erwartet etwas Süßes, da beißt man auf Pfeffer. Man sieht sich das Ding näher an, da merkt man, daß es gar nicht mit Kirschen und Rosinen gespickt ist, sondern mit Paprika und Oliven.“[13] Hans-Albert Walter hat in seiner fulminanten Studie „Anna Seghers´ Metamorphosen. Transit - Erkundungsversuch in einem Labyrinth“ minutiös nachgewiesen, dass „Umfunktionierung und Verwandlung, Montage resp. Collage und Metamorphose die Elemente (sind), die diesen Roman handwerklich-kompositorisch im Innersten zusammenhalten.“[14] Und welchen Beruf gibt der namenlose Erzähler an ausgeübt zu haben: Monteur!

Die Grundkonstruktion des Romans hat Braun ganz offenkundig fasziniert, was Wunder, denn die Bauweise seiner eigenen Stücke ist seit den siebziger Jahren durch eben jene Elemente geprägt. So hält er in „ratlose(n) notizen“ 1988 als Inszenierungsvorgabe fest:

„die zersprengte form nicht wieder zu einem brei rühren, sondern das ausgegrenzte draußenhalten, damit es um so unwiederstehlicher hereinbricht. die distanzen im material nicht verkleinern, sondern ausstellen. Wo noch, in den greifbaren beziehungen der im historischen raum eingesperrten personen, die >form gewahrt< wird des bekannten ablaufs, ist er doch irritiert durch die hineinragenden gegenwelten.“[15]

„Die hineinragenden Gegenwelten“ bilden bereits ein wesentliches Gestänge im Segherschen Roman. Auf sie gründet das Rätselhafte bzw. mit den Worten der Seghers: das Verzaubernde. Wie fasst der Erzähler seine Gefühle zusammen, nachdem er das Weidel-Manuskript gelesen hatte: „Ich war verzaubert.“[16] Zu erinnern ist an dieser Stelle auch an die Auseinandersetzung Anna Seghers´ mit Georg Lukács 1939, der im übrigen in die alles andere als freundlich gezeichnete Figur des Schriftstellers Achselroth Eingang in den Roman fand. In einem Brief an Lukács schreibt Anna Seghers:

„In den letzten fünf Jahren sind öfters Genossen zu mir gekommen, begabte und wenig begabte und unbegabte, im Vollbesitz der Methode des Realismus, Gestalter, nicht Beschreiber, so glaubten sie wenigstens. Was mit dem >Zauberlehrling< passierte, war noch eine Idylle, gemessen an dem, was diese Freunde anrichteten. Sie hatten es fertiggebracht, die Welt ganz zu entzaubern.“[17]

 

1.2. Modell für heutige Befindlichkeit – Seghers „Transit“ und Brauns „Grenzüberschreitung“

Dem Modellcharakter der Romankonstruktion entsprechend weist der Seghersche Titel „Transit“ weit über die erzählte Situation der Flüchtlinge hinaus. Die Übergangssituation wird als extreme Krisen- und Bewährungszeit gekennzeichnet, als ungewisse Zeit zwischen nicht mehr und noch nicht, in Anlehnung an Joseph Conrads „Der goldene Pfeil“ als gestreckter Moment gefährlichen Lebens. Der Titel verweist aber über das Transitäre des Einzellebens hinaus, wie Kurt Batt in seinem Seghers-Buch 1973 treffend anmerkt:

„Vielmehr steht er (der Titel des Buches) stellvertretend für eine umfassende Bewährungssituation, für eine Krise, in die Europa und die Welt geraten war, für einen Durchgangsprozeß, in der die Festigkeit der menschlichen Beziehungen einer Zerreißprobe ausgesetzt wird und die Flucht sich als Flüchtigkeit im Inneren der Menschen einzunisten droht.“[18]

Mitte der achtziger Jahre befand sich der Dichter Volker Braun in einer Phase einschneidender Umorientierung sowohl in ästhetischer als auch in politisch-philosophischer Hinsicht, auf die noch genauer zurückzukommen sein wird. Gleichzeitig mehrten sich im Schatten der atomaren Vernichtungsgefahr und ökologischen Verheerung in den Industriegesellschaften Zeichen weltpolitischer Umbrüche, von denen man noch nicht ahnen konnte, welche Richtung sie nehmen. Insofern liegt eine Affinitätskorrespondenz zwischen dem Segherschen „Transit“-Symbol und dem Braunschen Terminus der „Grenzüberschreitung“[19] auf der Hand: Für einen Dichter, der von Beginn an den geographischen Terminus „Grenzüberschreitung“ in einen politisch-philosophischen, erotischen und ästhetischen Grundtopos seines Schaffens anverwandelte, musste das Seghersche Transit-Labyrinth erregende Anknüpfungspunkte bereit halten.

In den späten siebziger/ frühen achtziger Jahren avanciert er im Essay (Rimbaud-Essay), Gedicht (Von „Larvenstadium“ bis „Das innerste Afrika“[20]) und im Drama zur zentralen Denk- und Gestaltungsfigur. „Noch einmal beginnen, mein Leben beginnen. ÜBER DIE GRENZE GEHEN. Mit ihr leben. Es ist ein Traum, nicht wahr. Die bessere Welt ist, wo man kämpft“[21],

lässt er die Figur des Wilhelm, bevor dieser stirbt, im Stück Die Über­gangsgesellschaft (entstanden 1982) sagen, eine Figur, die nicht von ungefähr mit der des Heinz in Anna Seghers Roman vergleichbar ist. Die nur scheinbar überraschende Schlusswendung im Roman, als der Erzähler sich zum Bleiben entschließt und damit eine innere Grenze überschreitet, dürfte auch der Angelpunkt des Interesses von Volker Braun gewesen sein. Bezeichnenderweise war es ja genau diese Konsequenz, an der sich ideologische Marktschreier wie Reich-Ranicki stießen und damit, nebenbei gesagt, ihre ästhetische Unbedarftheit offenbarten, Subtexte wahrnehmen zu können. Die Arbeitsnotizen Brauns kreisen deshalb genau um dieses Moment des wirklichen Übergangs, der mehr ist als Exil, Flucht und Verlassen des alten Europa: „das transitäre unserer existenz“, notiert er am 11.4. 1985,

