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Peter Geist (Berlin)

Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene in der DDR (1976 – 1989)

„faden, aus schaden gesponnen“ – Zur Genese einer Dichtergruppe  

In den achtziger Jahren wurde sie als „andere“ Literatur aus der DDR gefeiert, in den frühen Neunzigern nach der Enttarnung zweier Protagonisten als informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit im zweiten Akt des „Literaturstreits“ vom Feuilleton in Bausch und Bogen entwertet, beides aus durchsichtigen politischen Gründen. Waren die Texte der unscharf als „Prenzlauer-Berg-Connection“ (Adolf Endler) oder als „inoffizielle Literaturszene“ bezeichneten Autorengruppierung lediglich „jugendliche Manifestationen einer literarischen Aussteigerbewegung“ (Frauke Meyer-Gosau, ZE 36) und „artifizeller Narrenfreiheit“ (Leonhard Lorek, MS 116)? Dokumente einer DDR-spezifischen Nachhol- und Anschlussbewegung an Spielarten der literarischen Moderne, deren literarische Relevanz sich mit dem Hinscheiden des DDR-Kontextes erledigt hatte?

Am Ende der siebziger Jahre wurde evident, dass die ökonomische, kulturelle, gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der DDR in eine tiefgreifende Krise geriet: Sichtbare Symptome dafür waren die Verschlechterung der Versorgungslage, der Zerfall der Innenstädte, die überall sichtlichen Verheerungen der natürlichen Umwelt. Die Biermann-Ausbürgerung zerschlug die in den frühen siebziger Jahren gekeimten Hoffnungen auf eine allmähliche Liberalisierung und Demokratisierung des kulturellen und politischen Lebens. In dieser Situation waren immer mehr „Hineingeborene“ (Uwe Kolbe), die nie etwas anderes kennengelernt hatten als den DDR-Sozialismus, nicht mehr bereit, die stillschweigenden und stillstellenden Agreements zwischen Staat und Bevölkerung weiter ungefragt zu akzeptieren. Ende der siebziger Jahre entstanden urbane Jugendkulturen in den größeren Städten, in Leipzig, Dresden und vor allem in Berlin, die ihre eigenen Strukturen abseits staatlicher Bevormundung zu entwickeln versuchten, wiewohl die Staatssicherheit von Anfang an informelle Mitarbeiter zu plazieren wusste. Die Lyrikszene war integraler Bestandteil einer community von Punk-Musikern, Malern, Super-8-Filmern und Lebenskünstlern, oftmals in Symbiose. Bis 1981 konnten einige Lyriker noch vereinzelt in der vom Verlag „Neues Leben“ herausgegebenen Zeitschrift Temperamente. Blätter für Junge Literatur  publizieren, von 1981 bis 1988 hatten sie, nach einem Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 11.11.1981, faktisch Publikationsverbot. Anhaltspunkt für diesen Beschluss war ein Arbeitsheft der Akademie der Künste, das Franz Fühmann initiierte und das von Sascha Anderson und Uwe Kolbe mit Gedichten junger Lyriker zusammengestellt wurde. Dieser Ausschluss einer halben Generation junger Schreibender aus dem Literaturbetrieb der DDR erreichte das Gegenteil des Bezweckten – das Gruppenverständnis der Ausgeschlossenen wurde bestärkt und installierte eine zirkuläre Gegenöffentlichkeit. Von nun an publizierten die angehenden Dichter in selbst verfertigten und –verlegten Graphik-Lyrik-Editionen, die zunächst als Gesetzeslücke entdeckt wurden, später in Zeitschriften wie Mikado oder der Kaiser ist nackt (Berlin 1983-1987, hg. von Uwe Kolbe, Bernd Wagner, Lothar Trolle), SCHADEN (Berlin 1984-1987, hg. von Egmont Hesse, Sascha Anderson, Leonhard Lorek, Peter Böthig, Ulrich Zieger u. a.), ariadnefabrik (Berlin 1986-1990) oder anschlag (Leipzig 1985-1990, hg. von Wiebke Müller, Karim Saab u. a.). Die Lyriker arbeiteten gemeinsam mit Musikern, Malern, Super-8-Filmern, Fotografen, waren zum Teil selbst Multitalente. Verbindender Nenner war das exorbitante Abenteuer, ein Denk- und Sprachland jenseits autoritärer Aufsichtslogik zu beleben: Mit dem Ehrgeiz, das „Unaussprechliche sprechbar“ (Stefan Döring, SA 102) zu machen, das Diffuse, Proteushafte, Ausgegrenzte, Verschwiegene „zügellos“ (in Anlehnung an Gabriele Kacholds Gedichtbandtitel zügel los) aus erstarrten Diskursstrukturen zu befreien. Des­halb probten sie die permanente Volte gegen Normen und „guten Geschmack“, Materialtests im Zerdehnen, Zerreißen, Zerlegen von Sprache, die Kultivierung des Fehlers im „Dichtergarten des Grauens“ (Jan Faktor), kurzum: eine machtsprachlich apolitische Politisierung der Kunst, „da Politik weder mit Alternativ-, noch mit Anti-, noch mit sonstwelchen A-Polytiken beizukommen ist ihr lediglich mit UNKONTROLL-/Lierbarkeit, in etwa einem Schalxtum“, wie es etwas hochgestochen im 81er Manifest Zoro in Skorne (VK 14) heißt. Diese Wendung von einer vorwiegend auf der Aussage-Ebene operierenden Gesellschaftskritik, wie sie den Poetiken etwa der „sächsischen Dichterschule“ immanent war, zu einem sprachbezogenen poetologischen Ansatz war mehreren Faktoren geschuldet:

Erstens: Die Erfahrung agonischer Entleerung von Sinnversprechen durch die depravierte Ideologie des offiziellen Marxismus-Leninismus bot für die Jüngeren offenbar immer weniger Reibungsflächen. Zum anderen erweckte die ideologische Einvernahme von „Systemkritikern“ wie Biermann durch eine ähnlich einfältige Propadanda des Westens den Eindruck, dass jedes „Gegenkonzept“ im binären System des Entweder-Oder verhaften bleibt. Wirkliche Subversion, so der Gruppenkonsens, musste diese machtfixierte Logik aufbrechen. Notwendig erschien deshalb, die Strukturen der Herrschaftssprachen Ost und West zu unterlaufen.

Zweitens: Theoretischen Beistand erfuhren diese Begehren durch die intensive Rezeption poststrukturalistischer Theoriemomente, die in dieser Zeit begierlich aufgesogen wurden, so die Verabschiedungen der Fiktionen von Ursprünglichkeit, Zentrum und Identität, die Foucault (inbezug auf die Diskurse), Lyotard (inbezug auf Philosophiesysteme), Derrida (inbezug auf priveligierte Signifikanten) und Baudrillard (inbezug auf das Verhältnis von Realität und Simulation) entwickelten. Die daraus hergeleiteten Denkfiguren erwiesen sich deshalb als handhabbar, weil sie in vielem mit Erfahrungen übereinstimmten. Die „Agonie des Realen“ und die Errichtung von Simulationskulturen ( Baudrillard), die Dekonstruktion von Machtsystemen (Foucault) oder die Entwertung der „großen Erzählungen“ (Lyotard) waren kompatibel mit dem Erfahrungshaushalt der jungen Literaten. Dass diese, wie einige ihrer Theorie-Vorbilder, die Gestaltungskraft ökonomischer Macht in Beziehung zu Diskursverhältnissen sträflich vernachlässigten, sollte sich nach dem Untergang der DDR als ein gewichtiger Grund für den widerstandsarmen Zerfall kollektiver Energien gegen den triumphalen Furor der neuen Herrschaftsdiskurse nach 1990 erweisen.

Drittens: Dergestalt theoretisch untermauert, waren die Ansätze einer „dekonstruktiven Dichtung“ (Peter Böthig, GR 72) gleichermaßen attraktiv für ganz verschiedene Interessenlagen: Eigentlich wenig interessante Wiederholungen dadaistischer Aktionen konnten so die Weihe innovatorischer Ansätze erfahren, wie auch Konzepte der Subjektdissoziation in eine „Theorie der kompletten Verantwortlosigkeit des Subjekts umgemünzt werden“ (Peter Böthig, GR 72) konnten, wie von Rainer Schedlinski oder Sascha Anderson als politisch dissoziierte Subjekte zwischen lyrischem, essayistischem und organisatorischen Engagement in der Szene einerseits und ihrer auch verschrifteteten Berichtstätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit andererseits praktiziert. Die weiterweisende Dimension von Sprachkritik als Gesellschaftskrititik, wie sie von Bert Papenfuß, Stefan Döring, Andreas Koziol, Eberhard Häfner u.a. intendiert war, sollte sich hingegen als ausbaufähig erweisen.

