Peter Geist

‘Worte und Knochen’ – Überlegungen zu Volker Brauns Gedicht ‘Andres Wachtlied’

Die Interpretation nimmt die Komplexität des Gedichts als Herausforderung, die vielfältigen semantisch-motivischen und intertextuellen Verknüpfungen sichtbar zu machen. Herausgearbeitet werden die Beziehungen zu Büchner, zu älteren Texten Brauns selbst und vor allem zu verschiedenen Goethe-Texten (‘Über den Granit’, Faust II, zu den Gedichten ‘Prometheus’, ‘Harzreise im Winter’). Das Gedicht konfrontiert nicht nur die klassische Natur- und Weltbetrachtung mit den geschicht­lichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, es führt selbst Verfahren vor, Natur- und Gesellschaftsgeschichte zusammenzusehen. Diese Arbeitsrichtung Brauns wird als Konsequenz seiner jüngeren Werkentwicklung seit den achtziger Jahren präzisiert und das Gedicht in den Kontext neuerer Gedichte, insbesondere denen des Bandes Tumulus gestellt.

Wolfgang Fritz Haug mutmaßt im Theater der Zeit-Arbeitsbuch, das 1999 dem 60. Geburtstag des Autors Volker Braun gewidmet ist, über die Zukunft des ‘Roten Orpheus’ in ‘tauber Zeit’:[1] ‘Es ist, als erlaubten die Verhältnisse ihm zunächst nurmehr, Felsenmelodien in den zuzementier­ten Horizont zu meißeln. Von fremdem Text durchquert und intensiv zusammengeschoben, nehmen sie, obgleich weiterhin “an alle” gerichtet, Züge orphischer Rätselhaftigkeit an.’[2] Im Jahrbuch der Lyrik 2001 veröf­fentlicht Volker Braun das Gedicht ‘Andres Wachtlied’,[3] einen streng gebauten Text von neun vierzeiligen Strophen und einer fünfzeiligen Schlussstrophe. Ein Gedicht, bei dessen Lektüre ich an die Sätze Haugs denken musste und das mich doch eigentümlich in den Bann schlug. In der Tat, es verlohnt sich, mit Bedacht durch den Text zu gehen und seinen Reichtum zu entdecken.[4]

1                          Andres Wachtlied

2                         

3                          Weiß die Schneise eisig

4                          Dunkel der Untergrund

5                          Wo ich stehe

6                          Heiter, schlotternden Leibs.

7                         

8                          Bäume hingelegt

9                          Auf! die kahlen Hälftlinge

10                        Die ich im Auge halte

11                        Ein Laufseher

12                       

13                        Wer sind die zwei im Gehölz

14                        Ignaz zieht den Karren

15                        Martin murmelt:

16                        Vergiß es.

17                       

18                        Das Geschiebe den Berg hinauf

19                        Worte und Knochen

20                        Ein Steinbruch bei Weimar

21                        Edel Mensch sei der

22                       

23                        Umstände, welche die Arbeitszeit

24                        Sind auf ein nicht mehr zu verdichtendes

25                        F.d.R: Schiller

26                        Obersturmführer

27                       

28                        Sind es Vulkane

29                        Die die Gebirge bilden

30                        Oder setzt das Wasser ordent-

31                        Lich es zusammen.

32                       

33                        Winterstein, Minister in Ruhe

34                        Und unter Fußtritten

35                        Ging, eine rauchend

36                        Über die Postenkette

37                       

38                        Oder das Meer steigt

39                        An Nebels statt

40                        Wieder, mein Bester

41                        Zum Rennsteig!

42                       

43                        Müßt mir meine Erde

44                        Doch lassen stehn

45                        Und die Öfen

46                        In deren Glut

47                       

48                        Wintersommer

49                        Lebenslänglich

50                        Ein Grabgewölke

51                        Dickichtschauer

52                        Die du aus Adern wässerst.

 

In der Überschrift ‘Andres Wachtlied’ scheint auf den ersten Blick, umgangssprachlich üblich, ein ‘e’ eliminiert worden zu sein. Wenn Volker Braun ein ‘anderes Wachtlied’ anstimmt, stellt sich die Frage, auf was sich das ‘andere’ hier bezieht. Bezieht es sich auf das Wachtlied des Turmwärters Lynkeus aus Goethes Faust? Dafür sprächen mehrere Text­indizien: In der sechsten Strophe spielt Braun auf die Neptunismus-Vulkanismus-Debatte an, die in der Goethe-Zeit die gelehrten Gemüter erhitzte und Eingang fand in den zweiten Teil des Faust. Die Eingangs­verse in der achten Strophe des Braun-Gedichts ‘Oder das Meer steigt / An Nebels statt’ lassen an das Türmerlied denken, in dem es heißt:

Wüßt’ ich irgend mich zu finden?

Zinne? Turm? geschloßnes Tor?

Nebel schwanken, Nebel schwinden,

Solche Göttin tritt hervor!

 

Aug’ und Brust ihr zugewendet,

Sog ich an den milden Glanz;

Diese Schönheit, wie sie blendet,

Blendete mich Armen ganz.

 

Ich vergaß des Wächters Pflichten,

Völlig das beschworne Horn;

Drohe nur, mich zu vernichten –

Schönheit bändigt allen Zorn.[5]

Das Motiv des bewaffneten Wächters, der, in Einsamkeit befangen, das Gegenteil seiner unfrohen Pflicht imaginiert, wurde zudem ein häufiger Topos in der Romantik, so bei Achim von Arnim in den ‘Kronenwäch­tern’, geradezu idealtypisch bei Eichendorf:

Mein Gewehr im Arme steh ich

Hier verloren auf der Wacht,

Still nach jener Gegend seh ich,

Hab so oft dahin gedacht!

 

Fernher Abendglocken klingen

Durch die schöne Einsamkeit;

So, wenn wir zusammen gingen,

Hört ich’s oft in alter Zeit.

 

Wolken da wie Türme prangen,

Als säh ich im Dunst mein Wien,

Und die Donau hell ergangen

Zwischen Burgen durch das Grün.

 

Doch wie fern sind Strom und Türme!