„empfinden wir durchaus, und das flüchtige, haltlose, illusionäre des sich-nach-drüben-sehnens – was immer das drüben ist. Bei der seghers der großartige entschluß zu bleiben, der aufbruch in das land statt auf das ungewisse meer, die zugehörigkeit zur mannschaft des erdteils. Das war, im krieg, ein festes, antifaschistisches programm dieser autorin, die ihr volk wiedergefunden hatte im beginnenden widerstand der völker.“[22]

Erinnern wir uns: Nach der großen Ausreisewelle 1984 war das Thema „Bleiben oder Gehen“ das dominierende noch in jedem DDR-Küchengespräch. Braun nimmt es auf und dimensioniert es, ohne die Transitsüchtigen der Gegenwart zu denunzieren, wissend, dass die existentielle Dimension 1940 für den einzelnen eine gravierendere war als 1985.

 

1.3. „eine schmerzlich betörende Liebes- und Verlassenheitsgeschichte“Zur Identitätsproblematik

Anna Seghers erzählt eine Geschichte, die ganz auf die innere Verfassung der Figuren konzentriert ist und beständig die Themen Treue, Verrat und Identität umkreist, im scheinbar Privaten ebenso wie im Geschichtlich-Politischen, wenn etwa der Hitler-Stalin-Pakt für Auseinandersetzungen in der Familie Binnet sorgt. Der ehedem ruhelose Ich-Erzähler verwickelt sich in Geschehnisse und erfährt vor allem solidarisches Verhalten, die seine Entscheidung, am „Rand unseres Erdteils“ zu bleiben und den Kampf aufzunehmen, vorbereiten. Das poetische Sinngefüge umkreist immer wieder die psychischen Ausnahmezustände, denen die Protagonisten ausgesetzt sind, vor allem ihre Entwurzelungsängste. Indem sie im Beziehungsgefüge der Hauptfiguren Ich-Erzähler, Arzt, Marie, Weiler intensiv durchbuchstabiert werden, entsteht ein dichtes Beziehungsnetz. Gleichzeitig aber entfaltet Anna Seghers ein grandioses Verwirrspiel um die Identität von Figuren. Der angebliche Bücherfeind, der das erzählende Ich zu sein vorgibt, wartet mit einer derartigen Wissensfülle an mythologischen, geschichtlichen, literaturgeschichtlichen Details auf, dass diese Selbstbehauptung als Täuschungsmanöver erscheinen muss. Hatte der Erzähler die Papiere eines gewissen Seidler benutzt, um die Spur des eigenen Namens zu verwischen, so potenziert der behördliche Namentausch mit dem toten Weiler die Identitätsproblematik, indem er ein Ausweichen in einen fremden Daseinsentwurf anzubieten scheint. Die Chance einer Flucht mit Marie gaukelt einen völligen Neuanfang vor, wenn der Ich-Erzähler reflektiert: „Ich würde endlich alles zurücklassen und neu anfangen. Ich würde spotten über das unerbittliche Gesetz, dass das Leben einmalig ist und eingleisig.“[23]  Erst als er erkennt: „der Tote war uneinholbar“ , gelangt er zur Selbstannahme: „Ich habe damals zum ersten Mal alles ernst bedacht... Und das Ergebnis : nur eine Ahnung – wenn diese Ahnung verdient, ein Ergebnis genannt zu werden – von meiner eigenen Unversehrbarkeit.“[24] Die meisterliche Hervortreibung von Verunschärfungen der Person, das musste Volker Braun interessieren. Hatte der nicht gerade sich gerieben am bekanntesten aller Rimbaud-Sätze „Ich ist ein anderer“[25]? Und tatsächlich findet sich in seinen Arbeitsnotizen ein aufschlussreiches Notat, das diesen zentralen Punkt berührt und seine unmittelbare Aktualität hervorstreicht:

„5.5.85

meine scheu vor der arbeit TRANSIT: weil ich nichts von den personen weiß. aber dieser seidel, endlich hin­ter der demarkationslinie, aufatmend heiter in der helle und lärmenden ruhe marseilles: er verliebt sich, er hilft der geliebten, er muß seine eigene abfahrt be­treiben, die er nicht will. das bin natürlich ich, und aber der doktor, besessen von seiner arbeit, für die er sich verräterisch abseilt von dem unerquicklichen kon­tinent und mit / von der frau: das bin ich freilich auch, und sophie, die nicht genug von sich hergab und dem nichtgeleisteten nachläuft, dem nichtgelebten und nicht lebt: wieder ich, ich müßte sie alle kennen, wenn ich mich nicht verstelle auf der schreibstube für eine „pas­sende, behagliche identität“. die gewöhnliche zerreiß­probe, um sich zu finden in seinen bestandteilen; der ganze mensch muß warten, bis wir schwarz werden im innersten afrika.“[26]

 

 

2. Volker Brauns Neubefragung

 