Bis zum Ende der DDR wurde über diese unterschiedlichen Interessenlagen nicht wirklich diskutiert, Einreden von außen (Volker Braun im Essay Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität) und von innen (Jan Faktors kritische Analysen) wurden ignoriert bzw. brüsk, so von Rainer Schedlinski gegenüber Faktor, abgewiesen. Andreas Koziols selbstironischer Rückblick 2001 deutet an, dass bei etlichen Protagonisten das trotzige Ausblenden konkreter gesellschaftspolitischer Kontexte seine Kehrseite hatte in der Überschätzung von Sprachphilosophie und –kritik:

„Und ich wollte auf meine Art einer subliterarischen Gemeinschaft angehören, in der das Wort des einen nicht der Ekel des anderen war.

Bekommen habe ich schließlich aber doch nur die Angst und den Prenzlauer Berg mit seinen dekonstruktivistischen Frechheiten der Verzweiflung am System. Das Feld der experi­mentellen Wortkunst war ja in der bisherigen DDR weitestge­hend seinem Schicksal überlassen bzw. ausgeblendet worden, so daß es auf einmal den Anschein hatte, als könnte man eben von dort als ein vorzeitig Abgeschriebener oder Resignierter in die Literatur eindringen und auch insofern aus einer tiefgreifenden Verwahrlosung neue Wahrheit gewinnen, als es ja die maroden Zustände der DDR selbst waren, deren verdecktes Chaos gerade die geeignete Grundlage für den Totentanz der humanistischen Ordnungsbegriffe abzugeben schien. Ehe ich mich dessen versah, rutschte mein Engagement für das Wort auf eine semantische Ebene, die sich als ein Spielplatz für plündernde Nachzügler eines sich langsam selbst zersetzenden Systems herausstellen sollte.“ (ZE 86)

 

1986 erschien bei Kiepenheuer & Witsch in Köln die Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, die einen repräsentativen Überblick über diese Literaturströmung zugänglich machte, zwei Jahre später die von Egmont Hesse besorgte Zusammenstellung Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR im S.Fischer-Verlag. Durch diese Veröffentlichungen wurde ein beträchtliches Interesse von Publizistik und Literaturwissenschaft außerhalb der DDR geweckt, das aber die unterschiedlichen Literaturvorstellungen und Interessen der Protagonisten eher überdeckte. Mit der von Gerhard Wolf seit 1988 im Aufbau-Verlag durchgesetzten Reihe außer der reihe, in der bis zum Ende der DDR Bände von Bert Papenfuß, Rainer Schedlinski, Stefan Döring, Peter Brasch, Gabriele Stötzer, Andreas Koziol und Jan Faktor erschienen bzw. vorbereitet wurden, schloss diese Literatur an den offiziellen Literaturbetrieb an.

Bereits in seinem Aufsatz Was ist neu an der jungen Literatur der achtziger Jahre? (VK 367 – 390) stellte Jan Faktor 1988 ein gewisse Selbstgefälligkeit der inzwischen nicht nur subkulturell etablierten Literaturszene fest und kritisierte das Festhalten am „Eisern Ästhetischen“ als Ausweichen vor notwendigen politischen Auseinandersetzungen:

„-so eine Art Autonomie der nicht offiziellen Kulturszene kann wirklich nicht ewig funktionieren; es fehlt ihr auf die Dauer die Reibung mit den Außenstehenden, gut oder weniger gut oder gar nicht gut gemeinte, aber ernstzunehmende Kritik, es fehlen offene Auseinandersetzungen.“ (VK 389)

Auch Klaus Michael konstatierte im Frühjahr 1989 unter der Formel „Der Überbau ist entmachtet, der untergrund ist tot“ (AS 241) das weitgehende Versanden des ursprünglichen kulturellen Anspruchs. Das Programm ästhetischer Subversion „der“ Ideologien und Hochkulturen war als Gruppenkonzept an dem gescheitert, woran noch alle Avantgarden sich nach heftig kurzer Blüte erschöpfen: An ihrer Institutionalisierung nach innen  - Ausbildung zunächst verdeckter hierarchischer Strukturen - und außen - Eintauchen in offizielle Kulturbetriebsamkeiten -, am Zurückschrauben gruppenzentrierter Aktivitäten, am Abschleifen innovativer Impulse in Wiederholungszwang, Eitelkeit der Macher und ritualisierter Inszenierung. Ende der achtziger Jahre dämmerte die Erkenntnis, dass die Zeit innovatorischer Überraschungen vorbei war und  die Sphäre des selbstreferentiellen Sprachspiels erweitert bzw. verlassen werden musste: „es war nicht meine idee / unumstößlich klingt sie aus, die ära des aktiven wortspiels, es wurde zu ernst“ (Bert Papenfuß, AA 166).

Peter Böthig ist zuzustimmen, wenn er resümierend schreibt:

Das Oszillieren zwischen Kontinuität und Bruch, zwischen Aufruhr und Resignation“ macht die Praxis der ausgegrenzten Literatur kenntlich als „Teile einer Literatur aus der DDR“ und „als ihr Spiegelbild, als Zerrbild und Alternative zugleich.“ (Peter Böthig, GR 64f.)

Die Kulturszene des Prenzlauer Bergs transformierte sich in nur unwesentlich geringerer Geschwindigkeit, mit der die DDR zerfiel. Doch während der Staat implodierte, gingen die auseinandergerissenen Fäden eines Netzwerkes neue Verknüpfungen ein, zerfaserten oder bildeten unentwirrbare Knäuel. Die poetologische „Grundlagenforschung“ der frühen achtziger Jahre, Voraussetzungen und Bedingungen des Sprechens erneut zu durchdenken, hat zugleich so starke Impulse für die divergierenden Einzelkonzepte bewirkt, dass sie bis heute für etliche Autoren bestimmend bleiben konnten. Die nun aber als singuläre Dichter wahrgenommen werden. Bert Papenfuß, Eberhard Häfner, Andreas Koziol, Ulrich Zieger und Johannes Jansen haben in den Jahren nach 1990 kontinuierlich weiter publiziert und können inzwischen auf ein beachtliches lyrisches Werk verweisen, dessen innovatorische Beiträge zur deutschsprachigen Lyrik der Moderne bei genauerer Betrachtung nur schwer zu leugnen sind.

„von der sache zu den zeichen – poetologische Schnittmengen

Die Wendung zu einem „lingustic turn“ (Richard Pietraß) in der Lyrik aus der DDR kennzeichnete einen Vorgang, der keineswegs eingrenzbar auf die „Prenzlauer-Berg-connection“ (Adolf Endler) gewesen war. So gab sich Elke Erb 1981 Rechenschaft über veränderte Aufmerksamkeiten in ihren Gedichten „gegen ein verantwortungslos lineares, aggressiv totalitäres Verständnis“ (Vortrag in Stockholm, unveröffentlicht) und stellte resümierend fest, dass „inzwischen eine allgemeine Bewegung“ in diese Richtungen eingesetzt hätte. Unbenommen jedoch war es vor allem jene Gruppierung junger, zumeist in Berlin lebender Autoren, die autochthone Varianten sprachbezogenen Dichtens in der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts entwickelte. In Sprache & Antwort beschrieb Rainer Schedlinski den gemeinsamen poetologischen Ansatz etwas kryptisch folgendermaßen:

„[...] hier entstehen textuale formen, die den blick von der sache auf das zeichen wenden, die nicht ermitteln sondern vermitteln. die keine wahrheiten nahelegen, sondern mit wahrheitsgefügen brechen, die den blick verstellten, die nicht die dinge besprechen, sondern mit den dingen sprechen, und wo die kombination der eigentliche stil wird. papenfuß zerlegt die sprache in kleinste, monemische einheiten, die sich dann untereinander, vom text gereinigt, neu vermitteln lassen. bei döring finden digitalisierte, dialektische kettenreaktionen statt, bei denen ein wort das nächstliegende umbringt. koziol arbeitet mit der mechanik der floskeln. all diese gedichte sind produkte einer ariadnemaschine, die in der gegenwärtigen leere zu arbeiten beginnt. indem sie sich bewußt einer mechanisierten induktiven kombination bedienen, gewinnen sie die freiheit, den gegenstand zu bedenken, ohne seiner diskursiven befangenheit zu verfallen.“ (SA 163)