Wer da wohnt, denkt mein noch kaum,

Herbstlich rauschen schon die Stürme,

Und ich stehe wie im Traum.[6]

Ohne Zweifel zeichnet Braun in seinem Gedicht eine vergleichbare Situation des Ich, in der Wahrnehmung und Imagination, Erinnerung und geschichtlich befrachtete Assoziation ineinander verschwimmen. Der Gedichttitel setzt den literarisch einigermaßen vorgeprägten Leser jedoch noch auf eine andere Spur, wenn man die auf der Hand liegende Umprägung von Goethes ‘Wanderers Nachtlied’ einmal vernachlässigt: ‘Andres Wachtlied’ öffnete dann einen intertextuellen Bezugsraum zu Büchners Woyzeck, eine, wenn man Brauns intensive Auseinandersetzung mit Büchner bedenkt, naheliegende Möglichkeit. Andres heißt der Compagnon Woyzecks, der von Büchner stöckeschneidend eingeführt wird, mit dem Protagonisten in einem Bett schläft und der vorzuführen hat, dass Kameraderie auf gleicher sozialer Stufenleiter keine Gewähr für Nähe, gar Verstehen bietet. Wie Woyzeck auch er ein ‘überflüssiger Mensch’, dem Braun in seiner Büchnerpreisrede seine Solidarität nicht verweigert.[7] In der ersten Fassung des Woyzeck lässt Büchner zu Beginn des Stücks den Andres ein Lied zum Besten geben, das in seiner rätsel­haften Naivität eine Vorahnung gibt zum folgenden bösen Spiel, in dem Woyzeck der Gejagte sein wird:

Da ist die schöne Jägerei,

Schießen steht Jedem frei;

Da möcht’ ich Jäger seyn,

Da möcht ich hin.

 

Läuft dort e Has vorbey,

Frägt mich ob ich Jäger sey.

Jäger bin ich auch schon gewesen,

Schießen kann ich aber nit.[8]

In der ‘Vorläufigen Reinschrift’ ersetzt es Büchner durch ein Volkslied, das auch heute noch zum Kanon des schulmäßig Gelernten gehört. Andres singt es, um sich Woyzecks Halluzinationen zu entziehen. Später wird Andres im Wirtshaus mit Handwerksburschen das Lied ‘Ein Jäger aus der Pfalz’ anstimmen und so auf die Eingangsszene zurückverweisen, die auf freiem Feld, fernab der Stadt spielt:

WOYZECK. Ja Andres; den Streif da über das Gras

    hin, da rollt Abends der Kopf, es hob ihn einmal

    einer auf, er meint’ es war’ ein Igel. Drei Tag und

    drei Nächt und er lag auf den Hobelspänen (leise)

    Andres, das waren die Freimaurer, ich hab’s, die

    Freimaurer, still!

ANDRES (singt.)

               Saßen dort zwei Hasen,

               Fraßen ab das grüne, grüne Gras...

WOYZECK. Still! Es geht was!

ANDRES.

                Fraßen ab das grüne, grüne Gras

                Bis auf den Rasen.[9]

Dieses ‘Wachtlied’ des Andres, der damit die Zumutungen der paranoi­schen Rede Woyzecks verdrängt, sich mit dem Kameraden verständigen zu sollen, ist nicht unberechtigt auf das Braun-Gedicht beziehbar, in dem nicht zuletzt Jäger und Gejagte, Bewacher und Bewachte am Ettersberg die Grundsituation bestimmen. Konsequenz einer solchen Deutung wäre freilich, rezeptiv die Distanz des Autors zur Sprecherfigur mitzudenken. Dem Leser wird so eine gehörige Mitarbeit an der Texterschließung zugemutet, Einfühlungsstrategien erweisen sich als untauglich.

Dass die Überschrift eines Gedichtes die Lektüre lenkt, ist eine basale Tatsache; dass eine so vieldeutig ausschwingende Überschrift wie in diesem Falle orientieren möchte, die Komplexität des Gedichtes wahrnehmen zu wollen, eine Avance, die nicht ausgeschlagen werden sollte.

In der ersten Strophe fällt, merkwürdig genug bei Braun, zunächst eine onomatopoetische und nicht semantische Komponente ins Gewicht: In den Umfassungsversen wird fünfmal der Diphtong ‘ei’, dafür zweimal in Vers zwei der dunkle ‘u’-Vokal bemüht: Der Effekt ist ein Spannungs­aufbau, der dann semantisch bekräftigt wird: ‘Heiter, schlotternden Leibs’. Der Sprecher, in der Gegenwärtigkeit des Ettersberges – ‘Ein Steinbruch bei Weimar’ – nimmt das augenblickliche Unwohlsein in einer dreifach akzentuierten Kälte ‘Weiß die Schneise eisig’ offenbar in einer erhöhten Empfänglichkeit für Signale wahr: ‘Dunkel der Untergrund’. Das Wort ‘Untergrund’ ist bei Braun nicht allein mit den Konnotationen des Subver­siven, des nicht Rationalisierbaren abrufbar. Es steht auch für die Empfänglichkeit von einer anderen Art von Kontaktnahme, die Braun in einem Gespräch mit Silvia und Dieter Schlenstedt so beschreibt:

Und man hat zu tun mit einem ungeheuren Personal von Toten, die aus dem Untergrund, aus einem anderen Reich reden. Das heißt, man schafft sich einen anderen Gesprächskreis, von Leuten, die ihre Erfahrungen gemacht haben.[10]

Interessant ist hier nicht minder die korrektive Erweiterung eines Braun­schen Grundwortes, des Homonyms ‘Grund’, das ja im poetischen Text Ortsbezeichnung und Kausalität ineinandersehen lässt. Sein Stück Großer Frieden, geschrieben in den siebziger Jahren, schließt mit den Versen:

Die neuen Zeiten, von den alten wund

Sind neu genug erst, wenn wir aufrecht stehn.

Die Plage dauert und kann uns vergehn.

In unsern Händen halten wir den Grund.[11]

In ‘Material V: Burghammer’ ist der Sog nach unten, in die Tiefenschich­ten des Gewordenseins, viel stärker spürbar als die Gegenbewegung, der ‘Weg voran’:

Ich will die Welt von unten sehn Kollege

Wo sie schwarz wird oder was weiß ich

Ich zieh mich nicht heraus aus meinem Loch

Und für den Letzten soll die Welt gemacht sein

Der Weg voran führt einmal auf den Grund[12]

Nun, in den neunziger Jahren, erscheint der ‘Weg voran’ in aktuell-historischer Hinsicht gründlich versperrt, der Verfolg existentiell substan­tiellen Terraingewinns bedingt das Sich-Einlassen auf die Untergründig­keiten der Existenz, den Untergrund der Geschichte.