Der rätselhafte letzte Halbsatz in Brauns 85er Arbeitsnotizen zu „Transit. Ausflug der Toten“ verweist auf eine längere Vorgeschichte zum Stück: „der ganze mensch muß warten, bis wir schwarz werden im innersten afrika.“ Er verknüpft zwei für sein Schaffen konstitutive Denkbilder durch eine leicht abgewandelte umgangssprachliche Phrase. Schon sein erstes Stück „Die Kipper“ sollte ursprünglich „Der totale Mensch“ heißen. Im poetischen Insistieren Brauns schien seit Beginn an das Begehren nach einem Menschsein auf, das die roh getrennten Vermögen - Arbeiten, Leben, Lieben, Denken – ebenso zusammensieht wie das persönliche Notat und den Blick auf die Welt. Gerade deswegen benennen seine Texte mit sarkastischer Verve die Verhältnisse, die es be- und verhindern. Und nun – „muß warten, bis wir schwarz werden“ – diese Absage? Nicht ganz, denn die Doppeldeutigkeit der Wendung lässt zwei Ausgänge offen: Die mögliche Verlorenheit der Utopie, denn wann werden wir schwarz?, oder aber wir wenden uns dem innersten Afrika zu: Eine wirkliche Befreiung muss alle Menschen auf dem Planeten einbegreifen, im Jargon der Jetztzeit: Globalisierung von unten. Die Wendung „das innerste Afrika“ ist selbstredend nicht nur geographischer Verweis, sondern eine Chiffre und Raummetapher zugleich. Braun hat sie von Jean Paul übernommen, der in „Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele“ das „ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika“[27] beschwor. Braun bezieht diese psychologische Bedeutung prononciert ein, akzentuiert aber den gesellschaftlichen Aspekt, den Traum von einer anderen, gerechten Gesellschaft. Wie wichtig diese Findung im Werkzusammenhang dieser Zeit ist, belegt die Tatsache, dass sie sowohl als Abschnittsüberschrift im Rimbaud-Essay auftaucht, als auch als Gedichttitel und als Intermezzo im „Transit“-Stück. Der Rimbaud-Essay markiert eine deutliche Zäsur in Brauns Werk, indem er eine neue Schreibstrategie entwickelt, die sich aus allen ideologischen Sicherungen im Blick auf die „byzanthische Ästhetik“ des Herrschaftsdiskurses befreit hat und den Gang ins ästhetisch wie politisch Ungewisse forciert. Die „Arbeit gegen die Deckgebirge der Verheißungen“[28] gründet sich auf auf eine radikalisierte Subjektivität wie auf eine Akzentuierung der generell zivilisationskritischen Blickwendung auf die industriegesellschaftliche „Megamaschine“. Dass diese Prioritätenverschiebung nicht wie bei Fühmann, Cibulka u.a. die Aufgabe eines Engagements für einen radikal zu demokratiesierenden Sozialismus und für eine anarchisch-kommunistische Orientierung involviert, dafür steht nicht zuletzt die Metapher „Das innere Afrika“. Im gleichnamigen Gedicht, zuerst veröffentlicht im Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984, konturiert er es über die Vorgangsfigur der Grenzüberschreitung individuell, konfrontativ montiert in das Sehnsuchtspotential nach freier Menschlichkeit in Verszitaten Rimbauds, Goethes und Hölderlins einerseits, Komprimaten bleierner Gegenwartsbefunde und resignativer Haltungsbescheide (Kunert) andererseits:

„...

Sieh das Meer, das dagegen ist

Mit frühlichen Wellen, und ins Offene geht

                                                                       Dahin

Dahin führt kein Weg.

 

Wenn Du gehst, hebt die Zeit ihre Flügel.

 

Nimm den Pfad gleich links durch die Brust

Und überschreite die Grenze.

 

Wo die Zitronen blühn, piff paff!

 

En quelque soir, par exemple, le touriste naif EUROPA SACKBAHNHOF die verdunkelten Züge aus der vierten Welt vor Hunger berstend / Hinter der Zeitmauer Getöse unverständliche Schreie / Blut sickert aus den Nähten der Nierlage / Zukunftsgraupel und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“[29]

...

Dieser Werkzusammenhang – ich kann hier nur auf einen anderen Strang verweisen, nämlich wieviel Figurenreden aus dem Stück „Die Übergangsgesellschaft“ (sic!) der Dramatiker in „Transit“ hinübertransformiert – wirft ein Schlaglicht auf das intentionale Interesse Brauns am Segherschen Stoff. Nicht die Dramatisierung der Romanvorlage interessierte ihn, sondern die bei Anna Seghers bereits angelegte Modellhaftigkeit des Verhaltens von Menschen in extrem fordernden Übergangssituationen. Die Entscheidung, den Gang der Ereignisse durch einen vom „Schwarzen“ gesprochenen Prolog und zwei Intermedien „Der Ausflug der Toten“ und „Das innerste Afrika“ zu konterkarierien, ist demnach konsequent und folgerichtig. In der Binnenhandlung konzentriert sich Braun, der Romanvorlage weitgehend folgend, auf die Vierecksbeziehung zwischen Seidler, Marie, dem Doktor und dem toten Weidel. Doch Obacht, schon die Figurennamen werden verändert: Aus Seidler wird Seidel, aus Weidel Weiler: Hatte schon die Seghers in der gleichen Diphtongierung Identitätsüberschneidungen bereits in der Benamung andeuten wollen, so verstärkt Brauns Namenstransformierung diesen Effekt. Aus der Segherschen „Marie“ wird bei ihm eine „Sophie“ – Auflehnung gegen den christlichen Symbolterror des Namens, Reminiszenz an Diderots „Briefe an Sophie“, Näherungsmöglichkeit an die Figur durch persönliche Namenspräferenz im Schreibprozess? Wohl von allem etwas, hier kann nur spekuliert werden.