Klaus Michael schlug 1990 zur definitorischen Eingrenzung eine Liste von „Gegenmodellen“ vor, etwa: die Akzentuierung der Emanzipation der Sinne gegen die Eindimensionalität des vorherrschenden Diskurses, der Poetik des Fehlers gegen den falschen Schein der Kontinuität, des Zersplitterns des Symbolinventars und des Verschleißes der gängigen Begriffe gegen die Sprachregelungen der herrschenden Öffentlichkeit (vgl. AS 237). Dies sind sicher hilfreiche, aber nicht hinreichende Beschreibungen der poetologischen Ansätze. Peter Böthig führte 1997 in Anlehnung an Derrida den Begriff einer „dekonstruktiven Dichtung“ in die Diskussion:

Die Betonung der Brüche, Risse, des Nicht-­Identischen, der Fragmentierung des Subjekts, der Differenzen, Offenheiten, Vielheiten, der Simulacren, Singularitäten, des Uneindeutigen, die Problematisierung der „heiligen“ Begriffe Subjekt, Fortschritt, Humanismus, Geschichte; erweitert um die spielerischen Qualitäten Satire, Blasphemie, aphoristische Verkürzungen, artistische Kapriolen, Fallen, Verschiebungen, Materialbezogenheit, Fragment (cut off).... all dies sind Mechanismen, die den Vorgang der Dekonstruktion von Bedeutung ermöglichen und vorzeigen, der zwangsläufig mit deren Konstruktion einhergeht. Diese Dichtung, die sich ihren Ort innerhalb der Differenzen (zwischen Signifikant und Signifikat, Subjekt und Sprache, Männlichem und Weiblichem, Kunst und Technologie usw.) auf unterschiedlichste Weise suchte, als eine Literatur der „Zwischenräume“, die ohne Zentrum und totalisierende Wahrheit(en) auszukommen suchte, diese Dichtung wollte eineArchäologie der rationalen und poetischen Erklärungsmodelle der Welt sein. (GR 72)

Beide Definitionsversuche verdeutlichen, dass unterhalb des kleinsten gemeinsamen Nenners, die Logik des zunehmend entleerten Herrschaftsdiskurses zu unterlaufen, sehr unterschiedliche poetische Strategien und Ansatzpunkte entwickelt wurden. Sie lassen sich differenzieren in vorwiegend semantisch zentrierte, vorwiegend metaphernzentrierte und vorwiegend textzentrierte Poetologien, die im folgenden genauer umrissen werden sollen.

die kreuts & die kwehr - semantisch zentrierte Schreibkonzepte

In den Gedichten von Bert Papenfuß, Stefan Döring oder Leonhard Loreks ist die Abweichung bereits auf der Ebene des Sems vom „Normalsprachlichen“ Grundlage poetischer Arbeit in, mit und an der Sprache. Die Kritik an den Normen der Herrschaftssprache ist gesellschaftskritisch intendiert, doch gehen diese Schreibkonzepte weit über bloßes Antichambrieren hinaus und sind ebenso durch die „Lust am Text“ (Roland Barthes) und Experimentierfreude bestimmt, die gut (alt-)avantgardistisch in das Leben zurückweist. Bert Papenfuß: „...ich sehe micht nicht als Experimentator an der Sprache, sondern das ist mein Leben“ (SA 220). Der Berliner Lyriker Bert Papenfuß avancierte zur herausragenden Gestalt unter den Exponenten dieser „anderen“ Literatur aus der DDR. Ernst Jandl erkannte im Vorwort zu dessen ersten Gedicht Band harm (fertiggestellt 1977, veröffentlicht 1985) in ihm einen „Dichter ersten Ranges“(ARK 7). Papenfuß wurde 1956 in Reuterstadt-Stavenhagen als Sohn eines Militärarztes geboren und war zunächst als Ton- und Beleuchtungstechniker an verschiedenen Theatern tätig, um ab 1980 freischaffend zu arbeiten.  

Bert Papenfuß-Gorek versetzt in seinen Gedichten die Worte so in Bewegung, daß die Bedeutungen ins Tanzen geraten, durcheinanderwirbeln, sich neu verbinden ("krampf-kampf-tanz-saga" ist ein 1986 entstandener Zyklus überschrieben), immer in eigenartiger Spannung dirigiert zwischen vital-erotischer Aggressivität und etymologisch-philosophischer Sprachfaszination, die in mythologische Gefilde verweist. Papenfuß: „Der Aspekt der Attacke [ ... ] gegen Konventionen ist mir ebenso wichtig wie der Aspekt der Tiefe, des Verwurzeltseins“ (SA 220). In diesem Tanz tauchen sonderliche Ge­stalten auf und ab, keltische Druiden, „landloper“ und Eulenspiegel. In der „fertonung des / orts & der zeit“ greifen Sprechfetzen denkbar verschiedener Zeiten, Orte, Kul­turfelder ineinander und werden spirituell zusammengeschlossen zu „säulen des gesangs“. „Arkdichtung“ nennt es Papenfuß. „Ark“ läßt Anarchie, Arg, Arktis, Erz, das englische „dark“ und Arkadien assoziieren, und warum soll sie nicht, wie Michael Thulin in Vorschlag bringt, „metapher für den entwurf einer rhizomatischen anthropologie der poetischen sprache sein“ (AS 119), in der der metaphysische Einlösungswunsch vom universalen Genießen und Wahrnehmen sich auf anarchisch-archaische Mentalität berufen kann? „arkdichtung“ stieß unter DDR-Bedingungen aber vor allem auf den Argwohn der Kulturbürokratie. Ließ Papenfuß doch von Beginn an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es ihm nicht um selbstreferentielle Sprachspiele ging, sondern um ein Sprechen in die Gesellschaft hinein:

aber ich will nichts gemeingueltiges

zum ausdrukk gebracht haben

ich misstraue den erfahrungen

irgendwelcher dichter fon fielen

aber aberarkdichter schreiben seit jahren
nur fon
- & ueber was sie ankotzt
-& ueber eine gesellschaft
sie sie forwiegend auskotzt

(ARK 83)

Und das tat sie: Noch 1977 konnte Papenfuß sieben Gedichte unter der verharmlosenden Überschrift Linguistische Gedichte in der Zeitschrift Temperamente veröffentlichen, steuerte er Gedichte für die Anthologien Zwiebelmarkt und Auswahl 78 bei. Danach wurde de facto bis 1988 ein Publikationsverbot verhängt, geschweige, dass die Veröffentlichung eines eigenen Bandes möglich gewesen wäre; Interventionen etwa von Karl Mickel oder Gerhard Wolf blieben erfolglos. Dabei arbeitete der Dichter von Beginn an vorwiegend in Zyklen, die ihre poetische Strahlkraft erst im Gedichtband entfalten können. Der Titel seines einzigen in der DDR veröffentlichten Gedichtbandes dreizehntanz 1988 weist auf mindestens zwölf nicht veröffentlichte Gedichtbände hin. Von Beginn an hat Papenfuß diese und andere Restriktionen keineswegs elegisch beklagt, sondern als Chance zu eigenschöpferischer Lebensgestaltung begriffen: Sprachwerdung eines Lebensgefühls, das vagabundierende Vitalität, erotische  Offenheit, anarchischen „verspott“(lies vers-pott wie ver-spott) vereint:

 

ich suche die kreuts & die kwehr
  kreutsdeutsch treff ich einen
    gruess ich ihn kwehrdeutsch
      auf wiedersehen faterland
        ich such das meuterland

               ...
(DR 106)

Für Karl Mickel ist Papenfuß „ein Meister nicht-syntaktischer Grammatik“, weil er die Wörter nebeneinander stelle und sie assoziativ verhake. Der Text „(...) feraendert sich selbst / staendig darein begriffen / unterstütze ich diese / Fertiefung Der Wahrnehmung / gleichzeitig das wissen / um eine schiere fuelle fon / erscheinungen“ (kein befestigtes hochland, DR 121). Diese Fülle von Neu-, Um-, Überschreibungen konventioneller Worte und Sätze entfaltet sich in den achtziger Jahren in ausgreifenden Zyklen wie SOndern (1980), magnopolis (1986) oder krampf-kampf-tanz-saga, in deren Prolog es programmatisch heißt:

das wort muß würgen,

»an der funktion

der sprache zweifeln, an ihrer

produktiven kraft. natürlich ist's ein unterschied,

bla-bla.‑«

wer das wort hat, hat die macht

das wort soll lottern

dem leitkuh-motiv gemäß,

dem shiva-prinzip nach. natürlich

ist's kein unterschied, alb-

wer's schwert hat, hat die macht

wer's wort hält, hält bloß wacht

das wort wird lodern

aus unterem,

anderem

einen auszubringen

jenen im bruch

in aller beweglichkeit einhergehen

aus sinnlosigkeit in alle sinne

(DR 183)