Die Zeile 6 ‘Heiter, schlotternden Leibs’ fasst den körperhaft erlebbaren Widerstreit heiterer Gegenwärtigkeit und einfühlender Verge­genwärtigung hier stattgehabter Depravierung des elementar Mensch­lichen in ein disparates Bild. In der zweiten Strophe verschwimmen Gegenwartswahrnehmung von Natur und sich aufdrängende KZ-Bilder so ineinander, dass sie nicht mehr entkoppelt werden können. Die gespensti­sche Szenerie gewinnt zusätzlich an Eindringlichkeit durch die Eingriffe in die Lexik, die der Autor vornimmt. Ein Verfahren, das Braun bisher äußerst sparsam verwendete.[13] Durch Hinzufügung des Buchstaben ‘l’ werden Neuworte – ‘Hälftlinge’ aus ‘Häftlinge’, ‘Laufseher’ aus ‘Aufse­her’ – generiert, deren ursprüngliche Semantik aufgehoben erscheint und zugleich nachvollziehbar erweitert wird. In der zehnten Verszeile bindet der Sprecher die Überzeichnungsszenerie an den unmittelbaren Augen­schein und münzt die Findung des ‘Laufsehers’ – auch diese ein möglicher Rückverweis auf die Andres-Lieder bei Büchner – auf sich. So gelingt es Braun in wenigen Strichen, einen Sprachraum zu erschaffen, in dem Wahrnehmung, Reflexion und Imagination verwoben und geschichtliche Distanzen eingeschmolzen werden können.

In der dritten Strophe erblickt der ‘Laufseher’ ‘zwei im Gehölz’: eine Beobachtungssituation, die über das archaisierende Signalwort ‘Gehölz’ an das Brecht-Gedicht ‘Der Einarmige im Gehölz’[14] aus den ‘Buckower Elegien’ denken lässt. Das im Sommer 1953 geschriebene Gedicht zentriert den Widerspalt zwischen mitleidheischendem Augen­schein kreatürlicher Bedürftigkeit des ‘Einarmigen’ und dem Wissen um dessen einstige Machteingebundenheit in den NS-Terror:

[...] Ächzend

Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren

Ob es regnet. Die Hand hoch

Der gefürchtete SS-Mann.[15]

Die ‘zwei im Gehölz’ werden merkwürdigerweise mit Vornamen bedacht: ‘Ignaz’ und ‘Martin’. Ein charakteristisch jüdischer und ein charakteris­tisch deutscher Vorname, die hier metonymisch verwendet werden. ‘Ignaz zieht den Karren’ assoziiert jene Strafarbeit von KZ-Häftlingen, die darin bestand, dass diese einen schweren, mit Steinen gefüllten Karren über die Lagerstraße ziehen mussten. Zugleich verweisen die beiden Vornamen auf die Debatte zwischen Ignaz Bubis und Martin Walser, die sich nach der Paulskirchen-Rede von Walser zur Verleihung des Deutschen Friedens­preises 1998 entspann, in der Walser das Recht auf Entlastung von geschichtlicher Verantwortung für Auschwitz einklagte. Walser in seiner Rede:

Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfä­higer Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.[16]

Walser wollte das Erinnern auf den persönlichen Raum begrenzt sehen und forderte in der Konsequenz das Einstellen schmerzhafter Erinne­rungsarbeit in der Gesellschaft. Seine Rede bekam, bis auf wenige Ausnahmen, auch deshalb soviel spontanen Beifall von den Spitzen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, weil sie die Möglichkeit eines privatistischen Geschichtsbewusstseins offerierte, die genau der mit Hilfe der deutschen Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung durchge­setzten neoliberalen Ideologie entsprach: Die Suggestion der Auflösung kollektiver Verantwortlichkeiten zugunsten der ‘AG Deutschland’ und projizierter ‘Ich-AGs’ korrespondiert seitenverkehrt mit den Forderungen nach Entsorgung geschichtlicher Verantwortung in personalisierbare Sagas, die von Strukturen der Vernichtungsindustrie wohlweislich schwätzend schweigt. Volker Braun hingegen personalisiert im Gedicht, um den Rückschluss zu kollektiven Erinnerungen wachzuhalten, vor allem auch zu den zu Phrasen abgesunkenen Humanitätsansprüchen der deutschen Klassik. Deshalb in den nächsten Versen ‘das Geschiebe den Berg hinauf / Worte und Knochen’, deshalb das verschobene Zitat von Goethes ‘Edel sei der Mensch’ in ‘Edel Mensch sei der’. Doch dies ist nur ein Aspekt. ‘Das Geschiebe den Berg hinauf’ bereitet die ‘geologiehistori­schen’ Strophen 6 und 8 vor, lässt die Anstrengungen von Häftlingen in eins setzen mit tektonischen Bewegungen machtvoller Naturgewalten. In der Lyrik Volker Brauns haben Bewegungsarten und Fortbewegungsmittel stets eine herausragende metaphorische Rolle gespielt – vom ‘Schiff im Land’[17] in den sechziger Jahren über ‘Vom Besteigen hoher Berge’[18] in den siebzigern, dem ‘Eisenwagen’[19] und ‘Das gebremste Leben’[20] in den achtzigern bis zur ‘Karre in Zeutsch / Ein Fuß auf der Bremse ein Fuß auf dem Gas’[21] in den neunzigern. Stets noch fokussieren Gefährte und Bewegungsverben an zentraler Stelle die Intention, nach geschichtlichen Bewegungen und Stauräumen zu fragen und danach, wohin die Reise geht. ‘Das Geschiebe den Berg hinauf’ aber hält nicht einmal den Trost der Camus’schen Anstrengung des Sisyphos bereit; es ist Strafe und verzweifeltes Bemühen. Die Kombination ‘Worte und Knochen’ erinnert deshalb fatal an eine andere, genussvollere Anstrengung, an die

Suche nach dem Stoff (zum Schreiben, zum Leben), um gegebenenfalls den Tod zu finden. Die Mechanismen des Zeitalters auseinanderschrauben, die Beziehungen zerfasern nach dem geheimen Blut der Geschichte,[22]

wie es in der poetologisch präzisen Definition in den siebziger Jahren heißt. Diese Definition des ‘Stoff zum Leben’ übergreift immerhin die Wendezeit und führt zu den Zentralgedichten des Bandes Tumulus. ‘Worte und Knochen’ überführen Lebenstätigkeiten – Leben, Schreiben – nun in ihre Zerfallsprodukte: Worte und Knochen. ‘Ein Steinbruch bei Weimar’ schrägt in diesem Zusammenhang Symbolworte der Klassik (‘Weimar’) und der Avantgarde (‘Steinbruch’) ineinander – eine Konstellation, die Braun lebenslang vertraut gewesen ist und nun durchstört wird durch die Gegenwärtigkeit aufgerufener Entsetzlichkeit. Dass Brecht Shakespeare als literarischen Steinbruch betrachtete, ist hinlänglich bekannt, ebenso die Steinbruch-Extasen Heiner Müllers. ‘Ich habe’, schreibt Braun in seiner 1997 geschriebenen Würdigung von Peter Weiss, die Ästhetik des Wider­stands immer als Steinbruch betrachtet, als immenses Material, freigelegt für andere Generationen.[23] Braun nimmt diese in den Ästhetiken des 20. Jahrhunderts geläufige Beerbungsmetapher im Zeitalter der industriellen Reproduktion im Angesicht ihrer unmittelbar realgeschichtlichen Präsenz auf: In den Konzentrationslagern wurde die antike Degradierungsma­schine von Menschen in pure körperliche Verwertungsinstanz körperlicher Arbeit übernommen; die Steinbrucharbeit in den KZs wie auch das Karrenziehen in Buchenwald diente zuförderst der Erniedrigung.