Es gibt allerdings drei bedeutungsträchtige Eingriffe in die Fabel der Vorlage:

Erstens: Mit grimmer Lust demontiert Braun die Heldenfigur Weidel, um exemplarisch an Sophie einen Desillusionierungsprozeß vorzuführen. Der mit „Danger“-Visum privilegierte Weiler, er war nie in Spanien, und – hier kompiliert Braun die Weiler- und Heinz-Figur bei der Seghers – seine Verkrüppelung stammte mitnichten aus dem spanischen Bürgerkrieg, sondern aus einem Verkehrsunfall in Paris, bei dem Weiler sein Bein verlor. Diese ziemlich geharnischte Entlegendisierung hat handfeste Hintergründe: Volker Braun hatte, und nur Peter Weiss ist ihm da an die Seite zu stellen, wie kein anderer auf die Entmythologisierung der Geschichte des Kommunismus und ihrer Führer insistiert[30]. Mitte der achtziger Jahre war es, marxistisch grundiert, überfällig, die Massaker der GPU gegen die anarchistische POUM zu thematisieren, an denen der damalige Stasi-Chef Mielke unmittelbar eingebunden war. Im damaligen Resonanzraum, der erfüllt war von Neubefragungen kommunistischer Herkunftsgeschichten, ist diese Demontage natürlich symbolisch verstanden worden. Nur in bedingungsloser Wahrhaftigkeit konnte noch Ausblick gewährt werden.

Zweitens: Braun führt eine Figur ein, die offensichtlich den Handlungsverlauf unterbricht, also nicht notwendig ist für die Verlaufsgeschichte, den Juden Freudenthal. Der will nach Deutschland zurück – „man hat uns ein Ghetto gegeben, ein Reich“ – und wird dafür von Seidel verzweifelt ins Gesicht geschlagen: „Gewöhnen Sie sich daran. Wenn Sie nach Deutschland fahren.“[31] Das Bemerkenswerte in der Figurenanlage dieser resignierenden Ahasver-Gestalt ist jedoch, dass in seiner scheinverwirrten Rede die Verheerungen der Industriegeschichte des 20. Jahrhunderts zusammengezogen werden, mehr noch: Die Leidensgeschichte der Juden wird kurzgeschlossen mit der vom Menschen unterworfenen und ausgebeuteten Natur:

„Der Boden verschwindet, die Landschaft zieht sich zurück. Sie entzieht sich weiterer Nachstellung. Sie verweigert den Dienst in unserem Krieg. Die Erde macht sich davon mit ihren Wäldern und Flüssen. Sie zerstiebt unter unseren Schritten. Es ist ein Todesmarsch. Sie wandert aus in die Wüste. Nicht wir sind die Flüchtlinge, die die Länder wechseln, das Land verläßt uns und geht in den Untergrund. Von nun an bis in Ewigkeit. Sic transit gloria mundi. Die Lokomotiven der Geschichte. Man muß die Notbremse ziehen.“[32]

Mit dem Benjamin-Zitat aus den „Thesen zur Geschichte“ wird das zweite Intermezzo „Das innerste Afrika“ vorbereitet und der engere Handlungsgang mit ihm verzahnt.

Drittens: Während Anna Seghers gleich am Anfang gerüchteweise den Untergang der „Montreal“ kundgibt und am Schluss den vagen Ausblick, dass Seidel in den Maquis geht, entwirft Braun schlusshin zwei traumnahe post-mortem-Szenen: In der ersten wird Seidel nach einem Sprengstoffanschlag auf einen Zug der Deutschen Reichsbahn laut Regieanweisung von zwei Lehmkitteln „ins Feld / die Treppe herauf“ geschleppt, ihm fehlt wie Weiler ein Bein, und er wird von einem halbbekleideten Polizisten als Weiler angeredet:

„Polizist: Sie werden Geiseln nehmen. Weiler. Wissen Sie das nicht, Weiler? Jetzt wird man Geiseln erschießen.

Seidel erblickt im Acker den Drachen / Weiler am Strick. Weiler sieht ihn an. Weiler lächelt. Seidel schreit.“[33]

Die zweite Schlussszene imaginiert in der Rollenrede Sophies nach dem Untergang des Schiffes eine Hoffnung nach dem Untergang der Hoffnung, in der Dramaturgie entfernt Rimbauds „Trunkenen Schiff“ folgend und mit dem Prolog den Rahmen des Stückes bildend. Die Schlusssätze lauten:

„Sie würden sich finden, drüben, in der anderen Welt. Sie wunderte sich kaum, daß sie nicht auf den Grund sank sondern ihre Hoffnung sie trug, über den Sperrmüll, die Kleiderschränke, den rosigen Schaum, der vor ihr lag und hinter ihr, gleich undurchsichtig, verheißungsvoll, bis zum Ende des Lieds.“[34]

Diese erheblichen Umbauten schon in der Fabel deuten bereits eine entschiedene Verlagerung der intentionalen Schwerpunkte an: Braun modelliert ein Parabelstück über Verhaltensentscheidungen in extremer Krisenlage, das menschheitlich dimensioniert ist, und: das von ihm trotz alledem beschworene Hoffnungspotential muss eher mühsam und abstrakt aus geballten Desillusionierungen gezogen werden. Dies machen bereits die letzten Sätze des Prologs deutlich:

Der Schwarze, bis zu den Knöcheln im Wasser, sieht kalt ins Parkett. Ich entsinne mich kaum, was der Zweck der Übung war. Vor mir das Nichts, das Allesnichtmehr, das Allesnochnicht. Die Lebenden sind die, welche kämpfen. Schließt wieder die Augen, rafft seine Glieder, geht über das Wasser ab.“[35]