Papenfuß hält Wort, lässt es würgen, lottern, lodern in alle Sinne. Dabei kombiniert er im Unterschied zu den eher mechanisch-strukturorientierten Verfahren der „Konkreten Poesie“ stets verschiedene Verfahren auf unterschiedlichen Ebenen:

- auf der phonetischen/Semem-Ebene: Neuwortbildungen („pissbegierig“, „niedernage“), Auslassen und Vertauschen von Buchstaben („wustsein“, „ortschritt“, „errorismus“, „wassenschiftler“, „wahrheftigkeit“) , groteske Kompositabildungen („bestellungsbestattungsentgattung“), Auflösung von Umlauten („zeitzuender“ wird so polysem), phonetische Schreibung (Ersetzung des weicheren „v“ durch „f“ in „foegel“, „naif“ etc.), Permutations- und Substitutionsverfahren („steinmann & wasserbock“, „unterweltigend“, mutterseelennackt & splitterallein“);

- auf der visuellen Ebene: Sichtbare Überschreibungen, visuelle Zeichenbildung durch Versfiguren, exzessiver Gebrauch von Gedankenstrich, Auslassungszeichen, Sperrsatz und Großschreibung;

- auf der semantischen Ebene: tabuisiertes Wortmaterial(„meine gedichte wimmeln von pimmeln, strotzen von votzen“, DR 158), Einbau von Dialekten (vor allem des Niederdeutschen als Herkunftssprache), von Umgangssprache (hier insbesondere die Berliner Dialektmischung), fremdsprachigen Passagen, von Sondersprachen wir Rotwelsch, Zitationen von Fachsprachen und insbesondere von Mythen unterschiedlichster Provenienz, von germanischer und slawischer Mythologie über altägyptische oder indianische Totenkulte bis zu Anleihen aus Taoismus und Buddhismus; Vielzahl intertextueller Verweise gerade auf entlegenere Autoren wie Quirinus Kuhlmann, Johann Fischart, Uwe Greßmann u.a..

Eine solch komplexe Neuverortung der Möglichkeiten poetischen Insistierens, die die deutschsprachige Lyriklandschaft nachhaltig veränderte, hatte nach der Implosion des Gemeinwesens, das zur Kenntlichkeit zu destruieren wesentliche poetische Energien band, einen Bewährungstest zu bestehen. Wer vermutet hatte, dass mit dem scheinbar postmodern-plural grundierten Resonanzboden des bürgerlichen Literaturbetriebes Schreibstrategien der Dekonstruktion von Herrschaftsdiskursen in Schwierigkeiten geraten mussten, hatte sich im Falle Papenfuß getäuscht. Der hatte bereits 1981 verlautbart: „gehen worte / wenn ihr dorthin wollt / wort- / flugs um bestimmten / forkommnissen zuforzukommen / vor ort beim wort / dass kommunismus / kommen muss“ (wortflug, DR 123). Volker Braun nannte es in seiner Laudatio zum Erich-Fried-Preis, den Bert Papenfuß 1998 erhielt, „das Skandalon Papenfuß“:

Er spricht, nach dem Umbruch, noch immer mit der verstellten Stimme der angeblichen Sklavensprache, den aufreizenden Ton der Verweigerung. Es ist wohl so, dass sich die Naturen gleichbleiben, wie übrigens lange die Zeiten, und die einen Naturen unvereinnahmbar sind. (...) Er stinkt noch an, er höhnt, er maulträtiert, und, wo der Anlass das Gefühl kältert, mit zunehmender Schärfe. (WW 136)

In den Jahren nach 1990 betätigte sich Papenfuß verstärkt als politischer und kulturpolitischer Akteur. Er engagierte sich als Herausgeber von Zeitschriften wie Sklaven, Sklavenaufstand und Gegner in der Tradion Ernst Fuhmanns und Franz Jungs. Er betreibt seit 1999 das „Kaffee Burger“ in Berlin-Mitte, das nicht nur durch die „Russendisko“ Wladimir Kaminers binnen kurzer Zeit Kultstatus erlangte, sondern auch dadurch, dass Papenfuß es zu einem Zentrum vielfältiger literarischer Aktivitäten gestaltete. Vor allem aber veröffentlichte er ein gutes Dutzend neuer Gedichtbände, die von der ungebrochenen Produktivität ihres Verfassers künden. In den Bänden tiské (1990), Led Saudaus (1991), nunft. FKK/­IM.en­dart×novemberklub (1992) und mors ex nihilo (1994) fällt auf, daß schier uner­schöpf­liche Kombinatorik, die eine Vielzahl schillernder „zmetter-lingue“ in die (Buch)-Welt setzt, durch Passagen prosanahen, stark gestischen Sprechens kontrastiert wird. Dabei scheut der „fon elfen eisgekaltete rebell“ weder bramarbasierende Rede noch tagespolitischen Kommentar oder Publikumsbeschimpfungspose, um „eine triumphflucht zu skizzieren“. In der Konsequenz seiner von beißen­dem Spott durchsetzten Unwirschheit gegenüber Meinungsmainstream, Betroffenheitskultivierung, Dumpfdeutscherei u.ä. („dieser text ist ein gedicht / das für die vorantrifft der bastardisierung / sprich polackisierung, sprich regionalisierung / sprich krautkrauterei spricht / & zwar sprechend“, heißt es in der grimmen Hohnode ihr seid ein volk von sachsen, TI 69) unterscheidet sich diese Lyrik von postmoderner Beliebigkeitsartistik. Der Ton ist schärfer und direkter politisch geworden, der lyrische Kommentar zur „Vereinigungs“-Euphorie 1990 fällt höhnisch aus:

alle schleusen offen,    ob das alles noch ofen hat

die plejaden versacken,    die schlagbäume gehen hoch

das große mondjahr ist rum,    die kommentare sind übrig

die deutschen überschlagen sich,    legen sie sich zusammen oder hauen sie sich in die pfanne,    bzw. den rest der welt

die untoten roten öffnen die arme,    volksfest ohne erbarmen  

jeder ausrutscher ein deutscher,    sektgaben, freibier & gratis-sex nichts bereuen & alles obendrein,    dies ist der totale mumienschanz

(TI 67)

Die Akzente verschoben sich von gesellschaftsbezogener Sprachkritik zu sprachkritischer wie spielerischer Kapitalismuskritik: „raus aus den verliesen / vergnüglichen sprittisierens / vollschmierens & wortspielens / die unsere bleibe waren; hier ist keine“, heißt es in SBZ. Gewidmet unseren Mittätern, Verrätern und Vätern aus dem Jahre 1998 (SBZ 11). So wie Brecht zur „gewaschenen Sprache“ im Exil fand, scheute Papenfuß  sich nicht, konterkarierende bzw. zuspitzende Palimpseste auf faschistische Marschlieder oder das Brecht-Gedicht „Vom Sprengen des Gartens“ aus dem kalifornischen Exil zu veröffentlichen.

Die 2005 veröffentlichte Rumbalotte versammelt im Kern Texte für eine Rockoper, in deren Zentrum die Figur Klaus Störtebeckers steht. Kreuz und quer durch die Epochen folgt der Autor Spuren der Besiegten, geht dabei bis zu den im 9. Jahrhundert einsetzenden Slawenaufständen „gegen deutsche Herrschaftsgelüste“ zurück und durchforstet die osteuropäische Revolutionsgeschichte -„Was oben thront, gehört runtergeholt“(RU 60)-, um lehrenziehend Ansatzpunkte des Lustvollen, Lebendigen zu finden.  

Papenfuß sind nur wenige Dichter vergleichbaren Talents zur Seite zu stellen. Zu ihnen gehört zweifellos Stefan Döring, der allerdings seit den Verwerfungen 1989/90 als Dichter verstummt ist. Der 1954 in Oranienburg geborene Informationstechniker stieß 1980 zur Szene am Prenzlauer Berg und war Mitverfasser des 81er Manifests „Skoro in Skorne“.