Anschließend montiert Braun nun in den Text Ausrisse aus einem – nach Auskünften des Autors – authentischen Bericht eines Ober­sturm(bann)führers, der zu allem Hohn auch noch Schiller hieß. Ein Zeugnis, das die über die Zeiten gleichbleibenden Verwertungsinteressen der Industrie dokumentiert. ‘F.d.R:’ – für die Richtigkeit bürgt Schiller.

Unvermittelt schwenkt der Text auf die Neptunismus-Vulkanismus-Debatte um die Erdentstehung, die im 18. Jahrhundert als ‘Basaltstreit’ in die Wissenschaftsgeschichte einging. Goethe tendierte zu den eher evolutionär-theologischen Vorstellungen der Neptunisten[24] und spielt im Faust II-Dialog zwischen Thales und Anaxagoras sowie im ‘Hochge­birgs’-Dialog zwischen Faust und Mephistopheles die Positionen der beiden Lager durch. In philosophischer Hinsicht und nicht zuletzt als Leiter der Bergwerkskommission in Weimar, der er ab 1777 war, interes­sierte er sich lebhaft für die Auseinandersetzungen zwischen evolutionä­ren und revolutionären Weltentstehungsbildern. Braun kommt recht umfänglich in gleich zwei Strophen (6 und 8) auf diese historische Debatte zurück. Die Strophen binden sich ein in die zahlreichen Goethe-Anspielungen, aber auch in Toposketten elementaren Geschehens (Z. 4: ‘Dunkel der Untergrund’, Z. 18: ‘das Geschiebe den Berg hinauf’, Z. 46: ‘In deren Glut’), sie erfüllen somit eine Scharnierfunktion. Nicht zu überlesen ist die feingewirkte Ironie, wenn Braun in den Versen 30/31 ausgerechnet das Wort ‘ordentlich’ trennt: ‘Oder setzt das Wasser ordent- / Lich es zusammen.’ Die achte Strophe lässt sich zudem als ironische, gleichsam zeitenverkehrte (geologische Zukunft statt Vergangenheit, Ansteigen der Meere statt Sedimentbildung in ihrem Rückgang) Replik auf Goethes Aufsatz ‘Über den Granit’ lesen, in dem dieser in erhabener Geste reflektiert:

Diese Klippe, sage ich zu mir selber, stand schroffer, zackiger, höher in die Wolken, da dieser Gipfel noch als eine meerumfloßne Insel in den alten Wassern dastand, um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, und in ihrem weiten Schoße die höheren Berge aus den Trümmern des Urgebirges und aus ihren Trümmern und den Resten der eigenen Bewohner die späteren und ferneren Berge sich bildeten. [...] Aber bald setzen sich diesem Leben neue Szenen der Zerstörungen entgegen. In der Ferne heben sich tobende Vulkan in die Höhe, sie scheinen der Welt den Untergang zu drohen, jedoch unerschüttert bleibt die Grundfeste, auf der ich noch sicher ruhe, indes die Bewohner der fernen Ufer und Inseln unter dem untreuen Boden begraben werden.[25]

Die Strophen 6 und 8 klammern eine Strophe ein, in der auf ein verbürgtes Geschehnis rekurriert wird: Der gleich nach der Besetzung Österreichs am 15. März 1938 verhaftete österreichische Justizminister und Generalpro­kurator Robert Winterstein wurde in das KZ Buchenwald eingeliefert, wo er am 13. April 1940 umgebracht wurde. Die Wendung ‘Minister in Ruhe’ (statt amtlich ‘im Ruhestand’) verweist diskret auf jenen anderen Minister in anderer Zeit, der unter der später nach ihm benannten Eiche tatsächlich dort Ruhe finden konnte von den politischen Tagesgeschäften: Goethe selbstredend. Doch damit nicht genug: Braun verknüpft die makabere Geschichte des Todes von Winterstein mit dem Erdgeschehen, wie es von diesem Ort aus groß gedacht werden konnte: ‘Vulkane’ (Z. 28) – ‘eine rauchend’ (Z. 35) – ‘Öfen’ (Z. 45) – ‘Glut’ (Z.46), zum anderen ‘Gebirge’ (Z. 29) – ‘Postenkette’ (Z. 36) – ‘Rennsteig’ (Z. 41). In diesen Verweiszu­sammenhängen dämmert ein Goethetext herauf, der am Schluss des Gedichts zitiert wird. In der ‘Harzreise im Winter’ heißt es:

Winterströme stürzen vom Felsen

In seine Psalmen,

Und Altar des lieblichsten Danks

Wird ihm des gefürchteten Gipfels

Schneebehangner Scheitel,

Den mit Geisterreihen

Kränzten ahnende Völker.[26]

‘Winterstein [...] / Ging [...] / Über die Postenkette’ (Braun) korrespon­diert mit ‘Winterströme stürzen vom Felsen’ (Goethe); ‘Weiß die Schneise eisig / [...] / Bäume hingelegt / Auf! Die kahlen Hälftlinge’ überschreibt palimpsestiös die Goethezeilen ‘Schneebehangener Scheitel, / Den mit Geisterreihen / Kränzten ahnende Völker’. Wo Goethe die Verwandlung geschauter Natur in die Feier warmherzigen Gefühls (‘Altar des lieb­lichsten Danks’) und dichterischer Energie (‘Psalmen’) preist, zeichnet Braun eine Landschaft des menschengemachten Schrecklichen.