Interessant erscheint mir in diesen Sätzen der innere Zusammenhang mit Brauns zuvor geschriebenen Stück „Die Übergangsgesellschaft“, als dessen Essenz sie gelesen werden können: Abräumarbeiten bisheriger Illusionen (in „Übergangsgesellschaft“ drastisch im brennenden Haus symbolisiert[36]), die nötig sind, um wieder kämpfen zu können – „die bessere Welt ist, wo man kämpft“[37], heißt es in „Die Übergangsgesellschaft“. Stellte „Die Übergangsgesellschaft“ das Schicksal der sozialistischen Umwälzung – „Die Revolution kann nicht als Dikatur zum Ziel kommen“[38], heißt es am Schluss – ins Zentrum, so „Transit“ eine globale Übergangssituation. Irritierend in den Prologsätzen ist allerdings die Regieanweisung geht über das Wasser ab, die selbstredend auf den Schluss verweist: „Sie wunderte sich kaum, daß sie nicht auf den Grund sank sondern ihre Hoffnung sie trug“[39]. Deren „christologischer Gestus“ (Wilfried Grauert) lässt offen, ob es auf „den illusorischen Charakter dieser Hoffnung“[40] hinweist, wie Wilfried Grauert meint, oder ob auf ein abstrakt-anthropologisches „Prinzip Hoffnung“ in Blochscher Tradition rekurriert wird. Für die zweite Annahme spricht, dass es im Intermezzo „Der Ausflug der Toten“ vom Sprecher abermals aufgegriffen wird, und zwar abermals in der Umklammerung des Todes:

Wir hatten das Leben hinter uns gelassen./ Das Meer ist das Ziel, das Meer von Möglichkeiten! / Wir waren Tote auf Urlaub./ Eine Karte der Welt verdient nicht einmal einen Blick, wenn das Land Utopia auf ihr fehlt.“[41]

Mit dem Intermezzo-Zitat ist ein weiteres Stichwort gegeben. Der Handlungsverlauf, der wie bei der Seghers auf den Aktivitätsgewinn Seidlers zugeschnitten ist, wird durch zwei Intermezzi unterbrochen, deren Funktion darin besteht, die Transitsituation des Exils als exemplarische zu untermauern und sie mit dem aktuellen Weltzustand kurzzuschließen. Dabei wird im ersten Intermezzo die geschichtliche und im zweiten die aktuell-globale Dimension akzentuiert. Die Überschrift „Der Ausflug der Toten“ geht selbstredend auf die berühmte Seghersche Erzählung, entstanden 1943/44, zurück, aber außer dem Satz „Ein Ausflug, auf den uns die Lehrer vorbereitet hatten“, gibt es kaum direkte Zitat-Bezüge zur Segherschen Vorlage. Indirekte schon: Die Rahmenerzählung umreißt die Situation des Exils, die Binnenerzählung vom Ausflug der Schulklasse verknüpft die Erinnerung der Erzählerin mit den unterschiedlichen Verheerungen, die der Faschismus in  die Biographien der ehemaligen Klassenkameradinnen  brachte.

Das Intermezzo besteht aus zwei Teilen, einer poetisch dichten - durch Versstriche angedeuteten – Bilanz Weilers und einer Zitatpassage aus der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, der Hinrichtung Heilmanns in Plötzensee. Verbunden werden beide Teile durch eine Clownssequenz, die den Hitler-Stalin-Pakt karikiert. „Tote auf Urlaub“ – das Intermezzo ist eine Hommage an den kommunistischen Widerstand im 20.Jahrhundert, der Verrat und Niederlage, Flucht und Ermordung, die Ausweglosigkeit der Lage – in einer Kafka-Sequenz von einer Tigerin[42] – und das schmale Hoffnungsprinzip zusammensieht: „Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit. / Hoffnung ist, wenn alle Stricke reißen.“[43] Braun spart dabei nicht die schmählichsten Momente der Kommunismus-Geschichte aus, die Moskauer Prozesse als Synonym für den Stalinschen Terror wie die über das taktische Kalkül hinausgehende Anbiederung an Nazi-Deutschland 1939 bis 1941. Warum betreibt er diesen Aufwand? Es ist die deutliche Ahnung Mitte der achtziger Jahre, wiederum in einer geschichtlichen Situation zu sein, in der es um alles oder nichts geht, Demokratisierung des Sozialismus und Schaffung einer grundsätzlich anderen menschheitlichen Kultur des Umgangs mit seinesgleichen und der Natur – oder Triumph der kapitalistischen Barbarei. Mitte der achtziger Jahre schien sich mit „Glasnost“ und „Perestroika“ noch einmal ein Zeitfenster für erstere Möglichkeit zu öffnen. Wie wir inzwischen belehrt worden sind, zu spät. Volker Braun in seinen Arbeitsnotizen 1985:

„seidel mag sich die problematische uniform des kommunisten anziehn und so zukünftiger haltungen und gedanken teilhaftig werden. Uns müssen aber die vielen interessieren, die ihre chance ergreifen heute in diesem zähen, kalten, unabsehbaren übergang. Wer sind sie, wie sehen sie aus in dem spiel? Die zerrissenen, die versehrten, die sich wunden zufügen, weil sie sich nicht schützen voreinander und sich nahetreten mit ihrem anspruch auf selbstbestimmung. Wie hat uns die zeit entstellt und besudelt, um den kern, das wesentliche frezusetzen.“[44]