Mit Papenfuß verbindet Döring ein semantikorientierter poetologischer Ansatz, das Diktat der Herrschaftssprache zu unterlaufen, indem ihre Mechanismen zur Kenntlichkeit gebracht werden. Im Unterschied zu ihm greift Stefan Döring selten in die Wortkörper selber ein, sondern isoliert phraseologische Wendungen und konterkariert sie lakonisch. Damit treibt er ihre immanenten Widersprüche hervor und macht ihre defekten semantischen Strukturen sichtbar. Döring bekennt sich im Interview zu dieser Poetik des Fehlers, bei der der Leser angehalten ist, die Widersprüche zwischen Aussagebehauptung und dem Ausgesagten zu entdecken:

Ich gehe oft vom fehlerhaft gesprochenen Satz aus oder vom ambivalenten Satz. Ein Satz, der mehr sagt, als er im Moment meint. Es gibt ja nicht nur Informationsverlust beim Sprechen, wenn man sich nicht deutlich genug ausdrückt, sondern auch Informationsgewinn durch die Fehler. Die Fehler werden im Text nicht ausgemerzt, sondern in der Doppeldeutigkeit verstärkt. Kommas z. B. setze ich nur selten, meist als rhythmische Zäsur. (SA 101)  

Bereits in den Gedichtüberschriften setzt Döring Palimpsest-Signale, wobei er im Gegensatz zu Papenfuß auf vollständige und für sich allein im konventionellen Verständnis sinnvolle Wortkombinationen setzt: Etwa durch Wortcharade („east days in lost berlin“ überschreibt „lost days in east berlin“,HM 78), onomatopoetische und rhythmische Anklänge („faulheit, bleichheit, liederlichkeit“ überschreibt „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, HM 77) oder entschiedene Sinnverschiebung durch Ersetzung nur eines einzelnen Phonems („hochmut vor dem wall“ überschreibt „Hochmut vor dem Fall“, HM 100). Ein Meisterstück legt Döring mit dem 1986 geschriebenen Gedicht wortfege vor:

wortfege

weinsinnig im daseinsfrack

feilt an windungen seiner selbst

wahrlässig er allzu windig

 

im gewühl fühlt er herum

und windet sich nochmal heraus

fund, kaum geborgen, bloss wort

 

wasser, lauernd, von wall zu wall

die spiegel mit fellen überzogen

wetter, uns umschlagend, dunst

 

die gewährten fegt es hinüber

die bleibenden gefahren erneut

der sich herausfand währt dahin

(HM 103)

Durch die Austausch- bzw. Ersetzungsmöglichkeiten der Buchstaben w und f werden drei weitere Gedichte generiert, die in ihrer Aussage unterschiedliche Akzente setzen und doch alle grammatisch, lexisch, syntaktisch stimmig sind. Sie drehen sich um die Pole Gehen oder Bleiben (aus der DDR), Schreiben und Leben: Von der hart schneidenden „fortfege“ über „wortfege“ bzw. „fortwege“ bis zum eher sprachbezogenen Titel „wortwege“ – jede Lesart ist von mehreren anderen umgeben, jede Haltung schließt andere mit ein. Diese komplexe Polysemie ist dabei alles andere als willkürlich. Dörings Texte sind in der Regel genau gebaut, sie entspringen einem Reduktionsverfahren, das alles Arabeske zu vermeiden sucht. Der deskriptive Gestus wird auch dadurch unterstrichen, dass bei ihm die selten eingesetzte „Ich“-Figur als Vorgangsvehikel, nicht jedoch als Instanz individuellen Erlebens plaziert wird, wie auch dadurch, dass seine Gedichte durch eine auffällige Metaphernarmut gekennzeichnet sind. Döring: „Ich lasse der Metapher keine Zeit. Wo und wie sie sich entwickelt, nehme ich sie wieder zurück.“ (SA 97) Mit dieser Haltung, das Gedicht kalkuliert als Versuchsanordnung zu handhaben, um das Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren gesellschaftlich vorgegebener Sprachregelungen zu untersuchen, war Stefan Döring nicht allein. Es sei hier auf Leonhard Lorek verwiesen, der gleichfalls das aus einem „anarchischen akt der befreiung ... resultierende sprachbewußtsein“ als „eine folge der wechselbeziehung zwischen verbalem anarchismus und den textstrukturen“ (SA 47) herleitete. Diese Gesellschaftskritik über die Destruktion von Sprachregelungen dürfte ihre Aktualität kaum verloren haben.

Wörtlichkeit und Bildlichkeit - Bildzentrierte Schreibansätze

Ein deutlich differierender poetologischer Ansatz ist bei Lyrikern auszumachen, die in ihren Gedichten konventionelle lyrische Mittel und Formen wie Sprecherinstanz, Bild, Metapher auf ihre Adhäsions- und Diffusionspotenzen hin  untersuchen und hierbei programmatisch die Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant problematisieren. Die Poetiken sind dabei oft theoretisch-essayistisch inspiriert von postmodernen Sprachphilosophien (Deleuze, Guattari, Derrida, Faucoult, Lacan). Der vielzitierte Baudrillardsche „Aufstand der Zeichen“ sollte durch eine Poesie der „Erlösung vom Dösen aller Signifikate“ (Andreas Koziol, ZE 91) an Rasanz gewinnen. Andreas Koziol, 1957 in Suhl geboren und nach abgebrochenem Theologiestudium Mitte der achtziger Jahre zur Berliner Literaturszene gestoßen, entwickelte und verfeinerte hierfür Verfahren katachretischer Kurzschlüsse und semantischer Irrläufer im Wörtlichnehmen von ideomatisierten Metaphern, ideologischen Phrasen, umgangssprachlichen Wendungen usw., die auf ihren unmittelbaren Dingbezug hin entkleidet werden. Dadurch, dass in der Lyrik die vertrauten Strukturen (Strophenformen, Reime etc.) geradezu herausgehoben werden, entbehren die Texte nicht komischer bis grotesker Effekte. Als symptomatisches Beispiel sei das Gedicht „nekrolog auf eine anrüchige wegzehr“ aus dem Jahre 1989 angeführt:

mutterkorn und apfelstich und mohn

raunten uns elysische sibirien

manchmal war die freiheit kein phantom

doch die mauer lyrischer delirien

 

wanderte im schnee vom kalten krieg

(„in der tat ein eigentümlich holz“)

wuchs aus schwarzer rotstiftpolitik

um das ministerium des golds

 

flüsterpropaganda war berauschend

gevatter staat ist nicht die beste droge

sagtest du das wär nicht dein jahrtausend?

nemo fällt vor staunen von der loge

(MR 23)

Indem Koziol Signifikanten, deren verglimmende Signifikate sofort abrufbar sind, über Mehrfachkreuzungen, Engführungen und das tragende Gerüst konventioneller Formgebung blitzartig miteinander reagieren lässt, revitalisiert er Wortsinnlichkeiten, ohne Sinngerüste errichten zu wollen. Zielrichtung ist nicht, wie in einer langen Tradition von Scheerbart bis Uwe Greßmann (dessen „Schilda-Komplex“ 1998 neu herausgegeben zu haben Koziol editorischer Dank gebührt), die Poetisierung von erfahrener „Welt“, sondern ein gleitender Signifikationsaufschub nach dem „Dominoprinzip“, das „jede einmal gefundene Wendung umwirft“ (Peter Böthig, GR 62). Deshalb durchstören in fast allen Texten Metaphernspender aus der Sphäre von Schrift und Literatur die Rückbeziehung auf außersprachliche Sachverhalte. Dergestalt entsteht in Kettenreaktionen ein „letterleuchten hinter blassen ahnungsschimmern“ (MR 83), dessen Licht um so schärfer auf die vereinsamten Sprachhülsen fällt und die Kluft zwischen Bezeichnungen und Bezeichnungsobjekten umrandet:

[...]

opas metrik in der versprothese

tickt ihr allzuschmerzliches abab

ausgelatscht in überlebensgröße

klappert sie die wortspielhöllen ab

[...]

(MR 86)

„Opas Metrik“ formal ergeben, wird sie gleichzeitig prinzipiell abgestraft: Diese Syllogismen sind nur erklärlich aus einem Avantgarde-Anspruch, den der Autor zwanzig Jahre später durchaus selbstkritisch reflektiert:

Die Welt der Sprache als eine Sphäre semantischer Schwingungs- und Kippverhältnisse wurde zum Spiegel neuer Erwartungen und Bewährungsabsichten einer Generation, die bei der Erkundung ihrer Wirklichkeit den dialektischen Zeigestock gegen das Narrenzepter der Herrschaftslosigkeit tauschte. (...) Heute erstaunt mich, daß ich mir vor zwanzig Jahren bei dieser pseudokonspirativen Atmosphäre der Einbrüche und Wortspiele in den Ruinen  der gesellschaftlichen  Perspektiven den Sinn für  Offenheit nicht vollkommen ausgeredet habe.“ (ZE 84)

Dieser Sinn für Offenheit kennzeichnet das Œuvre eines anderen Dichters, das in vielem Koziols Ambitionen nah erscheint, das jedoch über die Intention, „zeichen bewegen, bewegungen in zeichen setzen“ (Koziol, MR 89) hinausweist: Eberhard Häfner. Gedichtzeilen wie „deutsch, deutscher, am deutschesten / kargt mein sprachwohn im argen“ (EX 74) oder „aus den knochen der epochen / wird der leim gekocht / auf dem ich krieche“ (EX 63) deuten ausdrücklich auf Rückbezüglichkeiten zu Geschichte und Gesellschaft, denen freilich ebenso imaginative Exorbitanz entgegengewichtet wird.