In Verszeile 40 wendet sich der Sprecher an einen Gesprächspart­ner, und dies mit der salopp-intimen Anrede ‘Mein Bester!’. Die Fülle der Goethe-Zitate legt die Vermutung nahe, dass niemand anders als der Weimarer Geheimrat gemeint sein kann, zumal dieser den Ettersberg zu seinem Lieblingsort auserkoren hatte. Dichter-Anreden haben bei Braun Tradition und folgen fast immer dem Prinzip, das Verhältnis von Nähe und Distanz zu bestimmen.[27] Die neunte Strophe beginnt mit einem leicht abgewandelten Zitat aus dem Goethischen ‘Prometheus’. Bei Goethe heißt es:

Mußt mir meine Erde

Doch lassen stehn

Und meine Hütte, die du nicht gebaut,

Und meinen Herd,

Um dessen Glut

Du mich beneidest.[28]

In den Zeilen 45 und 46 überschreibt Braun den Goethe-Text mit dem Verweis auf Buchenwald / Auschwitz: ‘Und die Öfen / In deren Glut’. Der Satz wird abgebrochen, der Leser ist angehalten, die schwer auszuhaltende Vorstellung der massenhaften Menschenverbrennung hinzuzufügen.

Die Schlussstrophe durchbricht das Prinzip des vierversigen Strophenaufbaus. Die aneinandergereihten Komposita erzeugen den Ein­druck statischer Kompaktheit und Kryptik. Die Antinomiebildung ‘Wintersommer’ trägt den Stempel des Unvereinbaren nur zu deutlich, wiewohl es die durch das Gedicht geführten Gegensatzzeichen von Kälte (‘eisig’, ‘schlotternden Leibs’, ‘Nebel’) und Hitze (‘Vulkane’, ‘rauchend’, ‘Öfen’, ‘Glut’) sprachlich zusammenfügt. Die Findung ‘Grabgewölke’ erinnert entfernt an Paul Celans ‘Todesfuge’.[29] Allerdings lässt einer der sanftesten Rundumblicke Goethes in ‘Harzreise im Winter’ stutzen, in der er den Einsamen freundlich bedenkt:

Aber den Einsamen hüll’

In Deine Goldwolken

Umgib ihn mit Wintergrün

Bis die Rose wieder heranreift[30]

Die ‘Goldwolken’ depravieren zum ‘Grabgewölke’, aus ‘Wintergrün’ zieht Braun das antonymische ‘Wintersommer’: Die Vereinbarungsgesten, die Goethe in mild stimmender Höhe exemplifiziert, sie können nicht mehr greifen, die Beruhigung des Felsenblicks ist durchaus trügerisch.

Die Schlusszeilen montiert Volker Braun mit Direkt-Zitaten Goethes aus dessen ‘Harzreise im Winter’:

In Dickichtsschauer

Drängt sich das rauhe Wild,

Und mit den Sperlingen

Haben längst die Reichen

In ihre Sümpfe sich gesenkt.

[...]

Du stehst mit unerforschtem Busen

Geheimnisvoll offenbar

Über der erstaunten Welt

Und schaust aus Wolken

Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

Die du aus den Adern deiner Brüder

Neben dir wässerst.[31]

Der Gegensatz zwischen Goethes Erhabenheitspathos in seinem großen Denk-Gesang auch über den Entwurf des Dichterbildes und Brauns Verknappungslakonik könnte kaum größer sein:

Wintersommer

Lebenslänglich

Ein Grabgewölke

Dickichtschauer

Die du aus Adern wässerst.[32]

Die Schlussverse in ‘Andres Wachtlied’ bezeugen auf diesem Hintergrund eine in Sprache gebannte Trauer um die Unwiederbringlichkeit, noch mit einem Selbst- und Weltbewusstsein auftreten zu können, wie es Goethe eigen war. Aus den Goethe-Worten wird statt dessen ein körperliches Entsetzen destilliert, das das sprechende Ich erfasst und es hindert, zu vergessen. Volker Brauns ‘Andres Wachtlied’ ist somit als Memorial, als Gang in die Tiefe individuellen und kollektiven Gedächtnisses, als Wider­standsarbeit gegen die neudeutsche Vergessenskultur zu lesen. Dabei geht der Autor bis an die Grenze des Nachvollziehbaren. Braun beruft sich auf Peter Weiss: ‘das absolut nonkonformistische, das Anormale, in dem sich vielleicht einmal die wahre Vernunft zeigen wird’.[33]

Das ist der Punkt, von dem aus die Gedichte zu glänzen anfangen können: in eben dieser Zusammenfügung des absurd Erscheinenden, des Inkommensurablen, das aber das Lebendige einschließt und es ermöglicht. Brauns Gedicht knüpft an die Grabungsarbeit an, die den Gedichtband Tumulus zentral bestimmt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Brauns, wonach ‘Tumulus [...] auch der vierte Teil von Stoff zum Leben (sei). Der Stoff wird aus den Gräbern geholt.’[34] Poetolo­gisch ist sich Braun weitgehend treu geblieben. Schon seit langem war der Bruch, die Störung, die Zersplitterung und Stimmenanreicherung des Materials, die Selbstzitierung aus älteren eigenen Werken vorgängiges Prinzip einer prozesshaft ausgestellten Arbeit der lyrischen Subjektivität. Seit Ende der siebziger Jahre mutete Braun diese Arbeit gegen die Deckgebirge der Ideologien seinen Lesern zu, einschließlich des Schmerzes, der mit der Verdunkelung seiner Hoffnung auf eine andere Gangart in der Geschichte verbunden war. Und diese Zumutung war stets glaubhaft existentiell begründet. Bereits im Rimbaud-Essay ließ er wissen:

Freunde und Feinde warten auf meine endgültige Reise ins Aus, den Abgang vom Gerät. Sie sagen ihn voraus als die Konsequenz: die Zerreißprobe endet. [...] Aber ich bin nicht nur das zerrissene Fleisch, ich bin es auch, der es zerreißt. Ich entkomme nicht, es sei denn über die eigene Grenze.[35]

Wo ist diese nun? Braun setzt gleichsam zurück zu den von Bahro inspi­rierten Überlegungen im Umkreis seines Stückes Großer Frieden, nur ohne einen anderen Ausgang zu akzentuieren: ‘Eine Umwälzung, die nicht den Grund berührt, der die Arbeit ist, versumpft und findet sich wieder in alter Geschichte.’[36]

In einem bereits 1981 geschriebenen ‘Traumtext’ imaginiert er, ungeschützt durch hoffensträchtige Einreden, diese Versumpfung, besser: dieses Sedimentierungsgeschehen von Menschheitsgeschichte zu Bosch-hafter Aber-Natur ohne Höllenausgang:

Als sie fort sind, nimmt die Landschaft, in die ich falle, kalte, große Dimensio­nen an. Felswände, dunkle Winkel, zahllose knirschende Brücken und Räder­werke, die ich mit Interesse betrachte; gefährliche Leitern und rostige Eisenträger, über die ich balanciere, Geröll, Stacheldraht, überall tropfender Schleim. [...] Das Gebirge, das ich für unnahbar hielt, erkenne ich als die geronnenen und kommunen Strukturen der Geschichte. Ich finde sie wie beschrieben, verwittert, grotesk. Mich erfüllt plötzlich eine kalte ruhige Freude.[37]

Die Bildwelten, in die das Ich nun taucht, grundierten etliche Texte der achtziger Jahre.[38] Diese Umorientierung auf die systemübergreifende zivili­satorische Megamaschine sieht er nach 1989 durch den Gang der Vereinigungs-Dinge nach dem kurzen Herbst der Anarchie bestätigt.