Das zweite Intermezzo montiert Braun als Anschluss an jene Szene, in der Seidel nach einer Auseinandersetzung mit Sophie und dem Juden Freudenthal mit dem Gedanken an Selbsttötung spielt, sich in die Opferrolle begeben will. „Das innerste Afrika“ erscheint als Destillat des Abschnitts „An der amorikanischen Küste“ aus seinem Essay „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität.“[45], das heißt, wir können die Sprecherstimme mit der des Autors in eins setzen. Vergleichbar Heiner Müller („Verkommenes Ufer. Medeamaterial“) oder Christa Wolf („Kassandra“) versammelt Braun Embleme der Humanität nichtenden Folgewirkungen der industriegesellschaftlichen „Megamaschine“. Diesen Begriff übernahm er nach seiner Auskunft von Rudolf Bahro, der ihn wiederum bei Lewis Mumford[46] lieh:

„Die Küste Europas, unter unsern Füßen Plastikmüll, gedunsene Fische, der Schrott der Kriege. Die fetten Leiber gegen das Gemurmel des Meers gebreitet, Windflüchter, von den Sendern besudelt. In unserem Rücken die Megamaschine, die langsam VORWÄRTS drängt in den Schlick.“[47]

Braun begreift dabei ausdrücklich jenes „Paradies“ mit ein, das „vom roten Soldaten geöffnet“ wurde, „mit dem der Genosse Haltsmaul auf die Welt gekommen ist“[48], also den gegenwärtigen Degenerationssozialismus. Die Kernsätze des Intermezzos verweisen dann wieder direkt auf die „Transit“-Situation und appelieren an die Übernahme von individueller Verantwortlichkeit:

„Wenden wir uns um in unser Unglück. Gehen wir wieder in das alte Land hinein. Keine Ausflüchte; wir müssen ins Innere gehen. Wir werden den Kontinent nicht verlassen. Die Unterdrückung begraben wir auf diesem blutigen Grund.“[49]

An den Schluss des Stückes setzt der Dramatiker zwei post-mortem-Szenen. In der ersten Szene wird Seidel nach dem Attentat auf einen Munitionszug von zwei „Lehmkitteln“, von Polizist und Wirtin bedrängt, letztere erscheint mit Seidels Bein. Diese surreal-makabere Szenerie verweist zurück auf die antizipierende Traumszene „Seidel. Zwei Teerjacken“, in der Braun Körperchiffren über die Aktivitätsmatrix von Redensarten („seine Haut zu Markte tragen“, „sich ein Bein ausreißen“) symbolisch an Handlungsblockaden koppelt:

ZWEITE TEERJACKE: Das seine Haut hingehalten hat und das Bein, das ihm fehlt nun, aber seine Haut will es retten.

ERSTE TEERJACKE: Was wir verstehen, Herr.

ZWEITE TEERJACKE: Es ist Politik. Der Kopf hat seine Idee, aber der Körper hat seine Befindlichkeit. Die Idee reißt ihm ein Bein aus, aber es kommt ihr in die Quere. Es muß berücksichtigt sein.“[50]

So wie die „Lehmkittel“- und „Teerjacken“-Gestalten groteske Clowns-Figuren sind (in einer herausgestrichenen Szene sind sie auch als solche benannt: „Zwei Clowns (Einbein, Polizist“[51]), so sind die vom Motiv des verlustig gegangenen Beines geprägten Szenen (desweiteren Sophies Eröffnung gegenüber Seidel, Weiler hätte sein Bein bei einem Verkehrsunfall in der Pariser Rue de l´Ecole de Médecine verloren[52]) durch eine schaurige Komik geprägt, gleichsam den grausamen Witz der Geschichte aufgreifend. Die Regieanweisung am Ende der ersten „Clowns“-Szene „Aus der Wüstenweite eine Kolonne Arbeiter, ein gräßlicher entschlossener Zug, auf ihn zu“[53] verweist überdies auf das entsetzliche Missverhältnis zwischen politisch-ästhetischem Credo und Lebensschicksal im Falle Arthur Rimbauds. Rimbaud schreibt während derNiederschlagung der Pariser Kommune am 13. Mai 1871 an seinen Lehrer Izambard:

„Ich werde ein Arbeiter sein: das ist die Uberlegung, die mich hier zurückhält, auch wenn ein furchtbarer Zorn mich in die Schlacht von Paris treibt ‑ wo ja noch immer so viele Arbeiter sterben, während ich Ihnen hier schreibe! Jetzt arbeiten? Niemals, niemals. Ich streike! Im Augenblick erniedrige ich mich, so tief ich kann. Warum? Ich will ein Poet sein, und ich arbeite an mir, um aus mir einen Seher zu machen: Sie werden das natürlich nicht begreifen, und wie sollte ich es Ihnen auch erklären. Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein, als Poet geboren, und ich habe mich als Poet erkannt.“[54]

In einem Brief an Paul Demeny zwei Tage später präzisiert er:

„Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließ­lich, gestörten Geistes, seine Visionen nicht mehr be­greift, so hat er sie doch gesehen! Mag er in seinem Sprung zu den unerhörten und unnennbaren Dingen auch umkommen: es wird neue schreckliche Arbeiter geben. Sie werden an jenen Horizonten beginnen, wo er hinsank!“[55]

Die „schrecklichen Arbeiter“, sie marschieren nicht mit Seidel, sondern auf ihn zu und über ihn hinweg. Eine warnende Illumination[56], hellsichtige Vision, eine bittere Befürchtung, Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Genau zwanzig Jahre nach seinen visionären Seher-Briefen wird Rimbaud in einem Hospital in Marseille – dem Handlungsort von „Transit“ – im Mai 1891 das rechte Bein amputiert, bevor er ein halbes Jahr später elend stirbt. Braun verwebt über weitere Hinweise (hinüber „nach Afrika“[57]) die Seidel-Figur mit der Rimbauds und verleiht ihr so eine weitere Tiefen-Dimension, um was es eigentlich geht in diesen Transit-Jahren der Unbestimmtheit von Individualschicksal und gesellschaftlichen Zukünften, vor dem Umbruch 1989/90.