1941 geboren in Steinbach-Hallenberg, aufgewachsen in Schmalkalden, arbeitete er bis Mitte der achtziger Jahre als Silberschmied, Metallgestalter und Restaurator in Erfurt, bevor er in den achtziger Jahren nach Berlin übersiedelte. Häfners Texte erschaffen, nach einer Selbstauskunft,  „archetypische Figuren, die in einer Zone erwachen, in der die Logik der Sprache aus dem Kontext der gesellschaftsfähigen Syntax herausfällt, aber sich poetisch anders wieder einbindet.“ (Manuskript)

Syntax

 

saalschlacht, unter uns gesagt

hast du die wahl zu tanzen

oder zu raufen mit faust auf nase

als gegenstand zu groß geraten, denn

aussage stützt sich

darauf

wurde das objekt geräumt

mit gummiattribut

& der adverbiale ort

bestimmt

läßt sich der satz zerlegen

ist er stark gebaut

(EX 27)

Dieses 1981 geschriebene Gedicht dürfte in der durchgehaltenen Parallelführung und wechselseitigen Verschränkung zweier Toposketten („Saalschlacht“ und „Syntax“) eher zu den eingängigeren Häfner-Texten gehören. Dabei lässt Häfner die Verschränkungsdichte geschickt wachsen: durch syntaktische Doppelfunktionen („darauf“ einmal als Objekt, einmal als Temporalbestimmung, „bestimmt“ einmal als Prädikat, einmal als Modalbestimmung), Kompositabildung („gummiattribut“) und Attributierung („der adverbiale ort“). Dadurch werden semantische Schübe befördert, die das Schwergewicht vom Signifikat (die handfeste Eingangsszenerie) auf Signifikantenbewegungen –Satzoperationen - am Ende des Textes verlagern. Es ist dies ein für diesen Autor symptomatisches Interesse: Ursprüngliche Wort- und Satzbedeutungen werden in Rösselsprung und Rochade versetzt, von ihrer Verweislast entbunden und in Zauber, Luftigkeit und onomatopoetischen Luxus erlöst.

Häfner möchte die Barthes´sche „Lust am Text“ in aufgeräumter Heiterkeit und Ironie dem Leser nahelegen und ihn zu entspannter Entdeckungsreise einladen. In Gedichten von Frank Lanzendörfer, Jayne-Ann Igel (vor 1989 Bernd Igel), Gabriele Stötzer und Ulrich Zieger führt hingegen die Konfrontation von angst- und aggressionsbesetztem Erfahrungsmaterial mit Sprachzeichen disparater, auseinander fallender Wahrnehmung zu einem „mißlungene(m) kosmos der nähe“ (Ulrich Zieger, AS 190). Insbesondere Ulrich Ziegers Lang-Gedichte werden durch eine unruhig mäandrierende, bildgesättigte Sprachbewegung bestimmt. Deren Spuren führen, wie der Titel seines ersten Gedichtbandes neunzehnhundertfünfundsechzig (1990) (wie auch Igels 89er Gedichtbandtitel Das Geschlecht der Häu­ser gebar mir frem­de Orte) Fingerzeig gibt, in alptraumhafte Landschaften früher Erinnerung, über die Zieger im Gespräch mit Egmont Hesse 1986 Auskunft gab:

„im winter, wenn die leute genauer erzählten, waren es die flüchtenden frauen aus der psychiatrie, welche die eine hälfte des zentrums der stadt meiner kindheit bildete, dann wieder waren es die männer aus dem zuchthaus, der anderen hälfte des zentrums von waldheim, die erdarbeiten verrichteten, (...) die täglichen selbstmörder.“ (SA 189)

Die Gedichte betreiben „sichtbare forschung, / am gleichnis von großer verwahrlosung“ (NF 44), sie stoßen mit archäologischer Neugier unter die Oberflächen der Erinnerung, um den Bedingtheiten von Verstörung, Angst und Hass, die bis in die Gegenwart des Sprechens heranreichen, auf die Spur zu kommen. Abbreviaturen einer „zersiedelten wahrnehmung“  (NF 95) wechseln mit düsteren Traumspielen, aber auch luziden Visionen und Phantasmagorien. Manisch kreisen die Texte um „das wort für verdunkeltes wort. / für im kompaß verdunkeltes wort für magnet“ (NF 29). Verschlungene Metaphernketten wie archaisierendes Pathos treiben den Redefluss schier unabschließbar weiter. Dabei sind Ziegers Gedichtbände streng komponiert: neunzehnhundertfünfundsechzig ist als ein Text zu 65 Stücken zu lesen, Große beruhigte Körper (1992) als Poem, wobei die mit lateinischen Ziffern bezeichneten 91 Stücke jeweils durch Kommata beendet werden. Die Ziegersche Lyrik kehrt mit Vorliebe bei uralten Grundworten wie Mutter, Nacht, Mond, Stille, Sterne etc. ein; moderne Reflexion über den Zerfall der Wahrnehmung im weißen Rauschen der elektronischen Medien verbindet sich mit imaginativen Aufschwüngen einer romantiknahen Mythensuche.  Für Ziegers Werk gilt sicher, was Uwe Kolbe anlässlich der Verleihung des Nicolas-Born-Preises zu seinen Gedichten anmerkte, nämlich, dass sie „von Anfang an grandios ignorant gegenüber dem hingehaltenen Knochen eines scheinbaren Gegenstandes für unernstes, scheinbares Denken“ sind.

Dies lässt sich in bezug auf das lyrische Werk von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski, die wie die vorgenannten Autoren ihre Poetologie auf Subjekt- und Bildkritik fokussierten, nur sehr eingeschränkt behaupten. Andersons Programm der „Schizophrenie“ als poetisches Mittel, das, agnostizistisch untermauert, jede andere als eine ästhetische Verantwortlichkeit für sprachliches Handeln abwies, ist im Lichte seiner Spitzeltätigkeit für die DDR-Staatssicherheit unter den psychologischen Kategorien von Verdrängung und Verleugnung zu fassen, wie sie selbstredend auf eine entsprechende Disposition der Persönlichkeit verweisen. Schon das Titelgedicht seines Erstlings Jeder Satellit hat einen Killersatelliten präferiert eine Spaltungs- und Vergeblichkeitssituation, in der jede Haltungsentscheidung als irrelevant betrachtet wird. Insofern fungierte die Lyrik, bei Zieger, Igel, Kachold oder Lanzendörfer der existentiell-ernsthaften Selbsterkundung dienlich, im Kontext postmoderner Theoreme für den Autor Anderson zusätzlich als Vehikel der unverdächtigen Aussprache des Geheimzuhaltenden und ergo zur Selbstbeschwichtigung :

...

ich bin kein artist von land zu land

ich bau mir meine mauer selbst durch den leib

die eine hälfte fault sofort die andre mit der zeit

ich bin kein artist ich mach kein spagat

ich häng mit meinem weissen hals im heißen draht

ich bin kein artist also bleibe ich hier

auch wenn mir dabei noch das herz erfriert

...

(KS 26)

In seinem zweiten Band Totenreklame konnte so die „faulende zweite Hälfte“ in die gängigen Theoreme labyrinthischer Zerstreuung eingebunden und projektiv beruhigt werden:

dann werden die dinge zeichen, und sie als das zu sehen, was sie sind, ist unmöglich. Die errichteten denkmale werden spiegel, der weitere weg, schritte im labyrinth. Die scherben spalten deine erscheinung und werfen deine abbilder in den sammelnden raum. (TR 53)

Sprachlicher Zugriff auf „Realität“ erscheint immer schon vorab verstellt, Bedeutungssetzung endet in Aporien. Der Text beginnt sich um seine eigene Achse zu drehen.