Noch einmal beginnen, mein Leben beginnen. ÜBER DIE GRENZE GEHEN. Mit ihr leben. Es ist ein Traum, nicht wahr. Die bessere Welt ist, wo man kämpft[39],

lässt er die Figur des Wilhelm, bevor dieser stirbt, im Stück Die Über­gangsgesellschaft (entstanden 1982) sagen. Ende der neunziger Jahre muss sich Braun fragen: ‘Das Gefühl, daß sich das Leben in Pornografie verwandelt, oder was ist das, wenn keine Kämpfe mehr stattfinden.’[40]

Brauns Grundthema von Jugend an, die Demokratisierung hochgra­dig autoritärer, parasitärer Gesellschaften, ist ja mitnichten erledigt, denn feudaler Staatssozialismus und high-tech-Kapitalismus beruhen beide auf der Unterwerfung der inneren und äußeren Natur des Menschen, der Fetischisierung entfremdeter Arbeit, der Spreizung von Verstand und Vernunft in instrumenteller Rationalität und Humanitätsdefiziten. Braun: ‘Es kann kein Zufall sein, dass die eine Gesellschaft die andere in Grün ist und sich unsere Erfahrungen ähneln wie ein Überraschungsei dem anderen.’[41] Dieser fastfröhliche Sarkasmus allerdings ist auch Untertrei­bung; denn das Entsetzen, die Wut und die Trauer schlagen in etlichen Gedichten der neunziger Jahre zu Buche.

Und das Spiel ist gelaufen. Im übrigen bin ich der Meinung

Daß der Sozialismus zerstört werden muß, und

Mir gefällt die Sache der Besiegten,

endet cato’sch ein Gedicht aus den frühen neunzigern, ‘DAS THEATER DER TOTEN’,[42] das nicht in Tumulus aufgenommen wurde. Die Arbeit nun heißt Archäologie: ‘Wenn die Ideen begraben sind, kommen die Knochen heraus.’[43] Kein Zufall, dass es zwei Groß-Topoi sind, die zentrale Stellung im Band einnehmen: der des Begrabenwerdens (bzw. -seins) (‘Tumulus’, ‘Plinius grüßt Tacitus’, ‘Das Nachleben’) und der der Tötungsmaschinen (‘Schreiben im Schredder’, ‘In der Strafkolonie’). Der Trick: Hier wird die Haltung eines Untoten, lebendig Begrabenen einge­nommen, eines ‘Verrückten / aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte.’[44] Eine Autorposition, die sich gar nicht so erstaunlicherweise variiert auch bei anderen Lyrikern, Heiner Müller, Harald Gerlach, Karl Mickel oder bei Wilhelm Bartsch findet.[45]

Geschichte wird zum Geschichteten der Ablagerungen früheren Lebens, Liebens – und Sterbens, zum ‘tektonischen Vorgang, als [...] Vorgang in der Tiefe’.[46] Bereits in seiner Leipziger Poetik-Vorlesung in der Umbruchszeit 1989 hat Braun die Arbeit des Dichters auf den Punkt zu bringen versucht, dieses ‘Geschichteten’ habhaft werden zu können:

es läßt sich aber ein Verfahren denken, das einen überlegten Abstieg in diese Tiefe vollzieht, so daß wir die Augen aufbehalten und die ganze Mächtigkeit der Formation wahrnehmen

 

ein archäologisches,

erkundendes Verfahren

 

die Deckgebirge des Scheins abtragend

Schicht für Schicht aufdeckend

immer tiefer grabend[47]

Es ist, nicht zuletzt für das Verständnis von ‘Andres Wachtlied’, außeror­dentlich aufschlussreich, dass Braun in diesem Zusammenhang gehäuft begriffliche Anleihen an dem Fachwortschatz aus Geographie, Mineralo­gie oder dem Bergbau nimmt. Braun im Interview 1999:

Es wäre zu fragen, wie weit wir herausgetreten waren aus dem Alten, ob das ein Schritt aus der Formation hinaus war. Es war die gleiche Art des Produzie­rens. Insofern ist Rückkehr, Restauration nur bedingt richtig. Auch das Alte ist sich nicht gleich geblieben, und wir bewegten uns im Großen in demselben Gemen­ge. Es ist dasselbe Sediment, in dem wir wühlen. Man muß das ohne Aufregung sehn. Diese Sonden, Gänge, die da geschaufelt werden, die nicht bloß brachiale, die auch feine und noble Episoden waren – dies alles bleibt merkwürdig und wird für alle Zeiten ein Gegenstand des Betrachtens sein. Diese Versuche, sich her­auszuschlagen, die in tiefere Löcher führten oder schmerzlich versackten. Es war, es ist das bürgerlich-proletarische Zeitalter mit seinen utopischen Querschlägen im tauben Gestein.[48]

Das Einspeisen naturwissenschaftlicher Begriffe als Embleme in geschichtsphilosophisches Reflektieren, das Braun seit Bodenloser Satz forciert, erlaubt es ihm zudem, sein radikalisiertes Natur- mit dem Gesell­schaftsverständnis zusammenzudenken. Immerhin beendete Braun die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises mit den Sätzen: Wie lange hält uns die Erde aus / Und was werden wir die Freiheit nennen?[49] In diesem Kontext erhält die spekulative Wachtlied-Erwägung, das Meer stiege wieder zum Rennsteig, weitere Plausibilität:

Was interessiert, ist nicht Geographie, sondern Geologie. Die Erfahrung wird uns zuteil im Moment, wo ihr Grund versinkt. In der Niederlage, wo die Einbildungen versickern. Eine Verwerfung der Geschichte von Grund aus mit Grund, die die Figuren verwandelt.[50]

Diese Geste sarkastischer Erhabenheit ist ein Grundzug in Gedichten und Gesprächsäußerungen Brauns – ‘Der Kannibalismus unter Galaxien’[51] – wirft der Gesprächspartner auf Dieter Schlenstedts Bitte um ‘Themen­wechsel’ ein. Es ist dabei eher die dem Erhabenen benachbarte Kategorie des Grotesken denn die Peilung skurrilen Humors, die Braun interessiert, auch wenn er kundgibt:

Es ist jetzt unsere Niederlage, die wir errungen haben, mein Gelingen, das ein Scheitern ist, unsere nicht ohne Gelächter zu rekapitulierende Lage. [...] Wo ist [...] der heimische Boden, um Stellung zu nehmen, nachdem die Fronten verlas­sen sind, Ost/West, aber die Kämpfe, die Unterwerfungen weitergehn als Geschäft des engineering instruction.[52]

Der unheimliche Boden ist nun z.B. ein vor 5000 Jahren für einen Hochgestellten errichteter bretonischer Totenhügel. Topographische Punkte, aber auch Landschaften sind für Braun fast immer symbolische, geschichtsphilosophisch aufgeladene Topoi, so auch hier. Nur dass es nicht mehr Chiffren von möglicher Emanzipation (‘Vom Besteigen hoher Berge’, ‘Höhlengleichnis’[53]), sondern Grabstätten der Hoffnung sind: Auffällig deshalb die Neigung zum Zusammenziehen wenig kommensu­rabler Ereignisse, die allein verbindet, dass sie den Beteiligten als Geschichte machende Einschnitte unmittelbar bewusst wurden: Etwa die Seeschlacht im Gallischen Krieg und der Fall der Mauer in ‘Der Totenhü­gel’.[54] Das Gedicht besitzt eine Mittelachse, auf der chiastisch Einzelleben und Schicksale von Weltreichen gekreuzt werden. In diesem Gedicht und vergleichbaren Gedichten mittlerer Länge in Tumulus wie ‘Abschied von Kochberg’, ‘Das Magma in der Brust des Tuareg’ oder ‘Nach dem Massa­ker der Illusionen’[55] situiert Braun jähe Momente des Eingedenkens. Die üblichen harten Schnitte zwischen Wahrnehmung, Reflexion, Zitat bzw. Selbstzitat fungieren als Verdichtungsmomente (zumeist eines Er­schreckens) wie auch rasche Wechsel der Perspektiven und Rollen: ‘Iden­titätstausch’[56] ist in dieser Hinsicht ein aufschlussreiches Signalwort. Nun resultiert der Verlust der ‘Zentralperspektive’ nicht aus den neunziger Jahren, aber sie blieb gleichsam ein Bezugspunkt, an dem sich das Ich in seiner Multiperspektivität abarbeiten konnte: Im ‘Auf-Sich-Geworfen-Sein’ fehlt jetzt gleichsam das Gegenüber der Balancemöglichkeit:

Ein Riß

In der Existenz [...] Das Minenfeld

Deiner Kompromisse

Geht langsam hoch. Passé

Politisches Tier

Vergiß die Witterung des Ziels.

Abgewickelt

ausgeschieden

verrutscht

Ohne Zentralperspektive

Fällt dein leichter Leib durch den Rost;

PARTEI UND STAAT, der kurze Abgang

Der Seilschaft

Von der Eifer-Nordwand[57]

Was aber bei Braun nie verloren geht, ist die elementare Genussfähigkeit, der Trotz der Lebenskräfte gegen die Zumutungen der Zurüstungsappa­rate. Diese unverkapselte Lust, durch die Lebensstufen hindurch bewahrt, das erscheint ihm im Gegensatz zu den monströsen Gesellschaftsbauten als das ‘Normalste’ auf der Welt und somit als ‘fortgesetzter Wider­stand’:[58] die Sehnsucht nach Leben, Freude, Sinnlichkeit, Genuss nicht der Macht, sondern der Gleichheit im Austausch von Gedanken, Bestätigun­gen, Körperflüssigkeiten und Berührungen, der anderen ‘Dickichtschauer / Die du aus Adern wässerst’, um ein letztes Mal auf ‘Andres Wachtlied’ zurückzukommen. Weil, wie Hans Kaufmann 1999 anmerkt, ‘was ihm durch den Kopf gegangen ist, ist ihm auch durch Mark und Bein gegan­gen.’[59] Das Gedicht ‘Weststrand’ endet mit Versen, deren Motivik nicht von ungefähr an eines der fröhlicheren Gedichte aus den frühen siebziger Jahren erinnert: ‘Die Austern’:[60]

Sie schlürfen die Muscheln

Eine Nacht nach der andern

Betäubt mit Zitronen

Und ich hoffte wieder, mich der Dinge

Die mich treffen

Ein Erwählter

Würdig zu zeigen.[61]

 

Anmerkungen


[1] Wolfgang Fritz Haug, ‘Roter Orpheus, taube Zeit’, in: Volker Braun Arbeitsbuch, hg. v. Frank Hörnigk, Theater der Zeit / Literaturforum im Brecht-Haus: Berlin, 1999, 80-83, hier 80.

 

[2] Ebd., 81.

 

[3] Volker Braun, ‘Andres Wachtlied’, in: Jahrbuch der Lyrik 2001, hg. v. Christoph Buchwald und Ludwig Harig, C.H. Beck: München, 2000, 24-26.

 

[4] Erste Anregungen hierfür erhielt ich während einer Tagung in Vlotho 2000, die sich dem Werk Volker Brauns widmete, vor allem von Wilfried Grauert und Katrin Bothe.

 

[5] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Christian Wegner: Hamburg, 1948ff., Bd. 3, 279.

 

[6] Joseph von Eichendorff, ‘Auf der Feldwacht’, in: Eichendorff, Werke, Winkler: München, 1970ff., Band 1, 163-164.

 

[7] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000, Suhrkamp: Frankfurt/M., 2000 [= Sonderdruck edition suhrkamp], 19-30, hier 26.

 

[8] Georg Büchner, ‘Woyzeck. Erste Fassung. Szenengruppe 2’, in: Sämtliche Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar (Hamburger Ausgabe), hg. v. Werner R. Lehmann, Christian Wegner: Reinbek, 1967-1971, Bd. 1, 156.

 

[9] Ebd., 168.

 

[10] ‘Schichtwechsel oder Die Verlagerung des geheimen Punkts. Volker Braun im Gespräch mit Silvia und Dieter Schlenstedt’, März 1999, in: Volker Braun Arbeits­buch, 174-188, hier 176-177.

 

[11] Volker Braun, Großer Frieden, in: Im Querschnitt. Volker Braun, Mitteldeutscher Verlag: Halle; Leipzig, 1978, 229-292, hier 292.

 

[12] Volker Braun, ‘Material V: Burghammer’, in: Braun, Langsamer knirschender Morgen, Mitteldeutscher Verlag: Halle; Leipzig, 1987, 33-36, hier 35.