Das Verhältnis von „Handlungsszenen“, „Clowns-Szenen“ und Intermezzi läßt sich, verallgemeinernd auf den Punkt gebracht, wie folgt beschreiben:

Im Handlungsgeschehen selbst werden extreme existentielle Drucksituationen in Hinblick auf Handlungsentscheidungen durchspielt und die Hauptfigur schließlich zur widerständigen Handlungsmächtigkeit geführt. In den „Lehmkittel“/ „Teerjacken“-Szenen sowie im epiloghaften Bericht der Sophie-Figur über den Untergang der „Montreal“  werden eindringliche Bilder für die Zwänge der Geschichte, letale Ausgänge, für Scheitern und Untergang entworfen, die zugleich Handlungsszenen und Intermezzi durch groteske Engführung von Elementen beider Ebenen miteinander verzahnen. In den Intermezzi schließlich hält Braun auf geschichtsphilosophischer und aktuell-politischer Ebene die Ausgänge offen und dichtet sein Stück gleichsam gegen realgeschichtliche Interventionen ab, die jeden Durchhalteoptimismus mit Hohn übergießen könnten. Dieses Geschäft übernahm bekanntlich das „Feuilleton auf Hiddensee“[58], das in Fukujamischer Volltrunkenheit glaubte 1992 ein Exempel an Braun statuieren zu dürfen. Nachdem das Kapital weite Erdstriche unter Kuratel stellen konnte, schien Brauns Hoffnung auf einen anderen Ausgang aus der Transit-Situation Mitte der achtziger Jahre obsolet. Volker Braun 1997 sucht einen „Ort für Peter Weiss“:

„Auch mein Ort ist versunken, planiert und privatisiert wie die Gemüter. Der schmale Grat, auf dem ich ging mit meinen Seilschaften. Es ist jetzt unsere Niederlage, die wir errungen haben, mein Gelingen, das ein Scheitern ist, unsere nicht ohne Gelächter zu rekapitulierende Lage. Denn auch das verschwinden beweist nichts. Und wie weiter? Wo bleiben? Wie ist die Landschaft, in der wir kämpfen?[59]

Zwei Jahre später ist die Verzweiflung eher gewachsen, wenn er sich fragt:

‘Das Gefühl, daß sich das Leben in Pornografie verwandelt, oder was ist das, wenn keine Kämpfe mehr stattfinden.’[60]

Oh ja, der Rundumblick des Gegenwärtigen verheißt da keinen erfreulichen Blick auf die Landschaft: Im Weißen Haus ein fanatischer Glaubenskrieger und gefährlicher Einfaltspinsel, in Rußland nach dem dem unsäglichen Tanzbären-Reichsverweser ein autoritäres GPU-Face, in Italien ein großkrimineller Gondoliere, in Deutschland ein medien-mediokrer Handlanger der Großindustrie, sekundiert von mankurtierten[61] (Aitmatow) Ex-Linken.Und dann noch ein Bundespräsident, der einer nach allen Maßgaben der Vernunft kriminellen Organisation vorstand, dem IWF, der sehr direkt für die weitere Verelendung des afrikanischen Kontinents verantwortlich zeichnet. Das innerste Afrika als Horrorvision, die Herr K. sonor nun folgerichtig den Deutschen anempfielt. Welch groteske Kommentierung zu Brauns Text, welch düstere Bewahrheitung jenes anderen Ausgangs, den Braun offenhielt. Als ahnte er es, hat er dieses Stück wetterfest gemacht gegen den Unbill jäher und geahnter geschichtlicher Wendungen. An den Schluss gestellt sei deshalb ein scheinbar beiläufiger Realitätsverweis, der aber durchaus symbolisch zu verstehen ist und die eigentliche Tragweite des Stückes in ihrer unbeschädigten Aktualität offenbart:

Wie jüngst den Zeitungen zu entnehmen war, gibt es zur Zeit in der EU handfeste Auseinandersetzungen um die Fischfangquoten. So ist es nicht gelungen, eine Quote für den Kabeljau festzusetzen, die wenigstens die einfache Reproduktion garantiert, im Klartext: Sehenden Auges wird mittelfristig eine Population aus betriebswirtschaftlichen Gründen vernichtet. Dieses Beispiel allein mag für die generelle Lebensfeindlichkeit kapitalistischen Wirtschaftens einstehen, aber was aufhorchen lässt, ist folgendes: Biologen stellten fest, dass der Kabeljau seit Beginn der industriellen Fischerei seine Länge um 30 cm verkleinert hatte, dass die Geschlechtsreife wesentlich früher eintrat. Verantwortlich dafür ist die Maschengröße der Fangnetze, die Jungfischen ein Entkommen gestattet. Nachzuchtversuche in Labors unter natürlichen Bedingungen erbrachten, dass die durch zivilisatorische Eingriffe entstandene Mutationsdynamik mitnichten rückgängig gemacht werden konnte. Die Fische wuchsen viel langsamer als angenommen. Vielleicht geht es uns ja ähnlich: „Von der Wissenschaft zur Utopie“[62] (Braun 1985)  und dann, vielleicht und hoffentlich, ganz langsam zurück.


[1] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten (TE), in: Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 9, Halle 1992, S. 107.

[2] Vgl. Joseph Conrad, Das Herz der Finsternis, Zürich 1992.