Die lyrischen Kryptogramme Andersons setzen sich aus Chiffren, Wahrnehmungszitaten, ein­ander überzeichnenden Metaphern, versprengt Sinnspruchhaftem zusammen, notdürftig linearisiert durch eine konventionelle Syntax. Wenn die Gedichte Ich-Zerstreuung, narzistische Selbstprojektion und verrätselte Entgrenzungsphantasien ausstellen, benennen sie heilloses Zerrissensein des Sprechenden, wie sie es zugleich kompensatorisch auffangen. Anderson und Schedlinski befanden sich als handelnde Personen in der Situation, handlangernd in zynische Geheimszenarien der Zersetzung, Aufweichung und Zerstreuung eingebunden gewesen zu sein. Zugleich und andererseits unterstützten sie organisierend wie essayistisch reflektierend die von vielen anderen mitgelebte Kunstpraxis, staatliche Beherrschungsansprüche und Allmachtsphantasien zu unterlaufen. Beides zu tun, ohne an sich verrückt zu werden, konnten Philosopheme des Selbstverlustes, der Egalisierung alles Gesagten im „Rauschen der Diskurse“ die scheinbar zwangsläufige moralische Verantwortungsauflösung subjektiv legitimieren. Man kann viele Gedichte durchaus als Zynikerpsychogramme deuten. Eine derartige Reduktion greift aber zu kurz, wenn es um die Texte geht:   Denn die speichern in der vieldeutigen Erfahrungs-, Wahrnehmungs-, Subjektdissoziation, „unabhängig von ihrer moralischen Bewertung, Grundtatsache(n) unserer zivilisierten Existenz“ (Peter Böthig, GR 139), die allgemeiner gültig sind.

Gerade Rainer Schedlinski hatte die Erfahrungskolonialisierung, den  Entleerungsog im Ausgrenzungskomplott von Ideologie und Sprechen thematisiert: „die poetische sprache bewegt sich außerhalb der dienst- und fachsprachen. Sie entzieht uns ihrer aufsicht. Sie schädigt die diskursive wahrnehmung, die uns schädigt.“ (SA 161f.), betont Schedlinski 1986 im Gespräch mit Egmont Hesse. Schedlinskis Gedichte kreisen stets um die Strukturkritik von „Subjekt“, „Bild“, „Diskurs:

das fenster ist geöffnet

der hund bellt nicht

das wetter ist ernst

alle menschen sind sterblich

...

(RA 32)

Die Verse, mit denen Schedlinski das Gedicht eröffnet, sind syntaktisch korrekt. Die einfachen Aussagesätze, die, wenn nicht semantische Fehlstellen („das wetter ist ernst“) eingebaut worden wären, einer ABC-Fibel enstammen könnten, erweisen sich als bloße Sprachhülsen, die nichts Sinnvolles mehr aussagen. Wenn es an anderer Stelle heißt: „du sitzt in der zelle des bildes / die strecken laufen dir zu / & die denkmäler werden bewacht“ (RA 106), wird klar, dass es vor allem die ideologisch kontaminierten Fertigteile der Sprache sind, die der Lyriker anzielt.

Da seine Kritik vor allem Strukturkritik ist, laufen die Texte Gefahr, in der Kombinatorik der ausgestellten Chimären zu ermüden. Das sollte sich nach den Umbrüchen 1990 und nach der Enttarnung Schedlinskis als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit als handfestes Problem für den Lyriker erweisen.

"der dichter mit der maske aus papier, papier/ das nicht errötet", lautet eines der Motti in Sched­linskis Gedichtband „Die Männer der Frauen“ aus dem Jahre 1991. An den Gedichten dieses Bandes fällt auf, daß sie jenes resignativ-deskriptiven Gleichmuts entbehren, der früher in der vorgespielten Hinnahme von Ich-Täuschung und eines Sprachzugriffs auf die Dinge, bei dem sie in der Worteinkehr ihre Bedeutung verlieren, ausbalanciert wurde. Jetzt dehnt sich die Distanz zwischen Wahrnehmung und Reflexion bis zu jener Schmerzgrenze, in der die Angst körperlich in Lebendigkeitsreste zurückgekrümmt erscheint. „man möchte sagen daß es dennoch etwas zu sagen gibt / was man aber nicht mitteilen kann / ohne diese mumie zu zerstören / die uns ans herz gewachsen ist“ (MF 31), heißt es in einem Gedicht, und wie hier ist es oft nur eine Wendung, die verhindert, daß das Ganze ins Banal-Sentimentale kippt. Aber die Rückwege in die Konventionalität traditioneller Empfindungslyrik sind fast alle versperrt: Die medialen Großszenarien der letzten Jahre (Sichwort: Kriegsberichterstattung via CNN von Irakkrieg I und II), ans Herz greifende Werbewelten oder die umfassende Industrialisierung der Innerlichkeit durch weitgehend standardisierten Erlebnishandel vom Bildschirm bis zum Safari-Park  haben ein engmaschiges semiotisches Netz vorfabrizierter Bilder, Gesten, Gefühlsäußerungen, Redeweisen geknüpft, das eine „neue Einfachheit“ selbst in den Bereich der Simulation einfängt. Insofern hätte Schedlinskis Ansatz grundlegender Kritik von schablonierter Sprache und standardisierten Bildern vielfältige Felder poetischen Insistierens in der globalisierten Kultur vorfinden können. Zunächst jedoch scheint es, als habe ihn erst einmal die eigene Geschichte eingeholt: „frei wie ein durchmarsch der farben / ist der weg des verschwindens // als wären es alles nur pappkameraden / belogen, betrogen und blind / wie sagen wir uns, wer wir sind?“ (MF 32) Die Frage ist an den Autor zu geben, und sie ist in einen Raum geworfen, der jede öffentliche Stimme, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, verzerrt werden kann. – Seit 1991 ist der Autor Schedlinski verstummt.

Im Dichtergarten des Grauens – textzentrierte Schreibansätze

Ein dritter Schreibansatz schließlich rekurriert weniger auf das Wort oder das Bild, sondern auf Satz und Satzgeflecht. In vielen Texten von Thomas Rösler, Johannes Jansen und Jan Faktor werden gleichsam Textmaschinen angeworfen, die sich an der Mechanik von Phraseologien abarbeiten und dadurch deren monströse Wucherungen offenlegen. Johannes Jansen spricht von seinen Texten als einer „fragmentmaschine“, die unaufhörlich Fremdtexte in sich aufnimmt, diese nach dem Prinzip des „Reißwolfes“ (RE 5) zerkleinert, neu kombiniert und dem Sprecher so die Chance lässt, poetische Energie gegen die Fremdbestimmtheiten zu mobilisieren. In den neunziger Jahren werden diese collagierten „haltlosen wortketten“ mehr und mehr zugunsten reflexiver monologischer Prosatexte  aufgegeben.

Jan Faktors Sprechinstallationen generieren oft in Endlosreihungen Parodien auf bedeutungssteigernde Techniken wie Wiederholung und Komparativbildung, etwa in dem 23-seitigen Langgedicht „Georgs Sorgen um die Zukunft“ aus dem Band Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens:

[...]

das Autoritäre wird immer autoritärer

das Akzentfreie immer akzentfreier

das Naive immer naiver

das Bleiche immer bleicher

das Feindselige immer feindseliger

das Muffelige immer muffeliger

das Notwendige immer notwendiger

das Schäbige immer schäbiger

das Apptikable immer apptikabler

das Vokable immer Vokabler

das Achtstündige immer achtstündiger

das Bebaubare immer bebaubarer

das Inhaltslose immer inhaltsloser

[...]

(GG 38)

Durch den Einbau von sinnfreien, grammatisch korrekten Steigerungen („das Achtstündige immer achtstündiger“ etc.) wird das Unsinnige des ideologisch motivierten Komparativ-Wahns in der Herrschaftssprache evident. In anderen Gedichten behandelt der 1978 aus Prag nach Berlin gekommene Autor die Satzbildung im Deutschen als etwas gänzlich Fremdes und zielt dadurch auf komische Effekte (vgl. GG 80).

Jan Faktor hat in seinen Essays und „Trivialpoetischen Manifesten“ die Herausbildung, Konsolidierung und Auflösung der in Rede stehenden Literaturszene kritisch begleitet, wobei Deskription und Parodie oft ineinander übergehen. Die Hybris pathetischer Verkündigung des Neuen, die Reihung von Ausschließungen, die Ignoranz gegenüber Lesern deuteten das Dilemma bereits an, in das ein Teilmoment dieser Literatur geraten musste, als die Referenz der Wortorthodoxie in der DDR durch die Diktatur des Marktes abgelöst wurde. Dichter, die in ihren inhärenten Poetiken die Welt außerhalb der Sprache wie auch ihr Publikum nie aus den Augen verloren hatten wie Bert Papenfuß oder Eberhard Häfner, blieben der Lyrik treu. Viele verstummten. Autoren wie Jan Faktor oder Johannes Jansen, die in den achtziger Jahren ihr „textuales Recycling-art-Verfahren“ (Klaus Michael, AS 238) in Lang-Gedichten entwickelten, konzentrierten sich in den neunziger Jahren konsequenterweise auf Prosa und Essay.