 

[13] Vgl. etwa die ‘Fanfarisierung’ des Wortes ‘Solidarität’ in die Bedeutungsverkommen­heit am Ende von ‘Der Frieden’: ‘DIE SOLIDARI / TÄTERÄTÄH’. Doch sind solche Operationen an den Wortkörpern bisher die große Ausnahme gewesen.

 

[14] Bertolt Brecht, ‘Der Einarmige im Gehölz’, in: Brecht, Gedichte, Bd. VII, Aufbau: Berlin; Weimar, 1969, 18.

 

[15] Ebd.

 

[16] Martin Walser, ‘Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede’, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1998, 17.

 

[17] Volker Braun, ‘Schiff im Land’, in: Braun, Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1996, 11-14.

 

[18] Volker Braun, ‘Vom Besteigen hoher Berge’, in: Braun, Training des aufrechten Gangs, Mitteldeutscher Verlag: Halle (Saale), 1976, 34-35.

 

[19] Volker Braun, ‘Material VIII: Der Eisenwagen’, in: Langsamer knirschender Morgen, 49-53.

 

[20] Volker Braun, ‘Das gebremste Leben’, in: Langsamer knirschender Morgen, 42-43.

 

[21] Volker Braun, ‘Abschied von Kochberg’, in: Braun, Tumulus, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1999, 20.

 

[22] Volker Braun, ‘Definition’, in: Training des aufrechten Gangs, 59.

 

[23] Volker Braun, ‘Ein Ort für Peter Weiss’, in: Braun, Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1998, 164-174, hier 168.

 

[24] Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, ‘Über den Granit’, in: Goethes Werke. Hambur­ger Ausgabe, Bd. 13, 255-256.

 

[25] Ebd.

 

[26] Johann Wolfgang Goethe, ‘Harzreise im Winter’, in: Goethe, Berliner Ausgabe, Poetische Werke, hg. v. Siegfried Seidel, Aufbau: Berlin; Weimar, 1965, Bd. 1, 316-318, hier 318.

 

[27] Vgl. z.B. Volker Braun, ‘An Friedrich Hölderlin’, ‘Im Ilmtal’, in: Braun, Gegen die symmetrische Welt, Mitteldeutscher Verlag: Halle; Leipzig, 1974; ‘Zu Hermlin, Die einen und die anderen’, ‘Zu Brecht, Die Wahrheit einigt’, in: Training des aufrechten Gangs; ‘Bericht über Iwan Ossipow. Nach Angaben Komarows’, ‘Lessings Tod’, in: Langsamer knirschender Morgen, u.v.m.

 

[28] Johann Wolfgang von Goethe, ‘Prometheus’, in: Berliner Ausgabe, Bd. 1, 327-328, hier 327.

 

[29] Vgl. Paul Celan, ‘Todesfuge’, in: Celan, Gedichte in zwei Bänden, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1975, 39-42.

 

[30] Goethe, ‘Harzreise im Winter’, 318.

 

[31] Ebd., 316, 318.

[32] ‘Andres Wachtlied’, 26.

 

[33] ‘Ein Ort für Peter Weiss’, 171.

 

[34] ‘Schichtwechsel’, 177.

 

[35] Volker Braun, ‘Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität’, in: Braun, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Reclam: Leipzig, 1988, 95-120, hier 101.

 

[36] Volker Braun, ‘Die Müdigkeit beim Gedanken an die Macht’, in: Wir befinden uns soweit wohl, 117-119, hier 118.

 

[37] Volker Braun, ‘Traumtext’, in: Verheerende Folgen ..., 74.

 

[38] Vgl. z.B. die Schlusssequenzen von ‘Der Eisenwagen’ oder das Teilstück ‘An der armorikanischen Küste’ im ‘Rimbaud-Essay’.

 

[39] Volker Braun, ‘Die Übergangsgesellschaft’, in: Braun, Stücke 2, Henschel: Berlin, 1989, 144.

 

[40] Volker Braun, ‘Traumtext’, in: Tumulus, 7-9, hier 8.

 

[41] ‘Die Müdigkeit beim Gedanken an die Macht’, 119.

 

[42] Volker Braun, ‘Das Theater der Toten’, in: Lustgarten. Preußen, 146.

 

[43] Volker Braun, ‘Nach dem Massaker der Illusionen’, in: Tumulus, 28; siehe auch: Die Verhältnisse zerbrechen, 25.

 

[44] Volker Braun, ‘Das Nachleben’, in: Tumulus, 14.

 

[45] Vgl. Heiner Müller, ‘Fremder Blick: Abschied von Berlin’ (287), ‘Und gehe weiter in die Landschaft’ (309), in: Müller, Werke 1. Die Gedichte, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1998; Karl Mickel, ‘Grabung’, in: Jahrbuch der Lyrik 2001, 24; Harald Gerlach, ‘Orte’, in: Gerlach, Nirgends und zu keiner Stunde. Gedichte, Aufbau: Berlin, 1998, 5; Wilhelm Bartsch, ‘Verlorene Erde. Nach Walter Bauer’, in: Bartsch, Gen Ginnunga­gap. Gedichte, Mitteldeutscher Verlag: Halle (Saale), 1994, 14.

 

[46] ‘Schichtwechsel’, 181.

 

[47] Volker Braun, ‘Leipziger Vorlesung’, in: Wir befinden uns soweit wohl, 29-50, hier 46.

 

[48] ‘Schichtwechsel’, 183.

 

[49] Die Verhältnisse zerbrechen, 30.

 

[50] ‘Schichtwechsel’, 182.

 

[51] Ebd., 185.

 

[52] ‘Ein Ort für Peter Weiss’, 169-170 [Hervorhebung im Original].

 

[53] Vgl. Volker Braun, ‘Vom Besteigen hoher Berge’ (34), ‘Höhlengleichnis’ (60), in: Training des aufrechten Gangs.

 

[54] Volker Braun, ‘Der Totenhügel’, in: Tumulus, 16.

 

[55] Volker Braun, ‘Abschied von Kochberg’ (20); ‘Das Magma in der Brust des Tuareg’ (24); ‘Nach dem Massaker der Illusionen’ (28), in: Tumulus.

 

[56] ‘Das Magma in der Brust des Tuareg’, 24.

 

[57] Volker Braun, ‘Der Weststrand’, in: Lustgarten. Preußen, 149-158, hier 151.

 

[58] Hans Kaufmann, ‘Fortgesetzter Widerstand’, in: Volker Braun Arbeitsbuch, 74.

 

[59] Ebd., 76.

 

[60] Volker Braun, ‘Die Austern’, in: Gegen die symmetrische Welt, 11.

 

[61] ‘Der Weststrand’, 155.