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Peter Geist

Wem die Zeile bricht

Hans-Ulrich Treichels mißglückte Expedition in den „Südraum Leipzig“

Dem gebürtigen Westfalen mit wolhynischen Wurzeln ist in den letzten Jahren Anerkennung zuhauf widerfahren. Sie galt dem Autor von Romanen wie „Tristanakkord“, „Der irdische Amor“, „Das Mädchen mit der Geige“, „Der Verlorene“ oder „Menschenflug“. Der Respekt wächst zunächst, wenn man bedenkt, dass der Autor im Hauptberuf auch noch ein in seinen Arbeiten exzellenter Literaturwissenschaftler ist, der am Literaturinstitut Leipzig seit mehr als zehn Jahren jungen Schreibverfallenen die Abgründe des Schreibens lehrt. Dabei hatte er seine literarische Karriere 1986 als Lyriker begonnen, ganz allmählich, mit dem Gedichtband „Liebe Not“, dem im Vier-Jahres-Abstand zwei weitere Sammlungen folgten.  Mit Lyrik allein, auch wenn sie bei Suhrkamp verlegt wird, gründen sich allerdings in Deutschland keine Erfolgsgeschichten. Die marktliberale Schneisenlegung betrifft seit etwa Mitte der neunziger Jahre vor allem die unprofitable Königsgattung der Literatur. Das hatte Hans Ulrich Treichel beherzigt und zwölf Jahre verstreichen lassen, ehe er einen vierten Gedichtband vorlegte,  den sein Verlag nach dem Erfolg der Romane nicht abschlagen konnte. Dass also ein neuer Gedichtband von Hans-Ulrich Treichel 2007 erscheint, ist eine Erfreulichkeit.

Woher aber rührt mein Unvergnügen schon bei erster Lektüre, da doch der Autor seinem  Sound des Understatements, der Lakonie und der melancholiedurchwirkten Ironie treu geblieben ist? Es ist vor allem dies: Treichels Gedichte inkarnierien so ziemlich alles, wogegen seit den achtziger Jahren eine inspirierte Lyrik in Westdeutschland, von Gerhard Falkner bis Thomas Kling, nach 1990 mit Beistand einer ganz anders gewachsenen, aber maßstabsbewussten Lyrik in der DDR, antrat:  Gegen den Mißbrauch des Verses als Zeilenbrecher für poesieärmste Beobachtungsprosa, die Aufblähung eines mitteilungsarmen „Ich“ zur Repräsentanz-Monstranz, gegen die weitgehende Abwesenheit formaler Raffinessen, gegen Phantasiearmut, Banalitätshuberei und die Nobilitierung des Räsonnements im Gedicht. Erstaunlich ist es schon, dass jemand, der das Privileg besitzt, lebendig im Arbeitskontakt mit nachwachsenden Schriftstellern zu stehen und reflektiert genug sein dürfte, die Entwicklungen deutschsprachiger Lyrik zur Kenntnis zu nehmen, unbeirrbar einem poetologischen Ansatz folgt, dessen Anachronismus inzwischen grell zutage tritt.

Treichel-Gedichte gehen etwa so: „Heute radle ich mal nach Kreuzberg, / nix Prenzelberg, nix Kollwitzplatz, / heute radle ich antizyklisch, / bin schließlich in Kreuzberg zur Schule / gegangen, zur Schule des Lebens, / habe alles gesehen, was man am / Paul-Lincke-Ufer sehen kann, / und das war so viel auch wieder nicht, / kein Streß in Kreuzberg, sage ich / immer, öfter mal den Wind / aus den Segeln nehmen, / in der Trattoria Numero Uno / zum Beispiel, Italienisch spreche ich / schließlich perfekt (...)“. Es ist ein sehr durchsichtiges Verfahren: Die Mitteilung von Alltagsbegebnissen wird kombiniert mit lebensphilosophisch angehauchten Allgemeinplätzen („Schule des Lebens“, „Wind aus den Segeln nehmen“), das Ganze wird schlusshin noch garniert mit einem Schuss Ironie und/oder Melancholie, in diesem Falle: „die Magnani aus / Wild ist der Wind, damals in Kreuzberg, / als ich jung war und noch / wußte, wie´s läuft.“ Abgesehen von elementaren stilistischen Peinlichkeiten: Ja ja, das läuft und läuft und läuft, VW-Werbung der fünfziger Jahre und Heinz Ehrhardt lassen grüßen, nicht unzufällig. In Treichels neuen Gedichten kehrt eine Biedermeierhaltung wieder, wie man sie gemeinhin im Wirtschaftswunderland BRD der fünfziger Jahre verortet hatte. Allerdings muss man sich dabei, wir schreiben das Jahr 2007, pflichtschuldig der Irrungen und Wirrungen seiner Jugend entledigen. „An mich selbst“, so der Gedichttitel, grüßt er sich, „ alter Berliner“: „ich winke dir zu, aus dem blühenden Lankwitz, / wo du jetzt prächtige Mieten bezahlst, / den Windhund ausführst auf der Dachterasse, / Funken sprühst vor dem Fernseher, alter / Anarcho, alter Parkettfeger, du.“ Der Binsenweisheit, dass der Marsch durch die Institutionen der erfolgreichen 68er letztendlich als Aussaugungssieg der Institionen über Körper und Hirne der einstigen Rebellen endete, verleiht er immerhin eine so eintönig zirpende Stimme, wie es halt einer Binsenweisheit gebührt.