Auswahlbibliographie

a) Texte
 
Einzelveröffentlichungen

 

Sascha Anderson: Jeder Satellit hat einen Killersatelliten. Berlin 1982. [KS]

Totenreklame. Eine Reise. Berlin 1983. [TR]

Waldmaschine. Berlin 1984.

brunnen, randvoll. Berlin 1988.

Jewish Jetset. Berlin 1991. [JS]

Rosa Indica Vulgaris. Berlin 1994.

 

Stefan Döring: Heutmorgestern. Berlin 1989. [HM]

Zehn. Berlin 1990.

 

Jan Faktor: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens. Berlin 1989. [GG]

Henry's Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 und andere positive Texte aus Georgs Besudelungs‑ und Selbstbesudelungskabinett. Berlin 1991.

Die Leute trinken zuviel, kommen gleich mit Flaschen an oder melden sich gar nicht oder Georgs Abschiede und Atempausen noch dem verhinderten Werdegang zum Arrogator eines Literaturstoßrupps. Berlin 1995.

 

Flanzendörfer: unmöglich es leben. texte bilder fotos. Zusammengestellt von Peter Böthig und Klaus Michael. Berlin 1992.

 

Gino Hahnemann: Allegorien gegen die vorschnelle Mehrheit. Berlin 1991.

 

 

Eberhard Häfner: Syndrom D. Berlin 1989.

Excaliburten. Berlin 1992. [EX]

Geigenharz. Klagenfurt und Wien 2003.

 

Jayne-Ann (d.i.Bernd) Igel: Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte.     Frankfurt a.M. 1989.

 

Johannes Jansen: Prost Neuland. Berlin 1990.

Reisswolf. Frankfurt a. M. 1992. [RE]

Heimat. Abgang. Mehr geht nicht. Frankfurt a. M. 1995.

 

Andreas Koziol: mehr über rauten und türme. Gedichte. Berlin 1991. [MR]

Bestiarium Literaricum. Berlin 1991.

Sammlung. Berlin 1996.

Frühjahre. Berlin 2001.

 

Raja Lubinetzki: Der Tag ein Funke. Aus dem Tagebuch des Logik Verfalls. Berlin 2001.

 

Bert Papenfuß: harm. arkdichtung 77. Berlin 1985. [ARK]

dreizehntanz. Berlin 1988. [DR]

Soja. Berlin 1990.

Tiské. Göttingen 1990. [TI]

Vorwärts im Zorn. Berlin 1990.

Led Saudous. notdichtung. karrendichtung. Berlin 1991.

nunft. Göttingen 1992.

Gesammelte Texte 1‑3 (naif, till und harm). Berlin 1993.

routine in die romantik des alltags. Berlin 1995.

Berliner Zapfenstreich. Berlin 1996.

SBZ. Gewidmet unseren Mittätern, Verrätern und Vätern. Berlin 1998. [SBZ]

hetze, Berlin 1998.

Rumbalotte. Gedichte 1998-2002, mit Zeichnungen von Ronald Lippok. Basel/Weil am Rhein/Wien 2005. [RU]

Rainer Schedlinski: die rationen des ja und des nein. Gedichte. Berlin 1988. [RA]

die arroganz der ohnmacht. Berlin 1990.

Die Männer der Frauen. Berlin 1991. [MF]

 

Gabriele Stötzer-Kachold: zügel los. Berlin und Weimar 1989.

grenzenlos fremd gehen. Berlin 1992.

 

Heike Willingham: von fegen weiß ich wird man besen. Berlin 1992.

 

Ulrich Zieger: neunzehnhundertfünfundsechzig. Berlin 1990. [NF]

Große beruhigte Körper. Berlin 1992.

Vier Hefte. Berlin 1999.

 

Selbstverlegte Zeitschriften

A3. Chemnitz (Karl‑Marx‑Stadt) 1983‑89.

Anschlag. Leipzig 1984‑89.

Ariadnefabrik. Berlin 1986‑89.

Bizarre Städte. Berlin 1987‑89.

Caligo. Berlin 1985‑87.

Entwerter/Oder. Berlin seit 1982.

Galeere. Halle 1985‑86.

Glosnot. Naumburg/Leipzig 1987‑89.

Koma‑Kino. Berlin 1987‑89.

Liane. Berlin 1988‑89.

Mikado. Berlin 1983‑87.

POESIEALLBUM. Dresden, Berlin 1979‑84.

Reizwolf. Weimar 1988‑89.

Schaden. Berlin 1984‑87.

Und. Dresden 1981‑84.

USW. Dresden 1984‑87.

Verwendung. Berlin 1988‑90.

Zweite Person. Leipzig 1987‑89.

 
Anthologien

Vogelbühne. Gedichte im Dialog. Hg. von Dorothea von Törne. Berlin 1983.

Einst war ich Fänger im Schnee. Neue Texte und Bilder aus der DDR. Hg. von Lutz Rathenow. Berlin 1984.

Berührung ist nur ein Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR. Hg. von Elke Erb und Sascha Anderson, Köln 1985.

Mikado oder der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR. Hg. von Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner. Darmstadt 1988.

Sprache und Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR. Hg. von Egmont Hesse. Frankfurt a.M. 1988. [SA]

Abriß der Ariadnefabrik, Hg. von Rainer Schedlinski und Andreas Koziol. Berlin 1990. [AA]

Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979‑1989. Hg. von Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt. Berlin 1991. [VK]

Jetzt wohin? Deutsche Literatur im deutschen Exil. Gespräche und Texte. Hg. von Frank Goyke und Andreas Sinakowski. Berlin 1990.

Visuelle Poesie in/aus der DDR. Hg. von Uwe Warnke. Siegen 1990.

wortBild. Visuelle Poesie in der DDR. Hg. von Jorg Kowalski und Guillermo Deisler. Halle (Mitteldeutscher Verlag) 1990.

Ein Molotow‑Cocktail auf fremder Bettkante. Lyrik der siebziger/achtziger Jahre aus der DDR. Ein Lesebuch. Hg. von Peter Geist. Leipzig 1991. [MO]

Proe. Berlin 1992.

Tendenz Freisprache. Texte zu einer Poetik der achtziger Jahre. Hg. von Ulrich Janetzki und Wolfgang Rath. Frankfurt a.M. 1992.

 

Kataloge

Zellinnendruck, Leipzig 1990.

D1980D1 989R. Künstlerbücher im Eigenverlag. Mainz, Erfurt, Paderborn, Chemnitz, Berlin 1991.

non kon form. Künstlerbücher, Text‑Grafik‑Moppen und autonome Zeitschriften der DDR 1979‑1989 aus der Sammlung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Esslingen und Kiel 1992.

Die Einübung der Außenspur. Die andere Kultur in Leipzig 1971‑1990. Leipzig  1996.

 

b) Forschungsliteratur

Heinz Ludwig Arnold / Gerhard Wolf (Hg.): Die andere Sprache. Neue DDR‑Literatur der 80er Jahre. München 1990. [AS]

Roland Berbig / Birgit Dahlke / Bogaart van den Kämper / Uwe Schoor (Hg.): Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der DDR nach 1990. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2001. [ZE]

Böthig, Peter: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren. Berlin 1997. [GR]

Peter Böthig / Klaus Michael (Hg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit. Leipzig 1993. [MS]

Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Frankfurt a.M. 1998. [WW]

Christine Cosentino / Wolfgang Müller: „im widerstand / in mißverstand? Zur Literatur und Kunst des „Prenzlauer Bergs“. New York, Bern, Paris 1995.

Birgit Dahlke: Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert. Würzburg 1997.

Adolf Endler: Den Tiger reiten. Aufsätze, Polemiken und Notizen zur Lyrik der DDR. Frankfurt a. M. 1990.

Anthonya Visser: Blumen ins Eis. Lyrische und literaturkritische Innovationen in der DDR. Zum kommunikativen Spannungsfeld ab Mitte der 60er Jahre. Amsterdam 1994.

Gerhard Wolf: Wortlaut Wortbruch Wortlust. Leipzig 1988.

Sprachblätter Wortwechsel. Leipzig 1992.