[3] Marcel Reich-Ranicki, Deutsche Literatur in West und Ost, München 1963, S. 376.

[4] Paul Rilla, Essays, Berlin 1955, S. 321.

[5] Jan Hans, „Der Krise ins Auge sehen...“ Annäherungen an „Transit“, in: Text + kritik Heft 38, Anna Seghers, 2. Auflage, Müchen 1982, S. 27.

[6] In: Anna Seghers aus Mainz, Mainz 1973, S. 59

[7] Volker Braun, Das Versteck der Seghers, in: Das Argonautenschiff, Mainz 2001, S. 25.

[8] Volker Braun, Arbeitsnotizen, in: Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 9, a.a.O., S. 141.

[9] Ebenda.

[10] Anna Seghers, Briefe an Leser, Berlin und Weimar 1970, S. 42.

[11] Hans Mayer, Gedenkrede auf Anna Seghers, in: Frankfurter Rundschau vom 26. 11. 1983, Beilage S. 3.

[12] Vgl. Hans-Albert Walter, Anna Seghers´ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth, Frankfurt a.M. Olten Wien 1984, S. 92ff.

[13] Anna Seghers, Transit, Darmstadt und Neuwied 1982, S. 5.

[14] Hans-Albert Walter, Anna Seghers´ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth, a.a.O., S. 123.

[15] Volker Braun, ratlose notizen, in: Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 9, a.a.O., S. 149.

[16] Anna Seghers, Transit, a.a.O., S. 18.

[17] Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, in: Internationale Literatur/Deutsche Blätter, Moskau, 9. Jahrgang, H. 5, Mai 1939, S. 98f.

[18] Kurt Batt, Anna Seghers, Leipzig 1973, S. 139.

[19] Vgl. z.B. Volker Braun, Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität, in: Braun, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Leipzig, 1988, S. 95-120, hier S. 101:Freunde und Feinde warten auf meine endgültige Reise ins Aus, den Abgang vom Gerät. Sie sagen ihn voraus als die Konsequenz: die Zerreißprobe endet. [...] Aber ich bin nicht nur das zerrissene Fleisch, ich bin es auch, der es zerreißt. Ich entkomme nicht, es sei denn über die eigene Grenze.“

[20] Siehe Volker Braun, Langsamer knirschender Morgen. Gedichte, Halle (Saale) 1987.

[21] Volker Braun, Die Übergangsgesellschaft, in: Braun, Stücke 2, Berlin, 1989, 144.

[22] Volker Braun, Arbeitsnotizen, in: Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 9, a.a.O. S. 141f.

[23] Anna Seghers, Transit, a.a.O., S. 176.

[24] Ebenda, S. 182.

[25] Arthur Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13.5.1871, in: Arhur Rimbaud, Sämtliche Werke, Leipzig 1976, S. 394.

[26] Volker Braun, Arbeitsnotizen, a.a.O., S. 143

[27] Jean Paul: „das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika.“ (Jean Paul, Werke, hg. Von N. Miller, Band 6, München 1963, S. 1182.)

[28] Volker Braun, Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität, a.a.O., S. 107.

[29] Volker Braun, Das innerste Afrika, in: Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 26f.

[30] Vergleiche Brauns Stücke „T“, „Lenins Tod“, in: Volker Braun, Stücke 2, Berlin 1989.

[31] Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 134f.

[32] Ebenda.

[33] Ebenda, S. 138.

[34] Ebenda, S. 140.

[35] Ebenda, S. 107.

[36] Volker Braun, Die Übergangsgesellschaft, in: Volker Braun, Stücke 2, Berlin 1989, S. 145.

[37] Ebenda, S. 144.

[38] Ebenda.

[39] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 140.

[40] Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun, Würzburg 1995, S. 118.

[41] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 123.

[42] Vgl. Franz Kafka, Kleine Fabel, in: Franz Kafka, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S. 364.

[43] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 123.

[44] Volker Braun, Arbeitsnotizen, a.a.O., S. 142.

[45] Volker Braun, Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität, in: Volker Braun, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Leipzig 1988, S. 115.

[46] Lewis Mumford, Mythos der Maschine, Wien 1974.

[47] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 135.

[48] Ebenda, S. 136.

[49] Ebenda.

[50] Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 118.

[51] Ebenda, S. 143.

[52] Ebenda, S. 133.

[53] Ebenda, S. 119.

[54] Arthur Rimbaud, Sämtliche Werke, a.a.O., S. 393

[55] Ebenda, S. 396

[56] Verweis auf: Arthur Rimbaus, Illuminationen, in: Sämtliche Werke, a.a.O., S. 237ff.

[57] Volker Braun, Transit. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 118. Arthur Rimbaud ging nach ruhelosen Jahren in Europa 1881 nach Afrika und arbeitete dort u.a. als Kaffee- und Waffenhändler.

[58] Vgl. Volker Braun, Material XV: Schreiben im Schredder: „.../ Das Feuilleton faselt auf Hiddensee / Über die MACHT DES FEUILLETONS / In das Schweigen des Meeres, ich schäme mich / Mit Schweinen gekämpft zu haben / Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen“; Volker Braun, Tumulus, Frankfurt a.M. 1999, S. 22.

[59] Volker Braun, Ein Ort für Peter Weiss, in: Volker Braun, Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Frankfurt a.M. 1998, S. 169.

[60] Traumtext, in: Volker Braun, Tumulus, a.a.O., S. 8.

[61] Anspielung auf Tschingis Aitmatows Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“, in dem Menschen beschrieben werden, denen mittels Folter durch Kamellederkappen das Gedächtnis geraubt wurde.

[62] Volker Braun, Arbeitsnotizen, a.a.O., S. 142.