Zwischen 68 und 07 gab es allerdings noch etwas, was die Biographie Hans-Ulrich Treichels durcheinanderrüttelte. Das war die „Wendezeit“, wie ein Gedicht aus dem 94er Gedichtband überschrieben ist, und in dem es heißt: „Vielleicht / fahr ich doch noch mal / rüber, an diesem mildwarmen / Abend, Spitzel angucken / und Sprüche austeilen.“. So schlichten Gemütes also teilte er 1994 Sinnsprüche aus, die der Verlag damals meinte im Klappentext als Witz des Autors zu empfehlen.

Nun aber ist er wirklich rübergefahren, und zwar für beamtenimmer. Die Wendezeit hatte es Hans-Ulrich Treichel ermöglicht, eine Professur in Leipzig zu erstreiten. Es ist nur eine von den vielen Glücksrittergeschichten, die in historischen Umbrüchen sich ereignen. Nun musste er tatsächlich übersetzen in den Osten und dortselbst Wohnsitz nehmen. Was dann nicht davon abhielt, seine neue Wahlheimat vorwiegend als Narzisst mit Tropenhelm wahrzunehmen. „Südraum Leipzig“ ist der Band überschrieben, und die Gedichte, die auf diesen rekurrieren, bezeugen vor allem eins: Oberflächenwahrnehmung der einfältigsten Art, da hilft auch kein eingestreutes René-Char-Zitat wie in „ Seit ich hier bin“: „Seit ich hier bin, trage ich Taschen / voller Papiere, fahre ich Fahstuhl, / trinke Kaffee wie ein Mann / mit Terminen, liege ich schlaflos, / interpretiere, huste und reime, traurige / Tiere, spende dem Geiger in der Passage / einen Gedanken, / was kann er tun, und was soll ich sagen: / Pflege Kontakte und streue Asche auf / deine Akte. So ist das hier.“ Was soll man da sagen? Dass der Professor vielleicht dem Geiger doch lieber mal einen Euro spendieren sollte? Ist die bedeutende Mitteilung „fahre ich Fahrstuhl“ ein überaus geschickter intertextueller Verweis auf Heiner Müllers „Mann im Fahrstuhl“ oder nur Blabla? Und die kryptische Du-Anrede „Asche auf / deine Akte“ – wer bitte ist damit gemeint? Der Ostmensch an sich, frei nach dem Kalauer „Alles Stasi außer Mutti“ (Frank Castorf)? Denn „auch der Drogist ist wie früher“, wie das Gedicht „Plagwitz“ in bemerkenswertem Deutsch konstatiert, noch einmal, zum Feinschmecken: „auch der Drogist ist wie früher“. Es ist müßig, all die sprachlichen Ungelenkheiten, um es freundlich zu sagen, zu monieren, die in dem Band auffällig sind; es sind ihrer zu viele.

Treichels Gedichte entzünden sich mit Vorliebe an Ortserkundungen: Leipzig, Berlin, der Rhein, Italien, USA, die Suche nach den eigenen Wurzeln in der Ukraine. Die Gedichte tragen Überschriften wie „Abend am Müggelsee“, „Dezember in Warschau“ oder „Anflug Kiew“. Der Trick besteht fast immer darin, sich weit unterhalb des eigenen Wissens zu äußern, wahrscheinlich in der Absicht, den Leser, was zugegebenermaßen sehr schwer geworden ist, zu heftigeren Reaktionen zu bewegen der Zustimmung oder des Widerspruchs. „Abend am Müggelsee“ endet: „(...) gehen am Sonntag / über die Grenze, spielen Nachbar mit Herz, / kehren den fröhlichen Wessi heraus und / lassen fünfe gerade, den Müggelsee / Wannsee sein.“ „Dezember in Warschau“ entlässt den Leser mit den Versen: „(...) Was / heißt Rohrbruch auf Polnisch? Was, bitteschön, / Frohes Fest? Hinter den Sträuchern  rauscht / die Weichsel. Von ihr weiß ich nur / irgend etwas mit Krieg.“ Grenze Ost-West-Berlin 2000nochwas, Warschauer Aufstand 1944, Amnesie? Das Prinzip, mit dem hier gearbeitet wird, ist von Harald Schmidt her bekannt, doch funktioniert in der Lyrik, was im Fernsehen Lacher produziert? Ich habe da berechtigte Zweifel, zumal der dazu nötige Zynismus durch Gedichte konterkariert wird, die der Kindheit und dem eigenen Herkommen sympathisch sentimental nachhorchen. Eines der zwei im Band auch durch den Reim strukturierteren Gedichte ist etwas hilflos mit „Lied“ überschrieben und hat mich nach all der Lektüre-Tristesse berührt: „Das Kind das ich war / das hatte kein Haar / Das hatte kein Bein / Das sollte nicht sein // Das Kind das ich war / Dem wuchs in der Brust / Eine Spinne ein Stein / Den hörst du nicht schrein // Das Kind das ich war / Die Wangen so bleich / Die Äuglein so rot / Ich schlag es jetzt tot“.

Natürlich hat er es nicht totgeschlagen, der Hans-Ulrich Treichel. Der Autor Hans-Ulrich Treichel weiß selbstredend, dass das Kind in sich sowieso nicht erschlagen werden kann. Vielleicht, aber das sind so Wunschträume eines Kritikers, sollte er auf es hören können, wann und wem die Stunde schlägt.

Hans-Ulrich Treichel: Südraum Leipzig. Gedichte. Suhrkamp Verlag 2007, Frankfurt a.M.